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Bildungspläne: „Eher Hemmschuh als Hilfe“ – was Lehrkräfte wirklich brauchen (Gastbeitrag eines erfahrenen Pädagogen)

DÜSSELDORF. Dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen, das rät unser Gastautor Uli Black jungen Lehrkräften. Der mittlerweile pensionierte Gymnasiallehrer für die Fächer Sport, Englisch und Psychologie erinnert sich an seine Anfänge als Lehrer und kommt zum Schluss: die Lehrpraxis, aber auch die Ausbildung angehender Lehrkräfte muss sich verändern – er weiß auch wie.

Unser Gastautor wünscht sich mehr didaktische Freiheit für Lehrkräfte. Symbolfoto: Shutterstock/Bildagentur Zoonar GmbH

Club der schlechten Lehrer

Es war in meinem ersten Jahr als Lehrer an einem Gymnasium in Karlsruhe. Ich sollte unter anderem eine 5. Klasse im Fach Englisch unterrichten, worauf ich mich ganz besonders freute. In den Sommerferien hatte ich mir das Lehrbuch eines großen Schulbuchverlags angeschaut, um mich auf den Unterricht vorzubereiten, was jedoch ein großes Gähnen bei mir auslöste. Ich fragte mich, wie ich die Kids über das gesamte Schuljahr für in Schuluniformen gekleidete Fantasieschüler aus Sheffield, die in ihrer Freizeit einen nebulösen Detektivclub gründeten, begeistern sollte. Wie sollte ich hier einen Transfer herstellen?

Neben dem Schülerbuch lag mir ein Lehrerhandbuch vor, in dem kleinschrittig aufgezeigt wurde, wie die Schüler zu unterrichten seien. Als „Assistenten“ sollte ich mir beim Verlag eine Handpuppe besorgen, um den Unterricht „kindgerecht“ zu gestalten. What???! Es wurde vorgeschlagen, nach einer „Einführungsstunde“ sofort mit dem Schulbuch zu beginnen und die Kinder von der ersten Stunde an die Vokabeln der ersten Unit von der Tafel abschreiben zu lassen. Ein erster Vokabeltest sollte nach vier Wochen erfolgen, die erste Klassenarbeit, die auch haarklein dargelegt wurde, nach sechs bis acht Wochen. Meine Gefühlslage schwankte von Panik bis Übelkeit. Hatte ich mir so das Unterrichten von Sprachanfängern vorgestellt? Nein, ganz sicher nicht! No way!! Was tun? Ich fragte eine erfahrene Kollegin, ob ich das auch anders machen und vom Lehrbuch abweichen könne. „Nein, auf gar keinen Fall. Sie müssen sich haargenau an die Vorgaben im Lehrbuch halten, damit die Kollegen, die die Klasse dann später übernehmen, sich darauf verlassen können.“

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„Die Bücher sind völlig überholt und langweilig. Sie haben nichts Besseres verdient. Also weg damit!“

Und nun? Ich war auf der einen Seite noch Anfänger und wollte es nicht besser wissen als meine erfahrenen Kollegen. Auf der anderen Seite wollte ich meinen Instinkt und mein Bauchgefühl nicht einfach ausschalten. Ich hatte sehr genaue Vorstellungen, wie ich meine Fünftklässler zur englischen Sprache sanft und behutsam und vor allem mit Spaß und Humor, meinem Charakter entsprechend, hinführen wollte. Das sollte ich alles über den Haufen werfen? Nein, auf keinen Fall!

Als ich dann in der ersten Stunde in meiner 5. Klasse sah, wie die armen Kinder über 20 Kilo schwere Ranzen mit sich schleppten, war mir endgültig klar, dass ich da nicht mitmachen und meinen eigenen Weg gehen würde. „Die dicken Englischbücher könnt ihr ab sofort zu Hause lassen, die braucht ihr nicht!“ Nie werde ich die staunenden, aber vor allem dankbaren Blicke der Kinder vergessen. „Und was sollen wir mit den Büchern machen?“, fragte mich eine Schülerin. „Keine Ahnung“, sagte ich. „Verschenkt sie oder bringt sie in die Buchhandlung zurück oder wenn ihr wollt, könnt ihr sie auch aus dem Fenster werfen.“ „Ist das Ihr Ernst?“ „Ja, klar, oder sehe ich so aus, als würde ich Spaß machen?“, fragte ich sie lachend. „Und wir werden nicht bestraft, wenn wir das machen?“ „Bestraft? Warum denn? Die Bücher sind völlig überholt und langweilig. Sie haben nichts Besseres verdient. Also weg damit!“

