FRIEDLAND. Zwei Lehrerinnen kehren dem klassischen Schulsystem den Rücken und gründen in Friedland, Mecklenburg-Vorpommern, eine Freie Demokratische Schule. Statt auf Frontalunterricht und Notendruck setzen sie auf selbstbestimmtes Lernen und Mitbestimmung. News4teachers hat mit den Gründerinnen, Peggy Kaminski und Kerstin Baumgartner, gesprochen – über Motivation, Zweifel und die Kraft pädagogischer Visionen.
News4teachers: Mit welcher Motivation sind Sie Lehrerinnen geworden?
Kerstin Baumgartner: Ich wollte eigentlich nicht von vornherein Lehrerin werden. Nach der zehnten Klasse habe ich einen Lehrberuf gelernt, dann das Abitur gemacht. Anschließend stand die Entscheidung an: Was mache ich? Ich habe mich für den Beruf der Grundschullehrerin entschieden, weil es mich schon immer gereizt hat, mit Kindern zu arbeiten und ihnen etwas beizubringen. An der Grundschule habe ich bisher alles unterrichtet: Deutsch, Mathe, Sachunterricht, Musik und Religion – das sind auch meine Ausbildungsfächer. Als Grundschullehrer unterrichtet man aber auch andere Fächer, zum Beispiel Werken oder Kunst in Vertretung.
Peggy Kaminski: Ich wollte Kindern und Jugendlichen etwas beibringen und sie aufs Leben vorbereiten. Gleichzeitig wollte ich ihnen zeigen, dass unsere Welt voller Rätsel steckt, die man gemeinsam lösen kann. Als es dann um die Studienwahl ging, habe ich mich für Deutsch und Geografie entschieden. Geografie war mein Steckenpferd – ich wollte mehr über die Welt erfahren und bin auch gern gereist. Diese Begeisterung wollte ich an Kinder und Jugendliche weitergeben. Meine Leidenschaft für die deutsche Sprache kam später dazu. Es steckt so viel darin: Dichter, Denker, Geschichte. Ich bin Studienrätin und war bereits an mehreren Gymnasien und Gesamtschulen tätig. Zurzeit unterrichte ich an einer Grundschule in meinem Wohnort, weil es hier Bedarf gab.
„Das hat mich frustriert, weil ich den Eindruck hatte, die natürliche Neugier der Kinder zu ersticken.“
News4teachers: Sie arbeiten beide an derselben Grundschule. Wie entstand die Idee, eine Privatschule zu gründen?
Baumgartner: Ich arbeite erst seit anderthalb Jahren an dieser Schule. Vorher war ich schon an vielen verschiedenen Schulen tätig, darunter auch an zwei freien Schulen. Dort habe ich unterschiedliche Konzepte kennengelernt. Peggy hat sich schon länger mit dem Gedanken beschäftigt, selbst eine Schule zu gründen. Irgendwann hat sie mich angesprochen und überzeugt, dass das Konzept einer Freien Demokratischen Schule hier vielleicht gebraucht wird. Es ist eine neue Form des Lernens.
Kaminski: Mein großes Umdenken setzte ein, als ich an die Grundschule wechselte. Kinder in diesem Alter sind so unverstellt und ehrlich. Sie sagen einem direkt, wenn ein Thema sie nicht interessiert oder wenn sie andere Dinge lieber lernen möchten. Oft habe ich mich dabei ertappt, wie ich dachte: „Ich würde jetzt lieber Zollstöcke rausholen und draußen Bäume oder Parkplätze vermessen.“ Aber stattdessen musste ich sagen: „Es tut mir leid, wir müssen jetzt Märchen lesen.“ Das hat mich frustriert, weil ich den Eindruck hatte, die natürliche Neugier der Kinder zu ersticken. Gespräche mit Schülern und Eltern, die ebenfalls unzufrieden mit dem System waren, haben diese Gedanken noch verstärkt. Schließlich habe ich mich umgesehen, wie es andere machen, und bin auf das Prinzip der Demokratischen Schule gestoßen.
Etwa zu dieser Zeit kam Kerstin an unsere Schule, und menschlich hat es sofort gepasst. Wir haben uns viel ausgetauscht und Nach und nach rückte das Thema Schulgründung immer mehr in den Fokus. Im März 2024 sind wir dann mit der Idee nach außen getreten.
News4teachers: Kommen wir zum neuen Schulkonzept. Wie unterscheidet sich die Freie Demokratische Schule Friedland von anderen Schulen?
Baumgartner: Bei uns lernen die Kinder und Jugendlichen altersgemischt. Das bedeutet, dass Schüler*innen von der ersten bis zur zehnten Klasse miteinander lernen. Wir starten mit Schüler*innen der ersten bis siebten Klasse. Die Kinder und Jugendlichen suchen sich ihre Lernpartner oder Lerngruppen selbst aus. Die Jüngeren können von den Älteren lernen, und es wird viel gemeinschaftlich gearbeitet.
