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Warum das Erziehungsziel “Ehrfurcht vor Gott” nach wie vor Relevanz hat: Plädoyer für einen ganzheitlichen Ansatz von Bildung

AUGSBURG. Der christliche Glaube verliert in Deutschland an Relevanz. Gleichwohl taucht das Bildungsziel „Ehrfurcht vor Gott“ nach wie vor in deutschen Länderverfassungen auf. Der Bildungsforscher Prof. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, plädiert gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Thomas Gottfried im folgenden Gastbeitrag dafür, den Gottesbezug für eine offene Gesellschaft neu zu interpretieren. Er fordert einen „WertePakt Schule“.

“Ehrfurcht vor Gott erweist sich (…) als anthropologisches Merkmal des Menschen.” (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Religion verdunstet, Glaube schwindet, aber Gott bleibt

Die gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Kirchen in Deutschland sinkt, die religiöse Vielfalt unter Jugendlichen nimmt zu – so die Ergebnisse der jüngsten Shell-Studie. Während heute nur noch rund die Hälfte aller Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren einer der beiden christlichen Kirchen angehört (2002 waren es noch zwei Drittel), verdreifachte sich der Anteil muslimischer Jugendlicher von 4 % auf 12 %. Fast ein Drittel der Jugendlichen bekennen sich zu keiner Religionsgemeinschaft.

Dazu passt: Jugendliche vertrauen etwa der Bundesregierung, der EU, Banken und auch den Parteien mehr als den Kirchen, denen das größte Misstrauen entgegengebracht wird (2,4 Punkte vom Höchstwert 5). Dies entspricht den Rekordzahlen an Austritten im Jahr 2022, in dem insgesamt 900.000 Katholiken und Protestanten ihre Kirchen verließen. Doch nicht nur die institutionelle Bindung schwächt sich ab, auch der Glaube an Gott verliert für junge Christen immer weiter an Bedeutung. Während 38 Prozent der römisch-katholischen Jugendlichen heute bekennen, dass ihnen der Gottesglaube wichtig ist, waren dies 2002 noch 51 Prozent. Selbst für christliche Jugendliche hat der Glaube immer weniger Alltagsrelevanz: Bloß 18 Prozent aller Befragten beten mindestens einmal in der Woche, 31 Prozent noch weniger, 49 Prozent nie.

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Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend: Für muslimische Jugendliche ist der Gottesglaube erheblich bedeutsamer als bei katholischen oder evangelischen Jugendlichen – es gibt sogar eine Zunahme von 72 % (2002) auf 79 % (2024). Muslimische Jugendliche seien „nicht nur ‚glaubensfest‘, sie integrieren ihren Glauben auch stärker in ihren Alltag“, heißt es in der Shell-Studie. 37 % der jungen Muslime beten ein- oder mehrmals am Tag, 26 % zumindest ein- oder mehrmals in der Woche, nur 13 % beten nach eigener Auskunft nie.

Dieser gesellschaftlichen Realität, die gekennzeichnet ist von Pluralität und Säkularität, von Individualisierung und Globalisierung, steht die Präambel des Grundgesetzes gegenüber, die formaler Bestandteil der Verfassung und daher rechtlich verbindlich ist: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

In diesem historischen Geist der Stunde Null findet sich in sieben von 16 deutschen Länderverfassungen auch ein Gottesbezug, der meist als oberstes Bildungs- und Erziehungsziel in verschiedenen Formulierungen einen zentraler Teil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der Schulgesetze bildet: „Ehrfurcht vor Gott“ (Bayern; Baden-Württemberg; Nordrhein-Westfalen), „Gottesfurcht“ (Rheinland-Pfalz). Sogar in den Präambeln der Verfassungen von Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt sich das jeweilige Volk im Bewusstsein der überstandenen Diktatur und der friedlichen Wiedervereinigung in „Verantwortung vor Gott“ eine neue Verfassung.

