MÜNCHEN. Es braucht mehr Verbindlichkeit im deutschen Bildungssystem. Das fordert der Aktionsrat Bildung in seinem aktuell veröffentlichten Gutachten. Das dort formulierte Ziel: mehr Bildungsqualität. Dafür rät das wissenschaftliche Gremium aus renommierten Bildungsforscher*innen unter anderem zu verbindlichen Qualitätsstandards und regelmäßigen Kompetenzerhebungen. Steht damit auch die Wirksamkeit des Unterrichts auf dem Prüfstand?
Die veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft erklärt laut dem Aktionsrat Bildung maximal zur Hälfte die zuletzt schlechteren Leistungen der Schüler*innen in Deutschland im Rahmen der Pisa-Studie. Daneben, so das Gremium in seinem Gutachten, habe der Fokus nicht ausreichend auf der Förderung von Kernkompetenzen gelegen. Zudem sei der Unterricht nicht an die unterschiedlichen Lernausgangslagen angepasst worden.
Auch trügen veränderte Erziehungspraktiken dazu bei, dass die Selbststeuerungskompetenz der Kinder unterentwickelt bleibe, heißt es in dem Papier. Nicht zuletzt seien die Leistungsstandards besonders beim Abitur enorm abgesenkt worden und die Vergleichbarkeit von Abschlüssen bundesweit nicht gegeben, sodass bei den Jugendlichen auch aufgrund vieler offener Ausbildungsstellen der Eindruck entstehen könne, sich nicht anstrengen zu müssen.
Mehr Eigenverantwortung für den Lernprozess
Aus diesen Gründen sei mehr Verbindlichkeit im gesamten Bildungssystem nötig, schlussfolgert der Aktionsrat. Vom Staat über Bildungsinstitutionen bis zum Einzelnen müsse jedem Akteur klar sein, welche Pflichten er zu erfüllen habe und wann welche Anstrengung erforderlich sei. Jugendliche, Eltern und sowie Lehrerinnen und Lehrer müssten mehr Verantwortung für den Lernprozess und die Leistung übernehmen, betont Wolfram Hatz, Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), die den Aktionsrat vor 20 Jahren initiiert hat. «Leistungswille und Leistungsfähigkeit müssen wieder mehr in den Köpfen aller verankert werden.»
Klartext sei deutlich zielführender als freundliche Unverbindlichkeit, so Hatz. „Denn das Problem mit der Unverbindlichkeit ist, dass sie zu vieles offen lässt und sie keine Transparenz schafft über Erfolge und Misserfolge. Darum brauchen wir für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit unseres Standortes zwingendermaßen Verbindlichkeit.“ In diesem Sinne hat der Aktionsrat Bildung zehn Handlungsempfehlungen erarbeitet. Diese richten sich an alle Akteur*innen im Bildungsbereich, sowohl an die auf staatlicher als auch auf institutioneller sowie individueller Ebene.
Dem Staat rät das wissenschaftliche Gremium beispielsweise, Qualitätsstandards für die Bildung verbindlich zu formulieren und die Bildungsleistungen der Schüler*innen kontinuierlich zu messen. Diese Daten sollen wiederum dem pädagogischen Personal, aber auch der Schulaufsicht zur Verfügung stehen. Bei den Schulleitungen verorten die Expert*innen die Verantwortung, das Monitoring-Wissen „verlässlich für die Steigerung der Bildungsqualität“ einzusetzen. Die Lehrenden wiederum sollen die Daten einerseits nutzen, um ihre Schüler*innen individuell zu fördern, andererseits aber auch, um die eigenen Kompetenzen kontinuierlich weiterzuentwickeln.
Feste Standards, regelmäßige Kompetenzüberprüfungen – versteckt sich hinter dieser Empfehlung etwa auch der Versuch, neben den Schülerleistungen die der Lehrkräfte zu messen? Ganz unbegründet scheint diese Vermutung nicht, arbeitet der Aktionsrat doch auch unter der Hypothese, dass in der Vergangenheit die Empfehlungen zur Verbesserung der Schülerleistungen im deutschen Bildungswesen nicht in ausreichendem Maß umgesetzt wurden. Im Gutachten stellt das Gremium die Frage: „Haben eigentlich alle Handlungsträgerinnen und Handlungsträger beim Versuch der Verbesserung ihre Pflicht getan, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Erziehungsberechtigte, der Staat und vor allem die Lernenden selbst?“
Grundschulzeit und Übertritt flexibilisieren
Zusätzlich zur höheren Verbindlichkeit fordert der Aktionsrat Bildung eine Flexibilisierung der einzelnen Bildungsphasen – samt des Übertritts von der Grundschule zur weiterführenden Schule. «Indem wir Lernzeiten flexibilisieren, können wir auf unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten besser eingehen», erläutert vbw-Präsident Hatz. So könne sichergestellt werden, dass der Nachwuchs ein grundlegendes Kompetenzniveau erreiche. «Wir können es uns nicht leisten, dass Kinder und Jugendliche im Bildungssystem den Anschluss verlieren», betont Hatz mit Blick auf den Fachkräftemangel.