Ein weiterer Unterschied ist, dass es bei uns keine Noten gibt. Das Ziel ist, dass die Kinder selbst die Welt entdecken und das lernen, was für sie gerade wichtig ist. Außerdem haben wir eine Schulversammlung, in der alles besprochen wird, was für die Gemeinschaft relevant ist – von Regeln bis hin zu Projekten.
Kaminski: Die Kinder und Jugendlichen haben ihren Lernprozess bei uns selbst in der Hand. Sie entscheiden, wann, wo und mit wem sie lernen möchten. Es gibt einen Kursplan, in dem wir Kurse anbieten – das können wir als Lehrkräfte, externe Expert*innen oder auch die Kinder selbst sein. Die Schüler*innen gestalten die Schule aktiv mit – sei es bei der Auswahl der Kurse, der Planung von Projekten oder bei organisatorischen Entscheidungen, wie der Ausstattung der Schule oder der Planung von Ausflügen. Sie lernen auch, Verantwortung zu übernehmen: Für ihre eigenen Ideen, für Finanzen, und für die Umsetzung ihrer Projekte.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen und Institutionen. Wir möchten, dass die Kinder und Jugendlichen frühzeitig Einblicke in die Praxis erhalten. Wenn ein Schüler zum Beispiel sagt: „Ich möchte gern mit Holz arbeiten“, dann suchen wir einen Betrieb, der ihm das ermöglicht. Oder wir laden Handwerker in die Schule ein, um Workshops zu geben.
Unser Ziel ist es, praktisches Lernen mit Eigenverantwortung zu verbinden. Die Kinder sollen die Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen, unterstützt von uns Erwachsenen. Ich glaube fest daran, dass wir unseren Kindern mehr zutrauen können. Sie haben schließlich auch gelernt, zu sprechen, zu laufen und zu hüpfen – warum sollten sie den Rest der Welt nicht ebenfalls entdecken und verstehen können?
„Unser Ansatz ist, Demokratie in der Schule wirklich zu leben.“
News4teachers: Liegt der Schule ein bestimmtes pädagogisches Konzept zugrunde?
Kaminski: Wir sind nicht festgelegt auf ein bestimmtes Konzept. Wir möchten offen bleiben, weil Kinder und Jugendliche auf unterschiedliche Arten lernen. Manche lernen gut im Selbststudium, andere profitieren von der Zusammenarbeit mit Älteren oder durch Kurse. Unser Ansatz ist, Demokratie in der Schule wirklich zu leben. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler bei uns mitbestimmen. Es gibt zum Beispiel ein Justizgremium, das aus Schülern besteht. Dieses Gremium entscheidet über Konsequenzen bei Regelverstößen. Solche Regeln entstehen in der Schulgemeinschaft, und die Kinder und Jugendlichen übernehmen Verantwortung dafür.
News4teachers: Wie stehen Ihre Kolleginnen und Kollegen an der Grundschule zur Schulgründung?
Baumgartner: Da gibt es tatsächlich alles. Von Neugier bis hin zu neutralem Beobachten. Einige wünschen uns Glück, andere sind traurig darüber, dass wir die hiesige Grundschule verlassen.
Kaminski: Der engste Kreis fragt oft, ob wir verrückt seien. Lehrkräfte würden doch überall gebraucht werden. Viele Freund*innen und Kolleg*innen sind von unserem Projekt begeistert und einige möchten sich uns am liebsten anschließen. Eine meiner ehemaligen Kommilitoninnen aus dem Studium denkt auch darüber nach, eine Privatschule zu gründen. Wir sind also auch Inspiration für Andere.
News4teachers: Welche Hürden gab es auf dem Weg zur neuen Schule und welche positiven Erfahrungen haben Sie gemacht?
Kaminski: Friedland ist ein kleiner Ort mit 8.000 Einwohnern. Die Leute waren begeistert, dass es plötzlich eine neue Wahlmöglichkeit geben würde. Hier gibt es nur zwei staatliche Schulen, eine Grundschule und eine weiterführende Schule. Viele wollten ihr Kind sofort an unserer Schule anmelden, aber es war uns wichtig, dass sie erst einmal unser Konzept verstehen. Demokratisches Lernen ist schließlich etwas völlig anderes als das, was man aus dem klassischen Schulsystem kennt.
