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Nach Pisa-Debakel: „Es müsste ein richtiger Wumms her“ – Mathe-Professor will Schulfächer aufbrechen

STUTTGART. Angesichts der schlechten Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten Pisa-Studie im Fach Mathematik fordert der Stuttgarter Mathematik-Professor Christian Hesse eine grundlegende Reform. Statt „Schubladisierung“ durch Schulfächer sollen Lehrkräfte vermehrt Wissen fächerübergreifend in Modulen wie Klimawandelkunde vermitteln. Tatsächlich arbeitet Baden-Württemberg derzeit daran, den Mathematikunterricht im Land zum kommenden Schuljahr neu aufzustellen – und in den Plänen finden sich Forderungen Hesses wieder.

Ein Wumms ähnlich dem Urknall? Mathematik-Professor Christian Hesse fordert eine grundlegende Reform des Mathematikunterrichts. Symbolfoto: Shutterstock/design4gaming.com

Aus Sicht des Stuttgarter Mathematik-Professors Christian Hesse braucht es eine grundlegende Reform des Mathematikunterrichts, nicht zuletzt angesichts der schlechten Pisa-Ergebnisse in diesem Bereich. „Es müsste ein richtiger Wumms her im Schulwesen in mancherlei Hinsicht“, sagt Hesse, der auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zur Mathematik verfasst hat. Die Vorschläge von Mathematik-Didaktikern, den Unterricht lebensnäher und praxisorientierter zu gestalten, um die Kompetenzen der Lernenden zu verbessern, kritisiert er. „Das sind die gleichen Vorschläge wie schon nach der letzten und vorletzten Pisa-Studie und nichts hat sich geändert.“

Weniger Geometrie, dafür mehr Statistik und Datenanalyse?

Aus Hesses Sicht müsste der Unterricht stark entrümpelt, etwa ein Viertel der Geometrie gestrichen werden. Als Beispiele nannte er windschiefe Geraden oder Tori – das sind Objekte, die aussehen wie ein Rettungsring. Solche komplexen geometrischen Formen sollten ähnlich wie abstrakte Vektorbeweise entfallen. „Stattdessen sollte der Einsatz von Geometrie-Software für geometrische Konstruktionen vorgesehen werden.“ Überhaupt spricht sich der Professor für Stochastik dafür aus, mehr statistische, datenanalytische und algorithmische Themen zu lehren. Die werden etwa im Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI) wichtiger.

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Hesse schlägt vor, die „Schubladisierung“ in gut einem Dutzend Schulfächer aufzubrechen und stattdessen rund 100 Module wie Finanzwissen und Klimawandelkunde anzubieten, von denen manche frei wählbar sind. Darin sollte nicht nur Mathematik unterrichtet werden. So könnten im Zusammenhang mit Vektoren bestimmte Ameisenarten als Beispiel herangezogen werden, die trotz eines Zickzackkurses auf der Suche nach Futter den schnellsten Weg zurück finden. „Die können Vektoraddition im Kopf rechnen, das können Menschen nicht“, so Hesse. Anhand dieses Beispiels ließen sich die Funktion von Vektorneuronen beschreiben oder, im Bereich der Physik, was es mit der Polarisation des Lichts auf sich hat. Diese sei nämlich für die Ameisen entscheidend. „Dann wird auch die Sinnfrage auftauchen“, sagt Hesse. Anders als bei Fächern wie Sprachen leide die Mathematik stärker darunter, dass der Sinn hinterfragt werde.

Aktualisierte Bildungspläne zum Schuljahr 2024/2025

Tatsächlich soll der Mathematikunterricht in Baden-Württemberg modernisiert werden. Die Bildungspläne aus dem Jahr 2016 würden derzeit überarbeitet und zum kommenden Schuljahr in Kraft treten, teilt das Kultusministerium mit. Eingearbeitet werden demnach Konzepte wie Datenanalyse, statistisches und algorithmisches Denken – Themen, für die sich auch Professor Hesse ausspricht.