Die Bildungsfachleute im Aktionsrat fordern deshalb, die flexible Eingangsphase in der ersten und zweiten Klasse, die es in einigen Bundesländern bereits gibt, auf die gesamte Grundschulzeit auszudehnen. Dabei werden Kinder der ersten und zweiten Jahrgangsstufe gemischt unterrichtet und können unterschiedlich lang in der Phase bleiben.
Auch müsse es in begründeten Einzelfällen möglich sein, dass ein Kind länger in der Grundschule bleibe, bis es dann an eine adäquate weiterführende Schule wechseln könne, rät das Expertengremium. In den weiterführenden Schulen müsse es ebenfalls eine Flexibilisierung sowohl der Gesamtdauer der Sekundarstufe als auch der Fördermöglichkeiten im Tagesablauf geben. News4teachers / mit Material der dpa
Mit seinen zehn Handlungsempfehlungen richtet sich der Aktionsrat Bildung an alle Akteur*innen auf staatlicher, institutioneller sowie individueller Ebene:
Staatliche Ebene
- „Wiederaufnahme des PISA-Bundesländervergleichs. Um die Bildungsleistungen in den einzelnen Bundesländern kontinuierlich, transparent und öffentlichkeitswirksam abzubilden, sollte der PISA-Bundesländervergleich wieder aufgenommen werden.
- Verbindliche Qualitätsstandards und Monitoring der Lernleistungen. Grundlegende Qualitätsstandards müssen verbindlich formuliert und „Output“ (Bildungsleistungen) wie auch „Input“ (z. B. Verfügbarkeit von Ressourcen zur Unterrichtsversorgung) kontinuierlich gemessen werden. Die Daten zu den Lernleistungen müssen auf Individualebene dem pädagogischen Personal, der Schulaufsicht sowie den Eltern beziehungsweise dem Familiensystem zur Verfügung gestellt werden. Das Input-Monitoring muss auf System- und institutioneller Ebene zur Verbesserung der Steuerung genutzt werden.
- Ausdehnung und Flexibilisierung der Lernzeiten. Als Anpassungsoption an unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten bedarf es der Einführung von horizontalen Gesamtdauer der Bildungsgänge) und vertikalen (erweiterte Fördermöglichkeiten im Tagesablauf) Flexibilisierungsoptionen in den einzelnen Bildungsphasen.
- Fachkräftegewinnung und Personalentwicklung. Die Länder sind aufgefordert, verbindliche Strategien und Pläne vorzulegen, umzusetzen und auch zu evaluieren, um für alle Bildungsphasen ausreichend pädagogisches Personal zur Verfügung zu stellen.
- Implementierung von gezielten Förderprogrammen. Für Einrichtungen, die einen hohen Anteil an Lernenden mit niedrigen Basiskompetenzen aufweisen, sowie bei signifikant heterogenen Ausgangslagen der Lernenden sollen gezielte Förderprogramme implementiert, weiterentwickelt, regelmäßig evaluiert und in eine systematische Organisationsentwicklung eingebettet werden.“
Institutionelle Ebene
- „Nutzung der Monitoring-Ergebnisse zur Steigerung der Bildungsqualität. Das Leitungspersonal von Bildungsinstitutionen muss die Verantwortung dafür übernehmen und regelhaft sicherstellen, dass das auf Institutionenebene zur Verfügung gestellte Monitoring-Wissen verlässlich für die Steigerung der Bildungsqualität eingesetzt wird.
- Diversifizierung und Fortbildung des pädagogischen Personals. In Bildungseinrichtungen sollen die spezialisierten Aufgabenbereiche der unterschiedlichen pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Berufe, die sich in den multiprofessionellen Teams wiederfinden, klarer beschrieben werden. Das Personal soll zudem zu regelmäßigen Fortbildungen verpflichtet werden.“
Individuelle Ebene
- „Stärkung des eigenverantwortlichen Lernens. Eltern beziehungsweise Familien und das pädagogische Personal sollen Kinder und Jugendliche in der Entwicklung von mehr Eigenverantwortung für ihr Lernen unterstützen. Mit steigendem Lebensalter der Lernenden ist zunehmend eine stärkere Eigenverantwortung bei der Gestaltung der Bildungsbiografien einzufordern.
- Systematische Einbindung von Familien bei individuellem Förderbedarf. Im Falle von Kindern und Jugendlichen, die einen besonderen Förderbedarf aufweisen, sind die Eltern beziehungsweise Familien von Anfang an systematisch in die Umsetzung und Begleitung von Fördermaßnahmen einzubeziehen.
- Nutzung von Monitoring-Ergebnissen für die Kompetenzsteigerung von Lehrenden und Lernenden. Das pädagogische Personal muss Sorge dafür tragen, dass Monitoring-Ergebnisse zur individuellen Förderung der Lernenden und damit zur Steigerung der Bildungsqualität genutzt werden. Die Ergebnisse sollen zudem für die kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen eingesetzt werden.“