Berlin. Die schulische Digitalisierung in Deutschland leidet nicht nur an einem Umsetzungsdefizit, sondern auch an einem Erkenntnismangel. Darauf verweist das Forum Bildung Digitalisierung mit seiner aktuell veröffentlichten Übersichtsstudie. Zu vielen Aspekten fehle wichtiges Steuerungswissen, fasst Ralph Müller-Eiselt, Vorstand des gemeinnützigen Vereins, zusammen. Über 200 Interessierte versammelten sich zur Online-Vorstellung der Studie, die neben dem Ist-Zustand der digitalen Transformation vor allem damit lockte, Orientierungsimpulse für die Weiterentwicklung zu bieten.
Der „Navigator Bildung Digitalisierung“ (Navigator BD) bietet auf Basis wissenschaftlicher Forschung einen Gesamtüberblick zum Stand der digitalen Transformation in Deutschland, erklärt Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn und wissenschaftliche Leitung des Projekts.
In Kooperation mit Professorin Uta Hauck-Thum von der Ludwig-Maximilians-Universität sowie zwei weiteren Kolleg:innen analysierte Eickelmann dafür die wissenschaftlichen Arbeiten zur Schuldigitalisierung mit Bezug zu Deutschland, die im Zeitraum von Juli 2021 bis Januar 2024 erschienen waren. Ein Vorgehen ähnlich der Hattie-Studie. „Wir hatten nur nicht die Möglichkeit, uns fünf Jahre auf Neuseeland zurückzuziehen. Dafür schreitet die digitale Transformation zu schnell voran.“
Ihre Forschungsarbeit führte das Team zu den folgenden vier Erkenntnissen:
- Vielen der vorliegenden Studien fehlt der Praxistransfer; sie widmen sich lediglich „empirisch einfach(er) zugänglichen Gegenständen zum Beispiel der technischen Ausstattung“.
- In Deutschland existiert kein gemeinsam getragenes Zielbild, „wie sich Rahmenbedingungen, Lernen oder Qualifizierung in der Kultur der Digitalität ändern sollten“.
- Obwohl in Deutschland großer Handlungsbedarf mit Blick auf die Chancengerechtigkeit des Bildungssystems besteht, finden sich damit verbundene Aspekte in nur wenigen Studien mit Digitalisierungsschwerpunkt.
- Es bedarf eines transformationsorientierten Bildungsmonitorings, um den „Fortschritt der digitalen Transformation erfassen und die dynamischen Entwicklungen kontinuierlich bewerten und aufgreifen zu können“.
Von diesem Ist-Stand ausgehend arbeiteten die Wissenschaftler:innen schließlich Ansatzpunkte heraus, um aufzuzeigen, wie sich die digitale Transformation der Schulen in Deutschland voranbringen lässt. Das Ergebnis: 21 Bereiche, in denen Veränderungsprozesse relevant sind, aufgeteilt auf die drei strategischen Handlungsfelder „Haltung zur Kultur der Digitalität“, „Digital-förderliche Rahmenbedingungen“ sowie „Digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung“. Zu den identifizierten Bereichen gehören unter anderem das Kooperations- und Rollenverständnis aller beteiligter Akteure im Bildungsbereich, die Infrastruktur und Ausstattung der Schulen, aber auch die Schulkultur sowie die Qualifizierung von Lehrkräften, Schulleitungen oder Schulaufsichten.
„Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen damit die Diskussion anregen, wie die digitale Transformation der Schulen in Deutschland vorangebracht werden kann“, betont Uta Hauck-Thum, Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik der Ludwig-Maximilians-Universität, bei der Online-Vorstellung des Navigators. Dafür bräuchte es zunächst eine gemeinsame Vision, wie die Schule der Zukunft aussehen soll. Dass der Navigator dabei als Unterstützung dienen kann, zeigte sich in der anschließenden Diskussionsrunde mit Vertretern aus der Praxis.
Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, hat die digitale Transformation seiner Schule bereits vor Jahren angestoßen. Er sieht im Navigator ein „großes Geschenk“, da er Schulen in die Lage versetze, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten. „Die Schulen spüren natürlich einen großen Veränderungsdruck“, so Pallesche. Der Navigator sequenziere den Transformationsprozess in einzelne Bereiche und mache ihn dadurch übersichtlicher. „Die Schulen können sich entscheiden, womit sie beginnen wollen.“ Darüber hinaus biete der Navigator eine Gesprächsbasis, um sich mit weiteren Beteiligten wie der Schulaufsicht auszutauschen.
„Zu lange hat sich die Diskussion auf die technische Infrastruktur fokussiert. Wir brauchen aber keine Digitalisierung um ihrer selbst willen“
Aus Sicht von Torsten Kühne, Staatssekretär für Schulbau und Schuldigitalisierung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, hilft der Navigator besonders zu verstehen, welche weitreichenden Veränderungen mit der Digitalisierung einhergehen. „Der Navigator erweitert den Blick auf die Digitalisierung. Zu lange hat sich die Diskussion auf die technische Infrastruktur fokussiert. Wir brauchen aber keine Digitalisierung um ihrer selbst willen“, so Kühne. Stattdessen sei entscheidend, Lehrkräfte durch Fortbildungsangebote in die Lage zu versetzen, im Unterricht die Chancen zu nutzen, die digitale Bildungsmedien bieten, etwa, um auf die individuellen Lernbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen.
Wie entscheidend gerade dieser Aspekt ist, weiß Gabriel Brommer, der dieses Jahr sein Abitur gemacht hat. Inwiefern Schüler:innen die Gelegenheit erhalten, sich im Unterricht mit digitalen Medien auseinanderzusetzen, ist seiner Erfahrung nach nämlich nicht nur von der Schule abhängig, sondern auch von der einzelnen Lehrkraft. „Einige bilden sich selbst weiter, andere nicht.“ Brommer empfiehlt an dieser Stelle, auch das Potenzial zu sehen, dass die Schüler:innen bieten: Sie könnten mit ihrer technischen Expertise die Lehrkräfte unterstützen.
Dass die digitale Transformation einen gemeinsamen Austausch auf Augenhöhe braucht, an dem auch die Schüler:innen beteiligt sind – darüber waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig. „Ein entscheidender Faktor im Zuge unserer Entwicklung war, die Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, sie zu fragen, wie sie ihre Schule gestalten wollen“, weiß Schulleiter Pallesche zu berichten. Er rät aber auch, sich nicht nur auf interne Ressourcen zu stützen, sondern nach weiterer Unterstützung im Quartiert zu suchen, mit Nachbarschulen oder anderen Akteur:innen zu kooperieren. „Der Navigator bietet eine wunderbare Grundlage, das strukturiert anzugehen.“ Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus
Hier lässt sich der Navigator gratis herunterladen.
KonfBD24: Wie Künstliche Intelligenz die Schule verändern wird (und womöglich sogar gerechter macht)