JENA. In einer neuen Studie beleuchten Wissenschaftler die Quellenlage zur Behandlung geschlechtsdysphorer Minderjähriger aus psychologischer und medizinischer Sicht. Betroffene bräuchten individuelle Unterstützung und klare Diagnosen, so die Forscher.
In Westeuropa nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen sprunghaft zu, die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, dessen Merkmale ihr Körper aufweist und die deshalb Hilfe suchen. Eine jüngst erschienene Übersichtsarbeit eines Teams um Florian Zepf (Uniklinik Jena) und Martin Holtmann (Uniklinik Hamm) zur Studienlage im Bereich Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen betont die besondere Bedeutung von psychologischen und psychotherapeutischen Maßnahmen bei Heranwachsenden mit Geschlechtsdysphorie. Insgesamt zeigte sich die Studienlage aus Sicht der beteiligten Psychologen und Mediziner als unzureichend.
Mit Geschlechtsdysphorie bezeichnen Psychologinnen und Psychologen die Situation, wenn ein Mensch sich nicht zu dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht gehörig fühlt und darunter erheblich leidet. Bereits Kinder und Jugendliche können davon betroffen sein und suchen vielfach gemeinsam mit ihren Familien nach Hilfe. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit deutlich gestiegen. Der Streit um die Möglichkeit für Jugendliche, ab einem Alter von 14 Jahren ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ändern zu lassen, bildet dabei ein prominentes Beispiel. Das erschwere laut dem Team um Zepf und Holtmann nicht zuletzt die Angabe von validen Zahlen zur Häufigkeit der Geschlechtsinkongruenz.
Oft empfänden die Betroffenen die in der Pubertät einsetzenden körperlichen Veränderungen als bedrohlich. Für viele von ihnen stelle daher die Möglichkeit, die physiologischen Prozesse der Pubertät durch Medikamente aufzuhalten, einen Zeitgewinn für die Identitätsfindung und eine Belastungsminderung dar. Eine solche Pubertätsblockade sei jedoch ein massiver Eingriff in die Entwicklung körperlich gesunder Minderjähriger, denn die Pubertätsblocker bremsten die Heranwachsenden auch in ihrer psychosozialen Entwicklung. Gleichaltrige pubertierten weiter und durchlaufen indessen die damit verbundenen körperlichen, kognitiven, sozialen und auch psychischen Veränderungsprozesse. Inwieweit eine Pubertätsblockade bei Betroffenen komplett oder auch nur teilweise umkehrbar ist, wenn die Medikamente abgesetzt werden, sei aktuell überdies nicht ausreichend erforscht.
Wer sich für Pubertätsblocker entscheidet, gehe häufig auch den nächsten Schritt und nehme Geschlechtshormone ein. Die Gabe von Testosteron oder Östrogen zielt dabei auf eine äußerliche Vermännlichung oder eine Verweiblichung, also eine Veränderung des körperlichen Aussehens in Richtung des empfundenen Geschlechts. Bei dieser gegengeschlechtlichen Hormongabe nach vorheriger Pubertätsblockade bestehe nach Studienlage für die Minderjährigen das Risiko für Unfruchtbarkeit.
Die ärztlich-therapeutische Beratung und Begleitung der Heranwachsenden gehe deshalb mit vielen Herausforderungen einher. „Wir wissen insgesamt noch sehr wenig über die Entwicklung von jungen Menschen, die in Kindheit oder Pubertät wegen einer Geschlechtsdysphorie eine Pubertätsblockade bzw. eine Hormongabe erhalten haben. Es müssen viele individuelle Aspekte berücksichtigt werden, und solide langfristige Daten fehlen uns derzeit“, stellt Florian Zepf fest.
Kaum Neues und Belastbares
Beinahe resigniert fasst Zepf die Ergebnisse der Übersichtsarbeit zusammen: „Die Studienlage zur Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie ist derzeit sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit unzureichender Methodik und Qualität, sodass das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die Ergebnisse aktuell gering ist. Aussagekräftige kontrollierte Langzeitstudien dazu fehlen derzeit“, so der Epidemiologe. Die langfristigen Risiken der Pubertätsblockade und der Hormongabe ließen sich deshalb kaum abschätzen.
Vor allem aber fehle der belastbare und sichere Nachweis, dass die jeweilige medizinische Maßnahme die angestrebte Wirkung tatsächlich erreicht. Zepf: „Die Studien- und Evidenzlage zeigt derzeit nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit, dass sich die Geschlechtsdysphorie und die psychische Gesundheit bei betroffenen Minderjährigen durch Pubertätsblockade und Hormongabe im Verlauf sicher und bedeutsam verbessern.“ Für das Autorenteam spielt daher die psychologische und psychotherapeutische Begleitung der Betroffenen eine besonders wichtige Rolle.
Dies betreffe auch die Diagnostik bei der Abgrenzung von eventuellen begleitenden psychischen Störungen, die dann behandelt werden sollten. „Dabei kommt ebenso psychologischen und psychotherapeutischen Interventionen eine besondere Bedeutung zu. Solche Interventionen sind jedoch explizit nicht als eine Konversionstherapie mit dem Ziel einer Versöhnung mit dem biologischen Geburtsgeschlecht zu sehen“, betont Martin Holtmann. Es gehe vielmehr darum, den individuellen Leidensdruck der Heranwachsenden zu mindern. „Wenn nach sorgfältigster und sehr strenger individueller Abwägung mit den Betroffenen und den Eltern die Entscheidung für eine Blockade der Pubertät oder für die Gabe von Hormonen fallen sollte“, ergänzt Holtmann, „dann sollte dies nach Möglichkeit im Rahmen von klinischen Studien erfolgen, damit wir das klinische Wissen zur derzeit fraglichen Wirksamkeit und zu den Risiken dieser Maßnahmen verbessern können.“ (zab, pm)
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