Ebenfalls plant das Kultusministerium, Entwicklungen im Bereich der digitalen Bildung zu berücksichtigen. Diese soll beispielsweise in den Bildungsstandards der Sekundarstufe I (also den Klassenstufen 5 bis 10) einer Sprecherin zufolge durch den neuen Kompetenzbereich „Mit Medien mathematisch arbeiten“ deutlich stärker verankert und die Rolle der Mathematik dabei betont werden. Es gehe etwa darum, Informationen der digitalen Welt kritisch unter mathematischen Gesichtspunkten zu prüfen, digitale Mathematikwerkzeuge wie Tabellenkalkulation, Geometrie-Software und Stochastik-Tools zu nutzen und Algorithmen mithilfe digitaler Medien verwenden, entwickeln und reflektieren zu können.

Forderung nach mehr Ressourcen für den Bildungsbereich

Mathematik-Professor Hesse spricht sich darüber hinaus für eine bessere Stellung von Lehrkräften aus. Pisa-Spitzenreiter Singapur investiere 20 Prozent des Staatshaushalts in das Schulsystem und die Lehrerbildung. „Prozentsätze in dieser Größenordnung sind bei uns natürlich nicht erreichbar, aber die im vergangenen Jahr bei uns aufgewendeten 4,6 Prozent des Staatshaushalts sind definitiv zu wenig.“ Das führe zu nicht ausreichender und veralteter Ausstattung an den Schulen und teils zu nicht optimal an neuen Medien ausgebildeten Lehrkräften. Das habe sich im Lockdown während der Corona-Pandemie deutlich gezeigt.

Das Ministerium entgegnet, im europäischen Vergleich bekämen Lehrkräfte in Deutschland, zusammen mit der Schweiz und Luxemburg, die höchsten Gehälter. „Das Land Baden-Württemberg verbeamtet seine Lehrkräfte grundsätzlich und bezahlt sehr gut“, erklärt die Sprecherin. Hinzu kämen erhebliche geldwerte Zusatzleistungen wie Kinder- und Familienzuschläge, Pension und Sozialabgabenfreiheit – also deutlich mehr Netto vom Brutto. Um die Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte zu verbessern und die Schulen zu entlasten, gebe es zudem Maßnahmen wie pädagogische Assistenz, sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung und datengestützte Unterrichtsentwicklung.

Kritik an Förderung von Exzellenz-Universitäten

Hesse kritisiert weiter, Deutschland habe im Vergleich zu viel Geld in den universitären Bereich investiert und hier überproportional viel in die Spitzenforschung. „Etwa durch die nicht sachgerechte Schaffung von Exzellenz-Universitäten, die eine ungute Zweiklassen-Gesellschaft unter den Universitäten schafft“, argumentiert er. „Einige der aufgewendeten Gelder wären besser investiert worden, wenn sie für die Aufwertung des Lehrerberufes durch bessere Bezahlung verwendet worden wären.“ Zudem binde der Kampf um den Titel Exzellenz-Uni Ressourcen.

Dieser Auffassung widerspricht das baden-württembergische Wissenschaftsministerium und hält dagegen: Die Exzellenz-Strategie fördere wissenschaftliche Spitzenleistung und Profilbildungen der deutschen Universitäten, die in einem harten internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe stünden. „Wir sind stolz darauf, dass Baden-Württemberg aktuell die meisten Exzellenz-Universitäten stellt.“ Die Universitäten erlangten durch die Förderung eine hohe Sichtbarkeit und würden in ihrer Profilierung unterstützt. „Für internationale Spitzenkräfte und unsere Spitzenforschung kann die Exzellenzförderung gerade für junge Forscherinnen und Forscher den Ausschlag für einen Standort geben“, erläutert ein Sprecher. „Es geht um eine nachhaltige Stärkung des Wissenschaftsstandorts Deutschland.“ Dies stehe nicht im Widerspruch zu Investitionen in Schulen. News4teachers / mit Material der dpa

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