Es dauerte keine drei Sekunden, bis der Erste unter dem johlenden Beifall seiner Mitschüler aufstand, das Fenster öffnete und sein Englischbuch in hohem Bogen aus dem Fenster warf.
Die nächsten ließen sich nicht lange bitten und taten es ihm gleich. Sie hatten augenscheinlich einen Riesenspaß. Nur wenige trauten sich nicht so recht und fragten mich schüchtern, ob sie das wirklich tun müssten. „Es ist völlig in Ordnung, wenn ihr das nicht macht. Bücher sind eigentlich Schätze, die man hüten sollte. Aber diese Bücher taugen nichts. Sie sind zu alt für euch. Nehmt sie einfach mit nach Hause und bringt sie nicht mehr mit.“

Shitstorm der Eltern

Der Shitstorm der Eltern ließ nicht lange auf sich warten. Schon am nächsten Tag rief mich der Schulleiter zu sich. „Es haben Eltern angerufen und sich darüber beschwert, dass Sie Ihre Schüler angeblich aufgefordert haben, ihre Schulbücher aus dem Fenster zu werfen. Stimmt das?“ „Nicht ganz. Für die anderen Fächer fühle ich mich nicht zuständig, aber die Englischbücher durften sie aus dem Fenster werfen, das ist wohl wahr.“ „Ja, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Wo kämen wir denn hin, wenn das jeder Lehrer machen würde?“ „Gute Frage. Ja, wo kämen wir da hin? Vielleicht wäre das der erste Schritt in eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Unterricht ohne überalterte und völlig überholte Lehrbücher.“

Es sollte noch vier Jahre dauern, bis ich im Kino den wunderbaren Film „Club der toten Dichter“ sah und mit glänzenden Augen Zeuge sein durfte, wie der großartige Robin Williams seine Schüler die antiquierten Lehrbücher aus dem Fenster werfen ließ. Ich hätte mir die Filmrechte dafür rechtzeitig sichern sollen.

35 Jahre Lehrer an 5 Gymnasien

Bis zu meiner Pensionierung war ich 35 Jahre an insgesamt fünf Gymnasien tätig und überall war es das gleiche: Die Lehrbücher wurden wie Heiligtümer betrachtet und ein Abweichen davon war geradezu blasphemisch. Ich blieb meiner Linie treu und verwertete aus ihnen nur die wenigen Artikel oder Beiträge, die entweder zeitlos oder spannend waren. Alles andere holte ich mir aus Büchern, Zeitschriften oder Zeitungen. Das war oft zeitaufwändig, aber es lohnte sich, da wir immer auf der Höhe der Zeit waren. Einen wesentlichen Teil der Englischstunden verbrachten wir mit dem Hören und Analysieren von Popsongs oder wir lasen Short Storys oder altersgerechte Romane. Die Unterrichtssprache war, von der 5. Klasse an, ausschließlich Englisch.

Das dann ab den 90er-Jahren verfügbare Internet war natürlich ein Segen für meine Unterrichtsvorbereitung, da ich mir hier in kürzester Zeit und von zu Hause aus die notwendigen Materialien holen konnte. Später kamen Filme und am Ende Serien hinzu. Der Unterricht war selten langweilig und wenn, wurden Inhalte und Methoden schnell gewechselt. Das Sprachniveau meiner Klassen war immer gut bis sehr gut und ich kann mich tatsächlich an keinen einzigen Fall erinnern, wo ein Schüler wegen einer mangelhaften Leistung in Englisch die Versetzung nicht schaffte. Wenn ich nach meist zwei Jahren meine Klassen abgeben musste, bekam ich fast immer von den Kollegen die Rückmeldung, dass das sprachliche Niveau der Schüler „erstaunlich gut“ war. Und das, „obwohl“ ich fast gänzlich ohne Lehrbücher gearbeitet hatte.

Um die „Bildungspläne“ habe ich mich meist nicht geschert. Mein Ziel war immer, das Maximum aus den Schülern herauszuholen, sie zu fördern, aber vor allem auch zu fordern. Wenn ein Jahrgang schon in der 5. Klasse in der Lage war, mit „simple past“ oder „present perfect“ problemlos zu arbeiten, war es mir gleichgültig, dass dies in den Bildungsplänen erst ab Klasse 6 oder 7 vorgesehen war. Und mehr als einmal ließ ich in der 6. Klasse eine Klausur schreiben, die das Niveau einer 8. Klasse hatte, weil die Schüler einfach dazu in der Lage waren.

„Was einem suspekt erscheint, sollte man infrage stellen.“

Jungen Kollegen und Kolleginnen kann ich nur den Rat geben, sich etwas zu trauen, mutig zu sein, die Schüler immer in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen und ihrem Instinkt und Bauchgefühl zu vertrauen. Ein guter Koch vertraut auch seinem Gefühl und Geschmack und nicht einem Kochbuch. Was einem suspekt erscheint, sollte man infrage stellen. Das System ist für Menschen gemacht und nicht umgekehrt. Wer nicht hinterfragt (auch sich selbst) und sich immer nur unterordnet, ist kein gutes Vorbild für junge Menschen.

