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Anstieg der Jugendkriminalität: Sind die Ausländer schuld? BLLV-Präsidentin: „Können platte Erklärungen nicht gebrauchen”

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BERLIN. Die neue Kriminalstatistik zeigt eine deutliche Zunahme von Gewalttaten. Tatverdächtig sind immer mehr Jugendliche – überproportional viele ohne deutschen Pass. Anlass für die „Bild“-Zeitung und die AfD, aber auch für die Union, grundsätzlich Ausländer für die Entwicklung verantwortlich zu machen. BLLV-Präsidentin Fleischmann warnt hingegen vor schnellen Schuldzuweisungen. Der Kriminalitätsforscher Prof. Dirk Baier gibt ihr recht.

„Das wird Kindern nicht gerecht “: BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Foto: BLLV

„Das Bild, welches gerade von unseren Schulen gezeichnet wird, ist düster. Gewalt, verrohte Sprache, verängstigte Kinder. Immer wieder steht das Thema Migration im Fokus – ist das Multikulti-Prinzip an Schulen gescheitert?“, so fragt die „Bild“-Zeitung in einem aktuellen Beitrag rhetorisch. Die Antwort scheint klar, wenn gleichzeitig in der Schlagzeile zu einem anderen Artikel behauptet wird: „Neue Schock-Statistik: Zahl der Straftaten von jugendlichen Ausländern explodiert!“

Die AfD, nicht erstaunlich, sieht sich in ihrem migrationsfeindlichen Kurs bestätigt – und macht den „verantwortungslosen Vielfalts- und Multikultiwahn“ der Bundesregierung für die Entwicklung verantwortlich. Aber auch die CDU feuert aus allen Rohren. „Die polizeiliche Statistik zeigt es Schwarz auf Weiß: Die Gewaltkriminalität in Deutschland steigt in einem besorgniserregenden Ausmaß. Von den Tatverdächtigen haben 41 Prozent keinen deutschen Pass. Auch immer mehr Kinder und Jugendliche werden gewalttätig, darunter ebenfalls ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Ausländern“, so heißt es in einer Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Deutschland wird seit zwei Jahren unsicherer und das liegt an der stark gestiegenen Ausländerkriminalität“, behauptet darin die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz.

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„Wir dürfen zwar auf diesem Auge nicht blind sein, aber wir können nicht einfach sagen, das sind die Migrantenkinder, die Gewalt ausüben“

Richtig ist: Aktuelle Zahlen des Bundeskriminalamts zeigen eine Zunahme insbesondere von Gewaltdelikten, dabei ist der Anstieg bei Tatverdächtigen unter 14 Jahren mit 43 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019 überdurchschnittlich. Auch der Anteil von Tatverdächtigen, die in der Statistik als „nichtdeutsch“ bezeichnet werden, hat überproportional zugenommen – hier ist in der Interpretation allerdings Vorsicht geboten, wie Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) in einem Beitrag auf der Homepage des Verbands darlegt.

Fleischmann: „Wir können platte Erklärungen bei der Thematik nicht gebrauchen. Wir dürfen zwar auf diesem Auge nicht blind sein, aber wir können nicht einfach sagen, das sind die Migrantenkinder, die Gewalt ausüben. Damit machen wir alles kaputt, was positive Migrationspolitik bedeutet. Das wird Kindern nicht gerecht und führt nicht zu einer Gesellschaft des offenen Miteinanders. Wir sagen: Alle Gewalttaten brauchen eine Nulltoleranzpolitik, das heißt auch ein Nulltoleranzmanagement an den Schulen. Wir müssen dort konsequent jeden Fall anzeigen, egal, wer eine Straftat ausübt!“

Zur Einordnung: „Es ist nicht ganz überraschend, dass wir im Moment eine negative Entwicklung sehen. In der Coronapandemie kam das öffentliche Leben zum Erliegen, und damit hatten wir auch einen Rückgang der Kriminalität. Jetzt geht es in die andere Richtung“, erklärt der Soziologe Prof. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Zürich, zu dessen Forschungsschwerpunkten Jugend- und Gewaltkriminalität gehören, in einem Interview mit dem „Spiegel“. „Wir haben im vergangenen Jahr massive Anstiege gesehen, etwa im Bereich der Jugendkriminalität, und das setzt sich nun fort.“