Es ist bezeichnend, dass bisher weder der Gottesbezug aus der Präambel verschwunden noch das entsprechende Bildungsziel eliminiert oder säkularisierend umformuliert wurde. Millionen von Lehrern haben seit Beginn der Bundesrepublik bis zur Gegenwart ihren Amtseid darauf abgelegt. Daraus ergibt sich für die Erziehungswissenschaft der Auftrag, dieses heute vielen so fremdgewordene Bildungsziel gemäß der Intention der Verfassung, aber auch unter Berücksichtigung unserer Zeit in die Gegenwart verständlich zu übersetzen. Was bedeutet das beispielsweise für die Ehrfurcht vor Gott?

Wer ist Gott und was ist Ehrfurcht?

Jeder Mensch ist dazu in der Lage, die Welt und seine eigene Existenz zu reflektieren und zu interpretieren. Auf diesem Weg ist die Einsicht unausweichlich, dass der Mensch eine Grenze seiner selbst ist: Er ist gebunden an Raum und Zeit und seine Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung sind nicht unendlich. So bleiben immerzu und in allen Bereichen des Denkens letzte Fragen, auf die der Mensch keine Antworten hat und auch in Zukunft keine Antworten finden wird.

Allein schon die Frage, warum etwas ist, stellt ihn vor ein unlösbares Problem, das Immanuel Kant mit den Worten umschrieben hat: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Es gibt also etwas Höheres, Größeres, Umfassenderes als den Menschen, das er nicht kennt, aber erahnen kann: Der Grund allen Seins, der dem Leben einen Sinn zu geben vermag. Dieser Grund kann und wird von vielen Menschen als „Gott“ bezeichnet.

Mit dem Begriff „Gott“ kann man folglich jene Wirklichkeit benennen, die sich durch transzendente Unverfügbarkeit, letzte Sinnstiftung und als Fundament einer höheren Ethik auszeichnet. Vor diesem Hintergrund wird der Gottesbezug in den Verfassungen verständlich, den Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem berühmten Diktum formuliert hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Im Gottesbegriff konzentrieren sich alle Voraussetzungen des Staates, aber auch des Lebens, aus denen im Sinne Böckenfördes jene moralische Substanz kommt, die einen gesellschaftlichen Grundkonsens bildet und vor Diktatur und Totalitarismus schützt.

Wie es im Zitat von Immanuel Kant bereits angeklungen ist, führt diese Einsicht des Menschen zu einer Haltung der Ehrfurcht. Ehrfurcht ist in diesem Sinn die menschliche Reaktion auf die Erfahrung all dessen, was sich höher, größer, umfassender als der Mensch zeigt und was in sich einen Grund vereint, den der Mensch trotz Vernunft nicht vollends begreifen kann. Wie bei jeder Haltung, so auch bei der Ehrfurcht, ist sie Gabe und Aufgabe zugleich. Der Mensch muss sich ihrer bewusst sein, um ihren Wert für das Leben zu erkennen. In Zeiten von Egoismus, Selbstdarstellung und Überfluss geht diese Fähigkeit immer weiter zurück. Während Kinder noch stehenbleiben, wenn ein Schmetterling an ihnen vorbeiflattert, haben viele Erwachsene jegliches Interesse und jegliches Staunen gegenüber der Schöpfung bereits verloren. An diesem Beispiel wird auch der zentrale Wert der Ehrfurcht sichtbar: Während Glück die Aufmerksamkeit auf das Individuum lenkt, führt Ehrfurcht vom Einzelnen weg in Richtung Gemeinschaft.

Ehrfurcht vor Gott erweist sich vor diesem Hintergrund als anthropologisches Merkmal des Menschen. Glaube, Religion und Kirche, die in einer naiven, vorschnellen Betrachtung mit einer Ehrfurcht vor Gott vermischt werden, sind damit nicht zwingend verbunden, sondern lediglich äußere Formen der Umsetzung und Vertiefung. Aus diesem Grund ist Ehrfurcht vor Gott nicht gleichbedeutend mit einem konfessionellen Bekenntnis und kann daher auch nicht als übergriffiges Bildungs- und Erziehungsziel verstanden werden. Sie steht nicht nur im Einklang mit weltanschaulicher Neutralität des Staates, sondern fordert diese geradezu, ebenso wie die zentralen Werte unserer Zeit: Ohne Ehrfurcht vor Gott im dargelegten Sinn hat es Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt schwer, wird die Achtung vor religiöser Überzeugung unmöglich, ist Völkerverständigung und Friedenserziehung ein Kampf gegen Windmühlen. Ehrfurcht vor Gott sichert Humanität, Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit.

