News4teachers: Sie haben Schule nicht nur „neu gedacht“ wie es so schön heißt, sie haben ihre Ideen auch in die Tat umgesetzt: In Ihrer Schule, der Alemannenschule Wutöschingen, können sich die Kinder und Jugendlichen frei bewegen, selbst ihre Lernorte und Lerninhalte aussuchen und selbstorganisiert bearbeiten. Sie haben dazu ein besonderes pädagogisches Konzept entwickelt. Inzwischen gilt die Alemannenschule in vielerlei Hinsicht als Referenzschule. Haben sich andere Schulen schon an Ihrem Vorbild orientiert?
Stefan Ruppaner: Schon viele. Viele Schulen versuchen unser pädagogisches Konzept zu kopieren oder Elemente zu übernehmen. Aber an manchen Stellen wird es schwierig.
News4teachers: Zum Beispiel?
Zum Beispiel, was die Arbeitszeit betrifft. Bei uns gibt es keine klassischen 27 Unterrichtsstunden mehr. Dafür sind die Kollegen 35 Zeitstunden anwesend. Da fragt dann der Jurist, ob das geht, aber unsere Ministerin sagt, doch natürlich das geht. Wer bei uns eine Lerngruppe leitet, hat nur noch ein Deputat von 12 Stunden und ist den Rest der Zeit für die Kinder anwesend.
Die Arbeitszeit der Lehrer über Deputatsstunden zu erfassen, macht heute ohnehin keinen Sinn mehr. Wenn man die Transformation von Schule als einem Ort des Lehrens hin zu einem Ort des Lernens angeht, dann muss der Lehrer keinen Unterricht mehr halten. Wir halten bei uns sehr wenig Unterricht, weil wir festgestellt haben, dass Unterricht das Lernen behindert. Deshalb braucht der Lehrer auch keine Unterrichtsvor- und -nachbereitungszeit. Er oder sie soll einfach anwesend und ansprechbar sein für die Kinder. Das reicht vollkommen aus.
„Wir bilden für etwas aus, das an unserem Bedarf völlig vorbeigeht.“
News4teachers: Das erfordert allerdings einiges an Flexibilität im Denken und Handeln – nicht nur bei Ihren Schüler:innen sondern auch bei den Lehrkräften.
Ruppaner: Ja klar. Deswegen sind Lehrer bei uns auch Lernbegleiter. Das ist ein Unterschied, die müssen ganz andere Sachen können. Und ein Lernbegleiter braucht eben andere Rahmenbedingungen als ein Lehrer oder eine Lehrerin.
News4teachers: Wird denn den jungen Lehrkräften beigebracht, wie man flexibel in Schule agieren kann?
Ruppaner: Nein. Wenn wir einen Referendar an der Schule haben, dann muss ich ein paar Schüler fragen: „Würdet ihr bitte immer Montag um 9 Uhr in das und das Zimmer gehen; da kommt dann eine Person, die euch sagt, was ihr machen sollt. Dann werden nachher eure Arbeitsergebnisse eingesammelt. Und das müsst ihr machen bis April nächsten Jahres, denn dann hat der Lehramtsanwärter die Prüfungslehrprobe und danach könnt ihr wieder normal lernen.“
Denn auch wir sind durch die staatlichen Vorgaben gezwungen, für etwas auszubilden, das an unserem Bedarf völlig vorbeigeht. Eigentlich bräuchte ich einen ausgebildeten Lernbegleiter, der Coachinggespräche führen und dabei die psychologischen Zusammenhänge verstehen kann, der vielleicht dabei mit Bildimpulsen arbeiten kann, der Lernmaterialien für selbstorganisiertes Lernen herstellen kann, der Teilziele formulieren kann, die den Lernenden helfen, ihre Ziele zu erreichen. Einer, der vielleicht Lernvideos oder Learning-Apps herstellen kann… Das wäre der richtige Lernbegleiter für uns, aber der wird nicht ausgebildet. „Wegen der Gerechtigkeit“ heißt es dann an den Lehrerseminaren. Alle müssen am Ende die gleichen Prüfungen machen, weil es hinterher um eine Einstellung im Staatsdienst geht. Dabei stellen wir genauso viele Lehrer ein wie andere Schulen.