Die Hürden waren vielfältig. Wir mussten ein umfangreiches Konzept schreiben, um es dem Bildungsministerium vorzulegen. Alle Entscheidungen müssen vom Ministerium abgesegnet werden. Gleichzeitig wurden wir immer wieder mit Klischees konfrontiert: „An so einer Schule kann doch jeder machen, was er will. Da gibt es keine Regeln, das ist Laissez-faire.“
Wir begegnen diesen Vorurteilen offen, führen Gespräche und setzen auf maximale Transparenz. Regelmäßig veranstalten wir Infoabende, bei denen wir erklären, wie unsere Schule funktioniert.
Hinzu kommt der finanzielle Aspekt. Mecklenburg-Vorpommern gibt keine finanzielle Unterstützung für die ersten drei Jahre. Das bedeutet, dass wir die Finanzierung selbst stemmen müssen. Zum Teil machen wir das über Elternbeiträge, aber wir suchen auch Investoren, die an innovativen Konzepten interessiert sind.
News4teachers: Was muss alles beachtet werden, wenn man eine Privatschule gründen möchte?
Baumgartner: Man braucht ein Konzept. Dann natürlich ein Gebäude oder zumindest einen Platz, wo das Gebäude entstehen kann. Und man braucht genügend Geld, um in Vorleistung zu gehen, damit alles den Anforderungen einer Schule entspricht.
Kaminski: Personal ist ebenfalls ein wichtiger Punkt. Außerdem braucht man einen Finanzplan, der für die ersten drei Jahre stehen muss. Das Ministerium möchte sehen, wie wir uns finanziell aufstellen und wie die Abschlüsse der Schüler*innen gestaltet werden.
Darüber hinaus gibt es natürlich die klassischen Anforderungen: Brandschutz, Hygiene, Gesundheitsauflagen. Das Konzept muss klar und schlüssig sein und auch räumlich muss alles den Vorgaben entsprechen.
News4teachers: Haben Sie auch Ängste, was die Schulgründung angeht?
Kaminski: Ängste sind natürlich da. Vor allem die finanzielle Frage. Es ist ja immer die Unsicherheit, ob alles so läuft, wie wir es uns vorstellen. Aber ich habe festgestellt, dass in solchen Momenten immer etwas passiert, das uns wieder Mut macht. Manchmal kommt Kerstin mit einer Idee um die Ecke, die mich überzeugt. Oder wir erhalten eine E-Mail oder eine Rückmeldung, die uns zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich glaube fest daran, dass man ein Ziel erreichen kann, wenn man sich wirklich darauf konzentriert und daran arbeitet.
„Wir bauen diese Schule gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen auf.“
News4teachers: Was bedeutet für Sie persönlich Zufriedenheit im Job und insbesondere im schulischen Alltag?
Baumgartner: Zufriedenheit bedeutet für mich, dass es sowohl den Schülerinnen und Schülern als auch den Lehrkräften gleichermaßen gut geht. Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen gerne zur Schule kommen und wissbegierig bleiben. Genauso entscheidend ist, dass die Lehrkräfte Freude an ihrer Arbeit mit den Kindern haben, motiviert bleiben und die Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern als Bereicherung empfinden.
In staatlichen Schulen wird das leider immer schwieriger. Deshalb freue ich mich schon sehr auf unser Projekt, weil wir dort ganz anders arbeiten werden. Wir Lehrer stehen nicht einfach vorne und geben vor, was die Kinder tun sollen. Stattdessen lernen wir gemeinsam mit ihnen und entwickeln uns selbst dabei weiter. Wir bauen diese Schule gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen auf, und das ist eine ganz neue Art des Zusammenarbeitens.
Kaminski: Ein Vorteil, den wir durch die Schulgründung haben, ist, dass die Kinder, die zu uns kommen, wirklich dorthin kommen wollen. Sie wissen, dass sie bei uns Freiräume haben, die jedoch in einem klaren Regelrahmen gestaltet sind, der für alle gilt. Unser Konzept ist demokratisch: Jedes Kind, egal wie alt es ist oder wie lange es schon dabei ist, hat eine Stimme und kann bei allen schulischen Themen mitentscheiden. Es darf eigene Anliegen einbringen und diese der Gemeinschaft vorstellen.
Unser Ziel ist es, die Schule zu einem Lernort für die Kinder zu machen – nicht zu einem Lernort, den wir gestalten und in den wir sie hineinpressen wie ein Plätzchen in eine Form. Die Kinder sollen ihren Lernort mitgestalten, sodass sie gestärkt und gut vorbereitet für das Leben daraus hervorgehen. Das macht mich froh und stolz.
News4teachers: Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Baumgartner: Dass wir am 1. August starten können und in drei bis vier Jahren sagen: „Das war die richtige Entscheidung.“
Kaminski: Ich wünsche mir eine Bildung, die kindgerechter ist und das Kind in den Mittelpunkt stellt – nicht die abstrakten Interessen eines Systems. Bildung sollte einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft haben, und Kinder sollten eine stärkere Lobby bekommen. Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus führte das Interview.
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