Nach meiner Erfahrung und Beobachtung sind die Bildungspläne für sehr viele Lehrer eher ein Hemmschuh als eine Hilfe. Die mikroskopische Operationalisierung von zu erlernenden Fähigkeiten und Fertigkeiten irritiert mehr, als dass sie förderlich ist. Es steht außer Frage, dass inhaltliche Vorgaben notwendig sind, damit die Lehrer wissen, welche pädagogischen Ziele zu erreichen sind. Aber es bedarf meines Erachtens einer radikalen Verschlankung der fachdidaktischen Inhalte. Und die Methodik sollte ohnehin ausschließlich der Entscheidung des Lehrers und den Gegebenheiten wie Klasse, Fach, Thema und technische Möglichkeiten unterliegen.

Die neu zu schreibenden Bildungspläne sollten sich auf die wesentlichen Ziele und Erwartungen konzentrieren. Dies kann pro Unterrichtsfach und Klassenstufe auf ein oder zwei Seiten geschehen. Die von Verlagen herausgegebenen Lehrbücher, die traditionell die Bildungspläne im Klassenzimmer repräsentieren, sind nicht mehr zeitgemäß, da von der ersten Stoffsammlung bis zum endgültigen Einsatz in den Klassen Jahre vergehen und sie somit unserer schnelllebigen Zeit mehr als hinterherhinken. Sie können im übertragenen Sinne allesamt aus dem Fenster geworfen werden. Durch die Ausstattung der Schulen mit Filmräumen und das Zurverfügungstellen von Tablets für alle Schüler werden diese Bücher nicht mehr benötigt und die Millionen, die dadurch eingespart werden, können in andere Anschaffungen und Projekte gesteckt werden. Der einzelne Lehrer bekommt auf diese Weise deutlich mehr Freiräume, die er nach seinem Dafürhalten inhaltlich und methodisch gestalten kann.

Gesucht: vorbildliche Lehrerpersönlichkeiten

Eine wesentliche Voraussetzung für Lernerfolg ist neben einer klaren Definition von Zielen und Erwartungen die qualifizierte Lehrerpersönlichkeit. Der lehrerzentrierte Unterricht kann sehr erfolgreich sein unter den Voraussetzungen, dass es dem Pädagogen gelingt, eine verbindliche Beziehung mit den Schülern einzugehen, und dass er in der Lage ist, die Schüler zu motivieren, zu interessieren oder im Idealfall zu begeistern. Dies setzt voraus, dass der Lehrer selbst interessiert, motiviert und charismatisch ist und sowohl eine fachliche wie persönliche Autorität ausstrahlt. Wenn ihm dies nicht gelingt, sollte er dem Club der schlechten Lehrer beitreten und sich sodann einen neuen Job suchen.

Es wird eine der herausragenden bildungspolitischen Aufgaben der Zukunft sein, solche vorbildlichen Lehrerpersönlichkeiten zu finden beziehungsweise auszubilden. Dies wird nur mit hohen finanziellen Anreizen, attraktiven Arbeitsbedingungen und geeigneten Ausbildungsmethoden und -personen möglich sein. Lehramtskandidaten sollten schon in einer frühen Phase ihrer Ausbildung für sich selbst herausfinden, ob sie diese Voraussetzungen erfüllen. Wünschenswert wäre ein duales Studium ab dem ersten Semester, wo schön früh mithilfe von Schülern und betreuenden Mentoren diese vorhandenen oder fehlenden Qualifikationen erkannt werden können. Auf diese Weise erspart man den Lehramtskandidaten den Frust eines erfolglosen Studiums und den Schülern schlechte Lehrer.

Zum Autor
Uli Black war bis zu seiner Pensionierung 2018 Gymnasiallehrer für die Fächer Sport, Englisch und Psychologie. Zudem war er Ausbildungslehrer und somit für die Betreuung von Praxissemesterstudierenden zuständig.

 

Sein kürzlich erschienener Roman „Kafka kannste knicken. Bildung war gestern-heute ist TikTok“ wurde durch das Anwerbungsprogramm der baden-württembergischen Landesregierung inspiriert („Kein Bock auf Arbeit? Huurraaa, werde Lehrer*in“). Auf satirisch-ironische Weise setzt er sich mit der Frage auseinander, was passieren kann, wenn ein fachfremder Quereinsteiger ohne jegliche pädagogische Ausbildung von heute auf morgen vor Klassen gestellt wird und eigenverantwortlich unterrichten muss. Der Protagonist treibt in dem Roman ungehindert in einem ehemaligen Elitegymnasium sein Unwesen und gewinnt mit seiner fast anarchischen Art sehr schnell die Herzen seiner Schüler, bringt jedoch den überforderten Schulleiter an den Rand des Wahnsinns. Als er auch noch überragende pädagogische Erfolge erringt, weckt er das Interesse des Kultusministeriums.

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