BERLIN. Die Kultusministerkonferenz will die Demokratiebildung an Schulen stärken – mit einer feierlichen Erklärung zur deutschen Wiedervereinigung. Das Problem: Während sich die Bildungsministerinnen und -minister selbst auf die Schultern klopfen, greift unter Jugendlichen rechtsextremes Gedankengut um sich. Die Schulen stehen an vorderster Front – aber ohne Rückendeckung. Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
Man stelle sich vor: In Deutschland radikalisiert sich eine wachsende Zahl junger Menschen. Rechtsextreme Memes kursieren auf Schulhöfen. Jugendliche provozieren in Auschwitz mit Nazi-Parolen. Lehrkräfte schlagen Alarm – Extremismusforscher ebenfalls. Und was tun die Kultusministerinnen und -minister der Länder? Sie verfassen eine Erklärung zur Erinnerung an die Wiedervereinigung. Das haben sie nun angekündigt.
Kein Witz.
„Die Wiedervereinigung ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Demokratie gelingt“, so wird der rheinland-pfälzische Bildungsminister Sven Teuber (SPD) in der Pressemitteilung der Bildungsministerkonferenz (BMK) zitiert. „Gerade 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es wichtiger denn je, jungen Menschen konkrete Zugänge zu demokratischer Bildung zu eröffnen.“
Das klingt gut. Ist aber im vorliegenden Fall bestenfalls Symbolpolitik – und im schlechtesten Fall: fahrlässig.
Was genau hat die BMK verkündet? Im Wortlaut: „2025 jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 35. Mal. Die Bildungsministerkonferenz hat beschlossen, anlässlich dieses Jahrestags eine Erklärung zu verabschieden, die auf die historisch-politische Bedeutung des 3. Oktober 1990 verweist. Die Erklärung soll Schulen dazu ermutigen, sich mit der Geschichte der Wiedervereinigung auseinanderzusetzen und damit die Demokratiebildung zu stärken.“
Die Erklärung werde von einer Redaktionsgruppe erarbeitet und der „Amtschefskonferenz Bildung“ im September in Entwurfsform vorgelegt, so heißt es. Anschließend folge ein Umlaufverfahren auf Ebene der Bildungsministerkonferenz. Die finale Erklärung soll dann im Vorfeld des Jahrestages der Wiedervereinigung am 3. Oktober 2025 veröffentlicht werden. Wow.
Kein Wort verliert die BMK in ihrer Pressemitteilung über das, was Schulen gerade tatsächlich beschäftigt: den zunehmenden Einfluss rechtsextremer Strömungen auf Kinder und Jugendliche. Kein Wort über antisemitische Provokationen auf Klassenfahrten, keine Silbe über rechtsextreme Codes in Klassengruppen oder Hassvideos in sozialen Netzwerken. Und schon gar nichts zu zusätzlichen Ressourcen, mit denen Schulen gegensteuern könnten.
Stattdessen: Appelle. Ein bisschen Sonntagsrhetorik. Und jede Menge Selbstlob. Der Beschluss sei „wegweisend“, heißt es wörtlich. „Durch eine gemeinsame Erklärung aller Länder senden wir ein starkes Signal: Die Vermittlung demokratischer Werte und historischer Zusammenhänge ist ein zentraler Bildungsauftrag, dem wir uns alle verpflichtet fühlen“, meint KMK-Präsidentin Simone Oldenburg (Linke).
Nein. Wegweisend wäre gewesen, wenn sich die Bildungsminister*innen ernsthaft der Realität stellen würden. Einer Realität, in der Schulen die Demokratie längst nicht mehr nur „vermitteln“, sondern aktiv gegen ihre Feinde verteidigen müssen – oft ohne die nötige Unterstützung. Einer Realität, in der Lehrkräfte kaum noch hinterherkommen, mit ihren Schülerinnen und Schülern über demokratische Werte zu sprechen, weil sie mit multiplen Herausforderungen beschäftigt sind: Lehrkräftemangel, soziale Spannungen, Überlastung. Und ja, eben auch: Radikalisierungstendenzen unter Jugendlichen.
Der Extremismusforscher Johannes Kiess bringt es auf den Punkt. Er warnte unlängst: „Wir beobachten deutschlandweit mit Fokus auf Ostdeutschland und insbesondere Sachsen Raumgewinne von Neonazis“ – eben auch an Schulen. Rechtsextremismus habe in manchen Gegenden eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit erreicht. „Es gilt vielen als normal, die AfD zu wählen, eine gesichert rechtsextreme Partei.“
„Wenn wir uns die extreme Rechte als Bewegung angucken, dann geht es darum, Raumgewinne zu zementieren“
Diese Entwicklung erlaube es, rechtsextreme Provokationen öffentlich auszuleben – sogar an einem Ort wie Auschwitz. In der KZ-Gedenkstätte hatten unlängst Schüler während einer Schulfahrt mit dem rassistischen White-Power-Gruß posiert und Bilder davon in Sozialen Medien veröffentlicht (News4teachers berichtete). Das Verhalten der Jugendlichen sei dabei weniger das Hauptproblem, so Kiess. Viel gravierender sei, dass sie offenbar davon ausgingen, damit sozial akzeptiert zu werden: „Das wirft ein wirklich besorgniserregendes Bild zurück auf die Gesellschaft.“
Die wiederkehrende Provokation sei dabei nicht zufällig, sondern ein kalkuliertes Vorgehen, das Nachahmer finde. Das Ziel sei klar: „Wenn wir uns die extreme Rechte als Bewegung angucken, dann geht es darum, Raumgewinne zu zementieren“, erklärt Kiess. Dort, wo bereits ein rassistisches oder ausländerfeindliches Klima herrsche, versuchten Rechtsextreme, ihre Dominanz weiter auszubauen. Kiess warnt: Schulen dürften mit der Entwicklung nicht allein gelassen werden.
Im Klartext: Lehrkräfte brauchen dringend Hilfe bei ihrer Demokratiebildung, etwa durch Schulsozialarbeit, Präventionsprogramme, außerschulische Partner und Fortbildungsmöglichkeiten. All das? Kein Thema bei der BMK.
Natürlich ist es richtig, an die Wiedervereinigung zu erinnern. Ob sie als Beispiel für das Gelingen demokratischer Prozesse taugt? Der Beweis steht noch aus. Studien zu politischen Einstellungen belegen immer wieder das geringe Vertrauen in die Demokratie bei vielen Menschen insbesondere in Ostdeutschland. Ganz sicher reicht Erinnerungskultur nicht als Antwort auf den aktuellen Rechts(extremismus)ruck aus. Der findet nicht in den Geschichtsbüchern statt, sondern auf TikTok, in Telegram-Gruppen – und auf den Schulhöfen dieses Landes.
Wer die Demokratiebildung stärken will, darf sich nicht nur auf die Vergangenheit berufen, sondern muss die Gegenwart ernst nehmen. Schulen brauchen jetzt ein starkes politisches Signal, dass sie nicht allein sind in diesem Kampf. Und sie brauchen mehr als Worte.
Was die BMK liefert, ist die Ankündigung einer Erklärung. Was Schulen brauchen, ist Unterstützung. News4teachers
Hier geht es zur Pressemitteilung der BMK.