Möchten Sie Schule neu gestalten? Ganzheitlich und zeitgemäß? Schule neu denken – und auch als gefestigte Lehrer:innenpersönlichkeit in die Praxis umsetzen: Darum unter anderem geht es im Neuen Referendariat. Das 2020 gestartete Pilotprojekt für zukunftsorientierte Lehrer:innenausbildung geht zum Schuljahresstart 2024/25 mit inzwischen rund 70 Ausbildungsschulen in ganz Deutschland in die neue Runde. Anmeldeschluss für interessierte Lehramtsstudierende, Quereinsteiger:innen und Lehrkräfte an Schulen in freier wie auch kommunaler Trägerschaft ist der 5. April. Ausführliche Informationen finden Sie auf der Homepage der Akademie Biberkor: https://www.akademie-biberkor.de/neues-referendariat/beschreibung/ Infos für Schulträger und Schulleitungen Haben Sie Interesse daran, mehr über das Neue Referendariat und die Ausbildungsmöglichkeiten für Ihre Schule zu erfahren? Dann rufen Sie uns gerne an! 08171/2677170 Dr. Flora Nieß (Leitung und Dozentin Neues Referendariat) oder 08171/2677155 Sabine Bauer (Administration) News4teachers: Das heißt, die Probleme, die Schulen heute haben, fangen schon mit der Lehrerausbildung an? Ruppaner: Ja. Es ist ein systemisches Problem. Wenn man die aktuellen Aussagen von Herrn Schleicher betrachtet, dann beschreibt er zwar nicht, was genau man anders machen sollte. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass das Modell des jetzigen Unterrichts ausgedient hat. Seine Meinung ist, dass wir mit unseren VERA- und PISA-Vergleichsstudien ausreichend bewiesen haben, dass unser System nicht zu einer Verbesserung sondern zu einer Verschlechterung der Situation führt. Da kann ich nur zustimmen. News4teachers: Digitale Transformation ist derzeit ein Lösungsversprechen für viele Probleme im Bildungsbereich. Ihre Schule gilt als Vorreiterin in Sachen Digitalisierung. Die Schülerinnen und Schüler hatten schon vor der Corona-Pandemie ihre eigenen Tablets für das selbstorganisierte Lernen. Ruppaner: Die Digitalisierung ist ein tolles Werkzeug, dass wir optimal nutzen können, um so zu arbeiten, wie wir es tun. Die Digitalisierung allein macht aber überhaupt nichts. Wir brauchen eine Änderung der Haltung, wir brauchen die Transformation der Schulen vom Ort des Lehrens zum Ort des Lernens, und wenn wir schon von Lehrkräfteausbildung reden: Ich brauch keine Lehrkräfte, genauso wenig brauchen wir Institute für Unterrichtsentwicklung. Wir brauchen keinen Unterricht. Je weniger Unterricht wir haben, desto besser sind die Ergebnisse. In Mathe haben wir an der Alemannenschule bis Klasse 10 keine einzige Unterrichtsstunde mehr. Wir bieten stattdessen etwa 20-minütige inhaltliche Inputs an. Mein Sohn beispielsweise, der auch an unserer Schule war, hat dieses Angebot nie wahrgenommen. Er hat dann trotzdem ein recht gutes Mathematik-Abitur gemacht. Insgesamt haben die ersten Abiturienten bei uns mit durchschnittlich 1,7 abgeschlossen. Der Landesdurchschnitt war 2,17. Und das, obwohl die Hälfte der Abiturienten in Klasse 5 überhaupt keine Gymnasialempfehlung sondern eine Hauptschul- oder Realschulempfehlung hatte. Es ist ein Trugschluss, dass wir meinen, wir bräuchten Lehrkräfte und Unterricht. Würden wir Schule anders organisieren, gäbe es außerdem auch keine Unterrichtsausfälle. So einfach. News4teachers: Gibt es denn bei Ihnen keine Probleme mit den Basiskompetenzen Rechnen, Lesen, Schreiben? Ruppaner: Natürlich gibt es auch bei uns noch Schüler und Schülerinnen, die es nicht so gut können. Aber obwohl wir keinen Deutschunterricht mehr geben, sind unsere Kinder wesentlich besser im Lesen und in der Rechtschreibung als der Landesdurchschnitt. Das haben die VERA-Vergleichsarbeiten gezeigt. Bei uns lernen natürlich auch geistig- und lernbehinderte Kinder. Wenn jemand nicht lesen kann, dann ist das völlig ok. Aber wir haben wesentlich – nicht nur ein bisschen – bessere Ergebnisse. News4teachers: Das heißt, der Fokus auf die Verbesserung der Basiskompetenzen ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen eines größeren Problems? Ruppaner: Genau so ist es. Wir versuchen immer ein System, das nicht funktioniert, noch zu optimieren. Da kommt halt nichts dabei heraus. News4teachers: Ihre Schule ist ja dennoch Teil des staatlichen Schulsystems. Wieso hat es denn bei Ihnen trotzdem geklappt, radikale Veränderungen herbeizuführen? Ruppaner: Wir haben bewiesen, man kann es machen, wenn man will. Ich hatte sehr viele Widerstände und zugegeben: Viele wären wahrscheinlich daran zerbrochen. In den ersten Jahren hatten wir vom Schulamt allerdings große Unterstützung, da gab es große Begeisterung. Die Begeisterung war dann im Lauf der Zeit ein wenig davon abhängig, welche Partei das Kultusministerium besetzte. Trotz allem haben wir uns auch in den schwierigen Zeiten in diese Richtung weiterbewegt. Also es ist schon möglich. Aber man muss selbst überzeugt sein und es auch wirklich wollen. News4teachers: … und sich wahrscheinlich auch Unterstützer suchen? Wen haben Sie ins Boot geholt? Ruppaner: Die größte Unterstützung war unsere eigene Gemeinde, der Bürgermeister und der Gemeinderat. Die kannten mich, weil ich selbst seit über 30 Jahren im Gemeinderat war. Die sagten „Wenn’s der Stefan sagt, dann tut’s schon stimmen.“ Ich habe also volles Vertrauen gehabt. News4teachers: Schulleitungen, die neue Wege gewagt haben, wünschen sich oft mehr Vernetzung und führen manchmal ein Inseldasein, weil sie zuweilen als Konkurrenz wahrgenommen werden. Wie sieht das bei Ihnen aus? Ruppaner: Das geht uns regional auch so. Hier in der Region führen wir auch unser Inseldasein. Aber global gesehen haben wir Verbündete, von der Steiermark über Hessen bis zur Ostseeküste. Es gibt ganz viele Schulen, die mit uns zusammenarbeiten. Mit den Lernmaterialien, die bei uns im Mittelpunkt stehen, arbeiten inzwischen schon rund 70 Schulen, die auch etwas verändern wollen, und es werden stetig mehr. News4teachers: Sie teilen also Ihre Materialien mit anderen Schulen? Ruppaner: Genau. Wir haben dazu eine gemeinnützige Genossenschaft gegründet, das sogenannte Materialnetzwerk. Die stellt hochwertige Materialien fürs selbstorganisierte Lernen für jede Schulform kostenlos zur Verfügung. Darin sind Erklärfilme und vielfältige Arbeitsmaterialien in verschiedenen Schwierigkeitsgraden enthalten sowie Teilziele formuliert. Das Kind arbeitet selbständig damit und wählt dann auch aus, wann es einen Gelingensnachweis über das Erreichen seiner Teilziele erbringen möchte. Einzige Voraussetzung ist eine 1:1 Ausstattung mit Schülerendgeräten. News4teachers: Diese Materialien ersetzen bei Ihnen auch die Schulbücher? Ruppaner: Ja. An dieser Stelle ist die Digitalisierung eine tolle Sache. Wir brauchen hier auch nichts mehr kopieren. Deswegen gibt