DÜSSELDORF. Zufällig dazugekommen und nie wieder gegangen – so geht es vielen, die mit der Montessori-Pädagogik in Kontakt kommen. Auch Christoph Borchardt hatte beruflich eigentlich andere Pläne, als er sein erstes Kind an einer Montessori-Schule anmeldete. Heute ist er Vorstandsmitglied vom Montessori Bundesverband Deutschland und Geschäftsführer von Montessori Biberkor, einer der größten übergreifenden Montessori-Bildungseinrichtungen Deutschlands – und setzt sich dafür ein, dass Kinder nicht den Spaß am Lernen verlieren. Dabei hat er jedoch auch mit einigen Widerständen zu kämpfen.
News4teachers: Sie sind Geschäftsführer von Montessori Biberkor und im Vorstand von Montessori Deutschland. Was fasziniert Sie an der Montessori-Pädagogik so sehr, dass Sie sich in dieser Weise dafür einsetzen?
Christoph Borchardt: Ich glaube, es ist eine zeitgemäße und kindgerechte Art, Schule zu machen. Ich bin selbst auf eine Regelschule gegangen und Schule war für mich immer ein Graus, die ganze Zeit. Vielleicht das erste und das letzte Schuljahr mal ausgenommen. Das wollte ich für meine Kinder nicht. Und an Montessori-Schulen ist einfach die Organisationsform eine andere. Fasziniert hat mich von Anfang an die Jahrgangsmischung und die Polarisation von Aufmerksamkeit, also das konzentrierte Aufgehen in einer frei gewählten Aufgabe. Auch das Arbeiten auf Augenhöhe kannte ich so nicht oder höchstens aus der Oberstufe meiner eigenen Schulzeit. In der Montessori-Pädagogik ist das durchgängig der Fall. Jeder gute Montessori-Pädagoge, jede -Pädagogin hat eine wertschätzende Haltung den Schülern gegenüber. Als ich das alles kennengelernt habe, konnte ich nur sagen: Ja, so funktioniert Lernen, jedenfalls nach meiner Wahrnehmung. Und diese Art von Lernen sollte möglichst vielen Kindern ermöglicht werden. Damit sie eben nicht das Lernen und den Spaß am Lernen verlernen, wie es an der Schule leider häufig passiert.
News4teachers: Was sorgt denn dafür, dass Kinder das Lernen verlernen?
Borchardt: Lehrpläne, das weiß ich heute, sind definitiv lernfeindlich. Die Art von Druck, die über Noten und Leistungsbewertung ausgeübt wird, ist lernfeindlich. Als meine Kinder zur Schule gingen, war das Schulsystem in Bayern sogar noch leistungsorientierter, es wurde noch mehr gesiebt. Das ist nicht Lernen, wie es eigentlich funktionieren sollte, nämlich hochkonzentriert oder spielerisch, nebenbei und intrinsisch motiviert.
News4teachers: Es geht bei der Montessori-Pädagogik also nicht um spezielle Lernmaterialien, die eingesetzt werden?
Borchardt: Nicht nur. Es gibt natürlich die Montessori-Materialien, aber an den Montessori-Schulen geht es vor allem um die Haltung der Lehrkraft zum Kind und die Art der Beziehung, die entsteht, während sie das Kind bei seiner Entwicklung begleitet.
News4teachers: Sie selbst haben nicht Lehramt studiert, sondern zunächst ein Studium der Medizin begonnen und dann Buchhändler gelernt. Wie sind Sie letztlich hauptberuflich zur Montessori-Pädagogik gekommen?