Ehrfurcht vor Gott als gesellschaftlicher Sprengstoff oder Kitt

Nun hat das Bildungssystem auf den ersten Blick andere Probleme, wie internationale Vergleichsstudien zeigen – übrigens im Durchschnitt weltweit und nicht nur auf Deutschland bezogen: ein Rückgang der Kompetenzen in der Muttersprache, in Mathematik, den Naturwissenschaften und bei Digitalkompetenzen bei gleichzeitiger Zunahme an Cyber-Mobbing, psycho-somatischen Erkrankungen und körperlichen Schäden. Leider folgt die Logik der Bildungspolitik dem Mantra, vor allem dorthin Ressourcen zu geben, wo der Rückgang zu verzeichnen ist: mehr Deutsch, mehr Mathe, mehr Technik. Aber mehr vom Gleichen ohne substanzielle Verbesserungen löst die genannten Probleme nicht, sondern verschärft sie, wie die letzten zehn Jahre zeigen.

Gesellschaftlich betrachtet ist die Misere allerdings noch größer, weil sich seit Jahren ein Auseinanderdriften der Gesellschaft auch in Folge der multiplen Krisen abzeichnet. Diese Polarisierung und Fragmentierung belegt die Shell-Studie 2024 mit gefährlichen Entwicklungen für die westlichen Demokratien. Ein Höhepunkt in diesem Zusammenhang stellt das Ausrufen des Kalifats auf deutschen Straßen dar. Ohne das Bildungssystem an der Stelle überfordern zu wollen, so zeigt sich daran doch, dass die Gottesfrage auch in Zeiten eines Abgesanges auf die Kirchen gesellschaftspolitisch virulent ist und in bestimmten Milieus bedeutsam bleibt.

Bildungspolitik ist vor dem Hintergrund der aktuellen Situation gut beraten, nicht weiter unreflektiert am Digitalisierungsrad zu drehen und beispielsweise Künstliche Intelligenz zum „Ersatzgott“ zu erklären. Schulen sind seit Jahren notorisch mit Aufgaben überfrachtet, die dem Zeitgeist folgen, aber nicht den Kern von Bildung berühren. Der Bildungs- und Erziehungsauftrag erinnert stets daran, dass der Mensch mit all seinen Dimensionen und Möglichkeiten anzusprechen ist. Schule hat daher die Aufgabe, den Gedankenkreis der jungen Menschen zu erweitern, ihnen das anzubieten, was sie eben nicht tagtäglich und rund um die Uhr haben.

Diese ganzheitliche Ansatz von Bildung ist Ausgangspunkt des Humanismus und wird aktuell in der Theorie der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner sichtbar: Der Mensch ist mehr als das, was klassische Intelligenztests messen. Er hat auch eine emotionale, motivationale, motorische, künstlerische, musische und nicht zuletzt spirituelle Intelligenz. Gelingt es dem Bildungssystem, gerade bei der Förderung all dieser Intelligenzen einen Beitrag zu leisten, dann kann Ehrfurcht vor Gott zum Kitt einer sich neu zu definierenden Gesellschaft werden. Dabei wird auch zu diskutieren und zu entscheiden sein, welche Religionen auf den Wertefundament des Grundgesetzes stehen und welche nicht. Letztere dürfen im Bildungssystem keinen Platz haben. Nicht ein DigitalPakt 2.0 führt in diesem Sinn aus der Bildungskrise, sondern eine Rückbesinnung auf den Humanismus und daher ein WertePakt 1.0. News4teachers

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