es natürlich trotzdem noch ganz viele Literaturbücher. Darüber freuen wir uns auch. News4teachers: Sie versuchen außerdem in Kooperation mit einer Ausbildungsakademie das Referendariat vielleicht doch noch zu reformieren – zumindest als Dozent. Ruppaner: Ja, die Akademie Biberkor hat ein Konzept für ein sogenanntes Neues Referendariat entwickelt – eine Zusatzausbildung mit Blick auf ganzheitliches, zeitgemäßes Lernen. Das halten wir natürlich für eine sehr gute Sache. Ich hab‘s ja vorhin schon bemängelt, dass die staatliche Lehrerausbildung es nicht hinbekommt, Lernbegleiter auszubilden. Aber diese Akademie kriegt das hin. So etwas Konsequentes gibt es in Deutschland sonst nicht. Wir selbst hätten auch gerne schon „Neue“ Referendare bei uns aufgenommen. Aber wir haben als staatliche Schule zurzeit niemanden, der das bezahlt. Denn das Land übernimmt nicht die Kosten für private Ausbildungen. Und ich darf als Schulleiter auch keine Verträge machen. Das ist sehr schade und auch ein komplett seltsames System, dass ich nicht entscheiden kann, wer zu mir in die Schule kommt. Ich halte diese Zusatzausbildung aber für sehr sinnvoll. Es wäre schön, wenn das alle hätten, die zu uns kommen. News4teachers: Was bringen Sie den Neuen Referendar:innen denn als Dozent bei? Ruppaner: Ich erkläre zum Beispiel das System unserer Schule und unsere Pädagogik, die Schmetterlingspädagogik. Die besteht aus zwei Seiten: Das eine Flügelpaar steht für das selbstorganisierte Lernen, für das wir viele Werkzeuge entwickelt haben, wie Coaching, Graduierung, die Lernmaterialien, Arbeiten in Peergroups und so weiter. Das funktioniert frei von Zeit und Raum, also wann, wo und mit wem man will. Das andere Flügelpaar steht für das Lernen durch Erleben. Dazu gehört all das, was gemeinsam stattfindet: Lernen im Wald oder auf dem Bauernhof, Musicals üben und aufführen, Basketballmannschaften gründen, Exkursionen und so weiter. Für jedes Fach stellt sich die Frage: Welche Teile kann ich gut selbstorganisiert machen? Bei Mathe und Physik sehr viel, bei Wirtschaft alles und manche Dinge wie Musik und Sport muss ich angeleitet oder in Gemeinschaft machen. Die Referendare können bei uns mehrere Tage lang hospitieren und überall einmal reinschnuppern und feststellen, wie die beiden Flügel Selbstorganisiertes Lernen und Lernen durch Erleben funktionieren. Das ist aber nur eines von vielen anderen Ausbildungsmodulen im Neuen Referendariat. News4teachers: Vielleicht wird diese neue Art der Lernbegleiter-Ausbildung ja doch noch im staatlichen System Schule machen – im wahrsten Sinne des Wortes? Ruppaner: Zu hoffen ist es. Klima-Kleber haben wir ja schon reichlich, uns fehlen noch die Bildungs-Kleber. Die Politik braucht für echte Veränderung größeren Druck. News4teachers / Sonja Mankowsky, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview. Sieht so die Schule der Zukunft aus? „Wir gehen weg vom angeleiteten Lernen“ – sagt der Schulleiter„Wir brauchen keinen Unterricht. Wir brauchen die Transformation der Schulen vom Ort des Lehrens zum Ort des Lernens.“
„Wir versuchen immer ein System, das nicht funktioniert, noch zu optimieren. Da kommt halt nichts dabei heraus.“
„Das Materialnetzwerk stellt (…) Materialien fürs selbstorganisierte Lernen für jede Schulform kostenlos zur Verfügung.“
„Die Politik braucht für echte Veränderung größeren Druck.“