Im Kampf gegen den hohen Unterrichtsausfall lässt Sachsen-Anhalt die Lehrkräfte seit fast einem Jahr eine Stunde pro Woche länger unterrichten – diese sogenannte Vorgriffstunden-Regelung hat nun vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt standgehalten. Am Donnerstag lehnte das Gericht in Magdeburg die Normenkontrollanträge einer verbeamteten Lehrerin aus Magdeburg und eines angestellten Lehrers aus Haldensleben ab. Sie hatten die seit knapp einem Jahr geltende Regelung kippen wollen.
Aus Sicht des Gerichts ist die entsprechende Verordnung des Bildungsministeriums nicht zu beanstanden. Sie sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Es handele sich nicht um eine Erhöhung der Regelarbeitszeit für die Lehrer, so der Vorsitzende Richter Oliver Becker. Vielmehr sei es eine Arbeitszeitverschiebung, die Unterrichtsstunden würden vorgezogen. Das Ziel des Landes, zusätzliche Unterrichtseinheiten zu generieren, werde erreicht. Auch gegen Arbeitszeitrichtlinien werde aus Sicht des Gerichts nicht verstoßen. Dass Teilzeitkräfte einbezogen werden, hält das Gericht ebenfalls für unproblematisch.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Revision ist nicht zugelassen. Es ist aber Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht möglich, die Hürden dafür sind laut einem Gerichtssprecher höher als bei einer Revision.
Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Eva Gerth, sagte, sie sei tief enttäuscht und mit ihr Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen. Die Belastung der Kollegen sei hoch – der Krankenstand der alternden Lehrerschaft werde sich weiter erhöhen. Zu erwarten sei darüber hinaus eine weitere Fluktuation aus dem Beruf, «da Lehrkräfte eben nicht dauerhaft am Limit arbeiten können». Das Thema Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte bleibe. Sie gehe davon aus, dass es viele Einzelklagen an den Arbeitsgerichten geben werde. Gerth verwies auf erhebliche Probleme bei der Auszahlung der geleisteten Vorgriffsstunden.
Die Beamtin und der angestellte Lehrer, die sich als GEW-Mitglieder mit der anwaltlichen Vertretung von Rechtsanwalt Thomas Neie aus Leipzig gegen die Änderung der Arbeitszeitverordnung gewehrt haben, zeigten sich mit dem Ausgang des Verfahrens enttäuscht. «Die katastrophale Unterrichtsversorgung im Land Sachsen-Anhalt kann offensichtlich einfach dadurch beseitigt werden, dass die Unterrichtsverpflichtung aller Lehrkräfte per Dekret erhöht wird», so die Klägerin Anke Prellwitz. «Man muss sich nicht wundern, wenn junge Lehrkräfte nicht nach Sachsen-Anhalt kommen, angesichts der derzeitigen Beschäftigungsbedingungen hierzulande.»
«Mit der Einführung der Vorgriffsstunde haben wir in Sachsen-Anhalt ein wirksames Instrument gefunden, um die Unterrichtsversorgung deutlich zu verbessern»
Bildungsstaatssekretär Jürgen Böhm sagte nach der Urteilsverkündung: «Es ist ein guter Tag für die Bildung im Land.» Mit der Vorgriffsstunde komme ein Volumen zusammen, das 500 Vollzeitkräften entspreche. Laut Ministerium fehlen etwa 1000 Lehrer im Land. Bei den Abrechnungen der Stunden gebe es noch «Verwaltungsproblemchen», an denen man arbeite. Auch Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) begrüßte die Entscheidung. «Mit der Einführung der Vorgriffsstunde haben wir in Sachsen-Anhalt ein wirksames Instrument gefunden, um die Unterrichtsversorgung deutlich zu verbessern.»
Die zusätzlichen Stunden können sich die Lehrkräfte vergüten lassen oder sie auf einem Arbeitszeitkonto ansparen, um sie ab dem Schuljahr 2033/34 abzubauen. Von der Regelung sind Lehrkräfte ab 62 und befristet angestellte Lehrkräfte ausgenommen.
Das Land reagierte mit der Zusatzstunde auf den Lehrermangel und das hohe Maß an Unterrichtsausfall. Für Grundschullehrkräfte bedeutet die Neuregelung 28 statt bislang 27 Unterrichtsstunden, für Sekundarschul- und Gymnasiallehrkräfte 26 statt 25 Unterrichtsstunden pro Woche.
Der Vorsitzende Richter hatte bei der Erörterung am Donnerstagvormittag erklärt, die Vorgriffstunde sei keine Erfindung des Landes Sachsen-Anhalt. Vergleichbare Modelle habe es schon in anderen Bundesländern gegeben. Er verwies auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013, das das Modell als Verteilung der Arbeitszeit sah.
Die Lehrkräfte hatten in die Erörterung am Vormittag unter anderem argumentiert, die genauen Bedingungen für den späteren Abbau der angesammelten Überstunden seien nicht klar genug geregelt. Das Gericht hingegen befand, die wesentlichen Modalitäten stünden ausreichend fest.
«Im Zusammenhang mit dem höheren Alter vieler Lehrkräfte muss klar sein, dass deren Arbeitskräftepotential nicht unendlich ausgebeutet werden kann»
Die GEW Sachsen-Anhalt fordert die Landesregierung weiterhin auf, mit ihr in Gespräche einzutreten, um die Folgen der zusätzlichen Stunde für die Beschäftigten abzumildern beziehungsweise über die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften zu reden.
«Eine zwanghafte Erhöhung der Arbeitszeit hat Grenzen. Im Zusammenhang mit dem höheren Alter vieler Lehrkräfte muss klar sein, dass deren Arbeitskräftepotential nicht unendlich ausgebeutet werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die Landesregierung aufgefordert, die Arbeitsbedingungen aller Lehrkräfte durch Entlastung und Entbürokratisierung weiter zu verbessern. Es ist auch dringend notwendig, endlich die gesamte Arbeitszeit der Lehrkräfte zu erfassen», so teilte die Gewerschaft mit. Die GEW Sachsen-Anhalt werde selbstverständlich ihre Mitglieder bei individuellen Klagen gegen eine zu hohe Arbeitsbelastung durch die Vorgriffsstunde unterstützen. News4teachers / mit Material der dpa