Es gebe zwar eine Auffälligkeit im Bereich der Ausländerkriminalität. Aber: „Es kommt immer darauf an, wie wir uns die angucken. Man kann sagen: Ausländerinnen und Ausländer sind etwa doppelt so häufig Tatverdächtige wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Das klingt bedrohlich. Man kann aber auch sagen: Von 100 Deutschen werden ungefähr zwei bis drei tatverdächtig. Bei den Ausländern sind es circa fünf bis sechs. Das macht klar: Wer auf Basis dieser Zahlen pauschale Maßnahmen gegen ganze Gruppen fordert, trifft damit auch die 94 Prozent, die hier nach Recht und Gesetz leben. Dazu kommt, dass Staatsangehörigkeit oder Geburtsland kriminologisch keine Ursachen sind von Kriminalität, sondern es sind Merkmale, hinter denen etwas steckt, was wir identifizieren müssen.“

Was steckt denn dahinter? „Es gibt dazu einige Forschung mittlerweile. Wir können auf der Basis relativ klar sagen, dass es einerseits die soziale Lage ist. Ausländerinnen und Ausländer haben einen niedrigen sozialen Status und niedrige Bildung. Deutsche mit ähnlichen Merkmalen sind ähnlich kriminell“, antwortet der Fachmann.

Andererseits seien Ausländer nicht nur als Tatverdächtige überrepräsentiert – sondern auch als Opfer. Das aber werde in der Debatte überhaupt nicht wahrgenommen. „Damit entsteht ein Zerrbild von Kriminalität: Der Ausländer ist der Täter, der das deutsche Opfer ausnimmt oder verprügelt. In letzter Konsequenz führt das zu Wahlerfolgen von Parteien, die eine einfache Antwort vorgaukeln: Die Ausländer müssten weg und dann sei unser Kriminalitätsproblem gelöst. Was natürlich Unfug ist“, so Baier.

„Es findet eine Verrohung in der Sprache statt — sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik“

Fleischmann sieht eine Ursache für die Entwicklung hin zu mehr Kinder- und Jugendgewalt in der generellen Zunahme von Aggression in der Gesellschaft. Der Schulalltag zeige schon immer, dass Kinder sich stark an Vorbildern orientieren – und eben reproduzieren, was ihnen vorgelebt wird: „Wenn man sieht, wie die Gewalt überall zunimmt, ist es kein Wunder, dass die Kinder, die ja Spiegel der Gesellschaft sind, zu Mitteln greifen, die weit über die Grenzen gehen. Es findet eine Verrohung in der Sprache statt — sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik. Das führt zu einer Verrohung der Sprache und der Taten der Kinder.“

Wenn in der Gesellschaft Ängste vor dem, was anders oder fremd ist, geschürt werden, dann gehe das eben auch an Schulkindern nicht spurlos vorbei, meint die BLLV-Präsidentin: „Man hat den Eindruck, dass es Ängste auslöst, wenn jemand eine andere Religion oder sexuelle Orientierung hat. Das findet auch in den Familien statt und die Kinder können nicht damit umgehen und plappern es einfach nach.“ Daraus leitet sich für Simone Fleischmann ein klarer pädagogischer Auftrag ab: „Erziehung und Bildung in der Schule heißt, wir müssen uns Zeit nehmen und die Konflikte auflösen. Es gilt herauszufinden: Was macht dem Schüler Angst? Vielleicht muss mehr Anti-Gewalt-Erziehung stattfinden, das ist dann vielleicht wichtiger als der Satz des Pythagoras.“

Mit großer Sorge blickt die BLLV-Präsidentin daher nach eigenem Bekunden auf Interpretationen der Polizeistatistik, die nicht in Richtung dieses nötigen Miteinanders, sondern auf eine weitere Verrohung des Umgangs und eine Spaltung der Gesellschaft zielen. Fleischmann: „Es gibt keine einfachen Erklärungen. Wir müssen die Zahlen sehr genau interpretieren. Mir als Lehrerin bringt das nichts zu wissen, welche Nationalität jemand hat. Wir müssen aufpassen, was wir mit solchen Statistiken machen, und keine vorschnellen Urteile fällen – das ist nämlich auch eine Form von Gewalt.“ News4teachers

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