Borchardt: Meine Kinder haben, wie gesagt, alle eine Montessori-Schule besucht und die Schule meiner ältesten Tochter hat mich damals gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in den Vorstand des Trägervereins einzutreten. Und dann ergab es sich, dass sich die Montessori-Schule damals vergrößern und über die Grundschule hinaus erweitern wollte. Für die neue Mittelschule brauchte es eine professionelle Geschäftsführung, weil ein ehrenamtlicher Vorstand einen so großen Betrieb mit 30 bis 40 Angestellten nicht mehr führen sollte. Gleichzeitig endete meine damalige Partnerschaft in der Buchhandlung unverhofft und es passte, dass ich erstmal aushelfen konnte. Ich dachte mir, ein Jahr lang mache ich das, höchstens, und danach etwas anderes. Aus diesem Jahr wurden damals fast fünf Jahre. Dann kam das Angebot aus Biberkor, also von dem Montessori-Träger, für den ich heute noch tätig bin.
„Mit der Akademie versuchen wir außerdem, permanent über den Tellerrand zu schauen und uns neue Impulse zu holen – für die Akademie wie auch für die Schule.“
News4teachers: Und dort sind Sie bis heute Geschäftsführer?
Borchardt: Ja. Sechs Jahre lang, also von 2004 bis 2010, war ich Geschäftsführer mit einem ehrenamtlichen Vorstand über mir. Das ist für Montessori-Einrichtungen durchaus üblich. Dann wurde eine Vorstands-GmbH gegründet, die zum Vorstand gewählt wurde, und deren Geschäftsführer bin ich seit 2010. Biberkor gehört ja zu den großen Montessori-Einrichtungen in Deutschland. Wir haben 160 Angestellte und unser Schulkonzept umfasst ein Gymnasium, eine Mittelschule und eine Grundschule. Dazu kommt die 2014 gegründete Akademie Biberkor zur Lehrkräfteausbildung und natürlich die Krippen und der Kindergarten. All das hat ein enormes Potenzial, ist aber auch sehr anspruchsvoll, wenn man versucht, den verschiedenen Einrichtungen und allen daran Beteiligten gerecht zu werden. Mit der Akademie versuchen wir außerdem, permanent über den Tellerrand zu schauen und uns neue Impulse zu holen – für die Akademie wie auch für die Schule. Und all das, so herausfordernd es ist, macht mir sehr viel Spaß. Ich habe das Gefühl, etwas Gutes beitragen zu können.
News4teachers: Wie genau sehen Ihre Aufgaben als Geschäftsführer aus?
Borchardt: Ganz grundsätzlich gibt es bei uns an der Schule ein Schulleitungsteam und es gibt uns als Vorstand. Und wir achten die Autonomie der Schule, das heißt, wir greifen niemals direkt in das pädagogische Wirken ein. Wir sprechen auch nicht direkt mit den Lehrkräften, es sei denn, wir werden von der Schulleitung dazu ermächtigt. Aber wir als Vorstand besetzen die Schulleitung. Es ist sozusagen unsere pädagogische Handhabe, dass wir die pädagogische Leitplanung übernehmen und darauf achten, dass die Schulleitung hinter unserem Konzept steht und es auch umsetzt. Also Absprachen sind ganz wichtig. Wir haben ja neben dem Schulleitungsteam noch viele andere Menschen, mit denen wir in regelmäßigem Austausch stehen: die Verwaltung, das Hausmeister-Team, ein Reinigungsteam, die Akademie-Leitung, die Kinderhausleitung, der Elternbeirat und so weiter. Seit fast einem Jahr haben wir außerdem einen Inklusionsbetrieb, unsere Küche. Dort arbeiten erwachsene Menschen mit Behinderung und das ist ein wirklich anspruchsvolles Feld. Und auch hier braucht es viele Absprachen. Und wenn es um Geld geht, ist natürlich immer der Vorstand gefragt. Verträge liegen in unserer Hand. Der ganze kaufmännische Bereich ist ein wirklich großer Bereich. Dann verantworten wir Baumaßnahmen. Wir haben eine 20-Millionen-Baumaßnahme vor der Nase, die finanziert werden muss. Da kommt also einiges zusammen.
