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Corona-Bilanz: Das Märchen von den nicht ansteckenden Kindern wirkt bis heute

BERLIN. Die Pandemie ist als Gesundheitsnotstand vorbei, die Einschränkungen sind Geschichte, aber junge Menschen spüren noch immer die Folgen der Corona-Politik. Wie blicken Lehrkräfte, Ärzte und Forscher heute – fünf Jahre nach Ausbruch – auf diese Zeit? Deutlich wird: Die damals verbreiteten falschen Narrative («Schulen sind keine Treiber der Pandemie») wirken noch immer.

Bis heute wird verdrängt, dass das Coronavirus massiv auch über Kitas und Schulen verbreitet wurde. Illustration: Shuttrstock

Zum Jahreswechsel vor fünf Jahren breitete sich in China ein Virus aus, das später die ganze Welt in Atem hielt. Die Folgen sind bis heute zu spüren. Das Coronavirus hat nicht nur Tote und dauerhaft Erkrankte auf dem Gewissen: Die Schutzmaßnahmen dieser Zeit belasteten auch jene, an denen die Krankheit vorbeizog. Besonders stark beeinträchtigten die Auflagen die Jüngsten, daran lassen Studien und Expertenmeinungen keinen Zweifel.

Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) etwa belegt, dass sich durch Corona mentale Gesundheit, körperliche Aktivität und das allgemeine Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verschlechtert haben. Die Befunde basieren auf Studien und Daten der repräsentativen COMPASS-Panelbefragung.

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Während der Pandemie kam es demzufolge zu einem deutlichen Anstieg von Angstsymptomen und Depressionen bei Heranwachsenden. Vor allem in der Pubertät nahm die Häufigkeit deutlich zu. Die tägliche Bewegungszeit sank im Durchschnitt um 48 Minuten. «Eine Normalisierung lässt sich bis heute nicht feststellen», heißt es in dem Bericht.

«Die mentale und körperliche Gesundheit junger Menschen hat während der Pandemie stark gelitten und sich nur teilweise erholt», fasste Helena Ludwig-Walz die Ergebnisse zusammen. «Es ist von besonderer Bedeutung, die mentale Gesundheit und das Bewegungsverhalten junger Menschen wieder gezielt zu fördern, um langfristigen negativen Auswirkungen entgegenzuwirken.»

Fünf Jahre nach dem Entstehen des Virus sind auch für Kinderarzt Ralf Moebus die negativen Folgen der Corona-Politik offensichtlich. «Das Thema treibt uns alle ziemlich um», sagt der hessische Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ).

Viele Kinder seien in ihrer körperlichen Entwicklung zurück, könnten zum Beispiel weniger hüpfen oder schlechter basteln. Mehr Kinder seien übergewichtig. Am meisten Sorgen machen ihm und seinen Kollegen die Jahrgänge, die während der stärksten Einschränkungen zwischen 10 und 14 Jahre alt waren. In dieser Generation seien die Defizite am schwersten aufzuholen.

«Man hat die Kinder auch dann noch weggesperrt, als geimpfte Rentner schon lange wieder munter unterwegs waren»

Wie kann man den Kindern helfen? In der Kinderarztpraxis sei das kaum möglich, sagt Moebus. Viele Patienten müssten er und seine Kollegen an Psychiater oder Psychologen verweisen, «aber die Wartezeiten sind völlig indiskutabel». Was die körperlichen Defizite betrifft, würde sich Moebus «ein Rezept für Bewegung» wünschen, vielleicht auch für Theaterbesuche oder Musik. «Mein dringlichster Wunsch wäre eine vernünftige Gesundheitserziehung in der Schule.»

Rückblickend sagt er klar: «Damals wurden viele Fehler gemacht.» Das anfängliche Argument, Kinder würden das Virus verbreiten, habe sich bald als falsch herausgestellt. Aber niemand habe darauf reagiert: «Man hat die Kinder auch dann noch weggesperrt, als geimpfte Rentner schon lange wieder munter unterwegs waren.»

Damit verbreitet Moebus bis heute eine Falschinformation, die der BVKJ schon zu Beginn der Pandemie vertrat (welche die Kultusministerinnen und Kultusminister dann umgehend übernahmen, wie News4teachers berichtete) – und die bis heute wirkt.

In einem gemeinsamen «Spiegel»-Interview mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), das vom Ministerium auf seiner Homepage verbreitet wird, stellt der Virologe Prof. Christian Drosten klar: «Die Wissenschaft zu diesem Thema ist seit zweieinhalb Jahren klar. Schon 2020 sah man in England, dass Kinder so häufig wie Erwachsene infiziert sind. Noch früher hatten wir unsere Viruslaststudie gemacht…», mit der er im April 2020 gezeigt hatte, dass Kinder ähnlich viel Virus im Rachen tragen wie Erwachsene. Drosten: «Über diese Studie wurde damals zwar viel Unsinn geschrieben, aber wir haben einfach weitergemacht mit unserer Wissenschaft und die Studie später in »Science« publiziert. Die ist jetzt ein internationaler Meilenstein, und ihr Ergebnis unterdessen vielfach bestätigt worden.»

