DORTMUND. Warum sich niemand in Deutschland über die zuletzt desaströsen Ergebnisse von PISA, IGLU und Co wundern darf, macht eine Detailstudie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund nun deutlich: Grundschulkinder mit nicht-deutscher Familiensprache haben besondere Defizite bei der Lesekompetenz, das ist schon länger bekannt. Wie viele Schülerinnen und Schüler das betrifft, ließ sich aber bislang nur erahnen. Unklar war auch, wie diese Kinder denn in der Schule gefördert werden. Die aktuellen Ergebnisse zeichnen ein unschönes Bild.
Lesekompetenz ist sowohl als Kernkompetenz von Relevanz als auch für das Lernen in allen anderen Fächern grundlegend. Das IFS, das im Mai 2023 die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU-Studie) vorgelegt hatte, ist deshalb auf der Grundlage der Daten nochmal den Fragen nachgegangen, wie vielfältig der sprachliche Hintergrund der Grundschüler*innen in Deutschland aktuell ist und wie Kinder mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache in der Grundschule gezielt gefördert werden.
Ergebnisse: Fast 20 Prozent der Viertklässler*innen geben an, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, sie jedoch Deutsch bereits vor Schulbeginn gelernt haben. Weitere sechs Prozent, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, haben die deutsche Sprache erst nach Eintritt in die Schule gelernt. Die Schülerschaft weist also eine hohe sprachliche Heterogenität auf, was sich auch bei der Lesekompetenz zeigt. „Diese ist bei Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, signifikant geringer. Kinder, die erst Deutsch gelernt haben, nachdem sie in die Schule kamen, weisen einen nochmals deutlich geringeren Lesekompetenzstand am Ende der vierten Klasse auf. Zwischen den Gruppen liegt jeweils etwa ein dreiviertel Lernjahr“, erläutert IGLU-Projektleiterin Dr. Ramona Lorenz.
„Diese Gruppe benötigt für eine erfolgreiche Schulzeit und Teilhabechancen eine spezielle sprachliche Förderung in der Grundschulzeit“
10,9 Prozent der Viertklässler*innen geben an, dass sie nicht in Deutschland geboren wurden. Ein Blick auf das Zuwanderungsalter zeigt, dass etwa ein Drittel der Kinder zum Zeitpunkt der Zuwanderung jünger als drei Jahre (32,8 Prozent) war, 14,2 Prozent waren drei bis fünf Jahre alt. Bei diesen Gruppen kann die Sprache also bereits im vorschulischen Bereich gefördert werden. Knapp 40 Prozent der Viertklässler*innen sind jedoch zum Zeitpunkt der Zuwanderung bereits im schulpflichtigen Alter gewesen, ein beträchtlicher Teil von 30,9 Prozent sogar im Alter von acht Jahren oder älter. „Diese Gruppe benötigt für eine erfolgreiche Schulzeit und Teilhabechancen eine spezielle sprachliche Förderung in der Grundschulzeit“, führt Lorenz aus.
Wie werden Kinder mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache vor dem Hintergrund der deutlichen Kompetenzrückstände in der Schule denn im Lesen gefördert? „Unsere Befragung der Lehrkräfte hat gezeigt, dass mit dieser Herausforderung sehr unterschiedlich umgegangen wird. Im Unterricht von 13,1 Prozent der Viertklässler*innen fördern die Lehrkräfte Schüler*innen mit Deutsch als Zweit- /Fremdsprache gezielt in fast jeder Deutschstunde, bei 37,5 Prozent in einer Deutschstunde pro Woche. Es zeigt sich aber auch, dass bei 30,9 Prozent in keiner der Deutschstunden eine gezielte Förderung für diese Gruppe vorkommt, bei 18,4 Prozent der Schüler*innen passiert dies nur einmal im Monat. Dabei findet eine gezielte Förderung nicht unbedingt dort häufiger statt, wo der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund höher ist“, berichtet die Wissenschaftlerin.
Lesefördermaßnahmen an Schulen können auch außerhalb des regulären Unterrichts stattfinden. Deshalb wurden die Schulleitungen zu außerunterrichtlichen Angeboten für Kinder mit nicht deutscher Familiensprache befragt. „Hier zeigt sich ein ähnlich heterogenes Bild, rund die Hälfte der Schüler*innen besuchen eine Grundschule, an der außerunterrichtliche Leseförderangebote für diese Zielgruppe bestehen, rund die Hälfte aber eben auch eine Schule, die solche Fördermaßnahmen nicht anbietet“, konstatiert die IGLU-Projektleiterin.
Fazit von Studienleiterin Professorin Nele McElvany: „Wir haben eine heterogene Schülerschaft mit jeweils besonderen Förderbedarfen. Die unterschiedlichen Zeitpunkte des Deutschlernens oder der Zuwanderung verweisen darauf, dass wir umfassende Konzepte für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung zu unterschiedlichen Zeitpunkten brauchen: vor Schulbeginn, in den ersten Grundschuljahren und für die später Zugewanderten. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Lehrkräfte und Schulen aktuell sehr unterschiedlich mit dieser Herausforderung umgehen. Viele Lehrkräfte und Schulen sind hier äußerst engagiert. Der Anteil an Kindern mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache, die im Deutschunterricht nicht gezielt gefördert werden oder an Schulen sind, die kein außerunterrichtliches Leseförderangebot haben, ist allerdings deutlich zu hoch, hier gibt es klaren Handlungsbedarf. Wichtig ist, dass die Förderung gezielt erfolgen kann, das heißt, dass wir ein verlässliches Diagnostikverfahren brauchen, um darauf aufbauend gezielte Angebote – sei es durch qualitativ hochwertigen Unterricht im Klassenverband, kleinere Lerngruppen oder individuelle Förderung – bereitstellen zu können.“ News4teachers