News4teachers: Ist Lehrkräftemangel ein Problem, mit dem Sie zu tun haben oder können Sie sich vor Bewerbungen nicht retten?
Borchardt: Nein, Zweiteres kann man so nicht sagen. Aber wir hatten es eigentlich immer recht gut, eben wegen unseres besonderen Konzepts, wegen des wirklich schönen Standortes und auch wegen der Akademie. Aber wir suchen jetzt schon seit einiger Zeit Mathelehrkräfte für das Gymnasium, das ist nicht ganz einfach. Da merken wir den Mangel deutlich. Und wenn plötzlich Lehrkräfte etwa wegen Schwangerschaften wegbrechen, dann ist es für uns sehr schwierig, mitten im Jahr jemanden zu finden. Daher kann man nicht sagen, dass es für uns einfach ist, obwohl wir es noch vergleichsweise gut haben. Ich denke, für unsere vergleichsweise gute Personalsituation spielt auch das Neue Referendariat eine Rolle.
News4teachers: Das müssen Sie erklären. Was ist das Neue Referendariat?
Borchardt: Es ist aus der Erkenntnis heraus entstanden, dass das staatliche Referendariat nicht unbedingt lernförderlich ist. Meine Mutter war Lehrerin und ich habe damals mitbekommen, wie sie in den 70er Jahren ihr Referendariat gemacht hat. Und seitdem hat sich eigentlich nichts geändert. Das staatliche Referendariat ist ein enormer Stress für die jungen Lehramtsanwärterinnen und -anwärter. Und es macht viele richtig kaputt. Manche sind dann vielleicht froh, es geschafft zu haben, weil sie denken, wenn ich das überstanden habe, bin ich bereit für alles. Wir glauben aber, dass es auch anders geht, nämlich wertschätzend, stärkend und so, dass es die Dinge vermittelt, die ein Lehrer wirklich braucht. Und ich glaube, wir haben mit dem neuen Referendariat ein Format entwickelt, das ein gigantisches Potenzial besitzt, auch wenn es nicht staatlich ist. Es zeigt halt: So geht es auch!
„Ich denke, es ist es jederzeit wert, sich voll für die Montessori-Pädagogik einzusetzen. Denn es ist eine Pädagogik des Friedens in der heutigen Zeit.“
News4teachers: Die Montessori-Pädagogik scheint gerade in ganz Deutschland auf dem Vormarsch zu sein, es gibt immer mehr Einrichtungen, das Konzept wird immer bekannter. Haben Sie trotzdem das Gefühl, dass Sie weiterhin mit bestimmten Hürden oder auch Vorurteilen zu kämpfen haben?
Borchardt: Ja. Natürlich etabliert sich die Montessori-Pädagogik immer mehr. Hier in Bayern, in Südbayern, um München herum sowieso, aber auch im Fränkischen, haben Sie sehr starke Spots von Montessori-Pädagogik. Die Bekanntheit nimmt insgesamt zu. Aber es gibt weiterhin Vorurteile wie ‚Da lernt man nichts‘ oder ‚Das sind vor allem Schulen für Behinderte‘. Und manchmal bekommt man das Gefühl, dass es neuerdings gezielte Aktionen gegen die Montessori-Pädagogik gibt. In einem Interview in der Zeitschrift ‚Cicero‘ hat kürzlich jemand behauptet, das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Pisa-Studie sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Montessori-Pädagogik in der ersten Entwicklungsstufe der Kinder so Raum gegriffen und irgendwie die Leistungsfähigkeit untergraben hätte. Also solche Dinge kommen vor. Wir wissen ja, dass beispielsweise die AfD Inklusion ablehnt und abschaffen will und auch von da kommen Widerstände gegen Montessori zum Beispiel über Social Media. Dagegen müssen wir uns wappnen, denn da geht es um viel. Und ich denke, es ist es jederzeit wert, sich voll für die Montessori-Pädagogik einzusetzen. Denn es ist eine Pädagogik des Friedens in der heutigen Zeit.