Lauterbach dazu: «Psychologen, Pädagogen und Kinderinfektiologen haben vor allem gesagt, dass die Schulschließungen keinen Sinn ergäben, weil die Kinder nicht ansteckend seien. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemand da hingestellt und gesagt hätte: Ja, wir werden viele Infektionen an der Schule haben, aber das können wir kompensieren, indem wir stärker auf digitales Lernen, Abstand, Wechselunterricht und Luftfilter setzen. Die Stimmen, die eine Ansteckungsgefahr durch Kinder anerkannt haben und sich trotzdem gegen Schulschließungen ausgesprochen haben, waren nicht laut genug.»

«Die Schulschließungen werden inzwischen ganz überwiegend kritisch bewertet»

Trotzdem sieht auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) heute offenbar vieles anders als damals. «Die Schulschließungen werden inzwischen ganz überwiegend kritisch bewertet», fasst Thilo Hartmann, Vorsitzender der GEW Hessen das Stimmungsbild bei hessischen Lehrerinnen und Lehrern zusammen. Zwar habe zu Beginn der Pandemie für die meisten der Infektionsschutz Priorität gehabt. «Zu Recht wird aber kritisiert, dass Kinder und Jugendliche sehr viele Entbehrungen tragen mussten, während anderen weniger weitreichende Einschränkungen zugemutet wurden.»

Zu den «nachhaltigen Folgen der Coronapandemie» zählen inhaltliche Schwächen – etwa beim Rechtschreiben oder in den Fächern, bei denen viel Stoff wegfiel. Die Lehrkräfte sehen aber auch Veränderungen: Die Kinder könnten sich tendenziell schlechter konzentrieren und Stress schlechter regulieren als vor der Pandemie. Mehr Kinder zeigten sozial unangepasstes Verhalten oder Anzeichen von psychischen Belastungen.

«Letztendlich ist es aber nicht möglich, diese Beobachtungen eindeutig auf die Coronapandemie zurückzuführen», schränkt Hartmann ein. Es könnte zum Beispiel auch daran liegen, dass Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit am Bildschirm verbringen, dadurch mehr mit problematischen Inhalten in Kontakt kommen, sich zu wenig bewegen und reale Kontakte einschränken.

Allerdings hängt auch das wieder mit Corona zusammen – denn viele Familien haben in dieser Zeit technisch aufgerüstet, die Kinder sich an lange Bildschirmzeiten gewöhnt.

Aus Sicht der GEW waren es die mittleren Jahrgänge, die es am härtesten traf: «Die Klassen sieben, acht und neun waren am längsten ganz vom Präsenzunterricht ausgeschlossen, zumeist über mehrere Monate», so Hartmann. «Daher haben sich hier die größten Lernrückstände aufgebaut.»

«Es gab ein viel zu geringes Interesse, irgendetwas für die Kinder zu machen»

«Gerade im Alter der Pubertät war dieser lange Ausschluss vom Präsenzunterricht auch für die Persönlichkeitsentwicklung und die psychische Gesundheit problematisch», sagte der GEW-Vorsitzende. Dass die Defizite nach dem Ende der Maßnahmen nicht aufgeholt werden konnten, begründet die GEW mit dem allgemeinen Lehrkräftemangel.

Lauterbachs Fazit: «Es gab ein viel zu geringes Interesse, irgendetwas für die Kinder zu machen. Ich war damals leider noch nicht Minister, aber ich habe viele Vorschläge unterbreitet, um den Kindern zu helfen: Luftfilteranlagen, Wechselunterricht, kombinatorisches PCR-Testen – und einen qualitativ absolut hochwertigen Digitalunterricht. Für den hätten wir viel Geld zur Verfügung stellen müssen. Wenn die Inzidenz trotzdem hoch geblieben wäre, hätten wir auch Betriebsschließungen machen können. So sehe ich es zumindest im Rückblick.»

Diese differenzierte Sicht ist allerdings die Ausnahme. Befeuert durch Kinderärzte und Boulevard-Medien gilt es heute als falsch, die Schulen ohne weitere Bedingungen nicht einfach offen gelassen zu haben. So bezeichnete auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die «harten» Schulschließungen während der Pandemie unlängst als Fehler – und nicht die Tatsache, dass in Schutzmaßnahmen in Schulen schlicht zu wenig investiert wurde. Zur Erinnerung: Billige Masken und offene Fenster auch im Winter galten praktisch als ausreichend.

Lauterbach betont: «Das Verdrehen von Tatsachen hat in der Pandemie erheblichen Schaden ausgelöst.» Und, so bleibt zu ergänzen, würde in einer nächsten Pademie wohl zu noch mehr Unheil führen. News4teachers / mit Material der dpa

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: Wie die Kultusminister in der Corona-Krise abgetaucht sind – eine Bilanz

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