News4teachers: Das müssen Sie erklären. Warum ist die Montessori-Pädagogik eine Pädagogik des Friedens?
Borchardt: Kinder, die unsere Schulen durchlaufen haben, haben die Vorteile von Kooperation und nicht Wettbewerb erfahren. Sie setzen auf Austausch, auf Schwarmintelligenz. Insofern glaube ich, dass die Montessori-Pädagogik – und Schule überhaupt – einen sehr wichtigen Beitrag liefert, wenn es um das Zusammenleben in unserem Land geht. Das Potenzial ist riesig und wir haben es noch lange nicht ausgeschöpft. Daher gibt es weiterhin jede Menge zu tun. Und das ist auf jeden Fall eine sehr, sehr lohnende und auch eine sehr befriedigende Aufgabe – so stressig sie manchmal ist.
News4teachers: Was empfinden Sie als besonders stressig am Einsatz für die Montessori-Pädagogik? Was würden Sie sich wünschen, dass es anders wäre?
Borchardt: Es gibt einfach keinen fairen Wettbewerb. Schulen in freier Trägerschaft, wie wir eine sind, haben dadurch klare Nachteile. Das geht bei den Abschlussprüfungen los, die wir nicht selbst abnehmen dürfen. Dafür müssen unsere Schülerinnen und Schüler an staatliche Schulen gehen, was ein klarer Nachteil ist. Es geht weiter über die Finanzierung, bei der wir gegenüber staatlichen Schulen erheblich benachteiligt werden, bis hin zu Labels wie ‚Inklusionsschwerpunktschule‘, die wir nicht bekommen können, selbst wenn wir es vorbildlich machen. Früher, so bis vor 15 Jahren, wurden verbeamtete Lehrer für den Privatschuldienst noch freigestellt, unter Fortführung der Bezüge. Das gibt es auch nicht mehr. Uns werden also Lehrkräfte mit dem Versprechen von mehr Sicherheit abgeworben. Das ist kein fairer Wettbewerb.
News4teachers: Sie würden also sagen, Montessori funktioniert, weil Leute dahinterstehen, die dafür kämpfen, nicht, weil es bequem ist.
Borchardt: Nein, es ist nicht bequem. Die meisten Montessori-Schulen gibt es ja, weil sie von Menschen gegründet werden, die irgendwie betroffen sind, also in der Regel Eltern, die etwas anderes für ihre Kinder möchten. Und manchmal fühlt man sich dann ein bisschen wie ein Gallisches Dorf. Aber durch die vielen Kolleginnen und Kollegen, die hier vor Ort sind, haben wir eine gute Gemeinschaft und überlegen gemeinsam, wie wir unsere Schulen und unsere Konzepte weiterentwickeln. Denn Schule ist ja niemals fertig.
Gleichzeitig würde ich mir natürlich wünschen, dass auch von staatlicher Seite eine größere Unterstützung kommt, eine größere Neugier und Offenheit für die ganzen Ansätze. Denn es wäre ja möglich, dass man gegenseitig voneinander lernen könnte.
News4teachers / Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
Zunächst engagierte er sich ehrenamtlich für die Montessori Fördergemeinschaft Weilheim-Schongau, bevor er mit der Gründung einer Geschäftsführung von 1999 bis 2004 deren Geschäftsführer wurde. Seit 2004 ist er Geschäftsführer von Montessori Biberkor e.V. und als solcher Ansprechpartner für Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung, Recht, Pädagogik, Personal, Organisation und Öffentlichkeitsarbeit. Zudem ist Christoph Borchardt Vorstandsmitglied vom Montessori Bundesverband Deutschland e.V. sowie Vorsitzender des Aufsichtsrats der Montessori-Fördergemeinschaft Weilheim-Schongau e.V.
Bildungskrise als Chance: Die Montessori-Bewegung empfiehlt sich als Vorbild