BERLIN. Die Radikalisierung junger Menschen sei ein „dramatischer Befund“, erklärt Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) bei der Vorstellung des aktuellen Verfassungsschutzberichts. Dobrindts politische Botschaft: Prävention müsse verstärkt vor Ort stattfinden – vor allem in Schulen. Doch ist das realistisch? Der Soziologe und Extremismusexperte David Begrich warnt vor überzogenen Erwartungen an pädagogische Fachkräfte – und fordert zugleich mehr professionelle Jugendarbeit und staatliche Ressourcen.
- Das rechtsextreme Personenpotenzial in Deutschland liegt mittlerweile bei über 50.000 Menschen – ein Zuwachs von mehr als 20.000 in nur zehn Jahren.
- Besonders alarmierend: 15.300 gelten als gewaltorientiert, fast 1.000 mehr als im Vorjahr.
- Auch die linksextreme Szene wächst (38.000 Personen), ebenso wie die islamistische (28.000), mit jeweils rund einem Drittel als gewaltbereit eingestuft.
Sinan Selen, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sieht einen klaren Trend: „Wir sehen immer jüngere Menschen, die sich online radikalisieren, angeleitet werden und mitunter zu Aktionen übergehen.“ Besonders gefährlich sei, dass diese jungen Menschen „wenig ideologisch geschult, äußerst gewaltaffin und radikalisiert“ seien. Gruppen wie „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ hätten etwa gezielt Störaktionen gegen den Christopher Street Day organisiert. Ein zentrales Problem: Die Radikalisierung beginnt oft digital – und setzt sich dann im analogen Raum fort.
“Beste Sensorik”: Dobrindt sieht die Schule als Frühwarnsystem
Für Bundesinnenminister Dobrindt ist klar: „Aufklärung gegen diese extreme Propaganda können vor allem Netzwerke vor Ort in den Städten und Kommunen leisten, etwa an Schulen, in Vereinen oder Jugendtreffs.“ Schulen hätten die „beste Sensorik“, um erste Anzeichen von Radikalisierung zu erkennen, so der Minister gegenüber der Funke Mediengruppe. Doch mit dieser Forderung bringt Dobrindt eine Berufsgruppe unter Druck, die ohnehin längst an ihrer Belastungsgrenze arbeitet: Lehrkräfte.
David Begrich, Soziologe und Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander in Magdeburg, relativiert Dobrindts Erwartungen deutlich. Die zunehmende Radikalisierung sei nicht nur ein pädagogisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem – das Schulen nicht allein lösen könnten. „Wenn ich mir anschaue, was von Lehrerinnen und Lehrern heutzutage alles erwartet wird, neben der Tatsache, dass sie Mathematik und Deutsch unterrichten sollen, welche Prozesse sie begleiten und steuern sollen, dann ist das auch eine Überforderung“, so Begrich im Interview mit dem WDR.
Statt weitere Aufgaben auf die Schultern der Lehrkräfte zu laden, fordert Begrich ein tragfähiges, professionelles Netz an Sozialarbeit und Prävention: „Wenn wir wollen, dass Jugendliche und junge Erwachsene gut ins Leben starten, dann brauchen sie Begleitung, dann brauchen sie Unterstützung und dann brauchen sie nicht nur politische, sondern auch Aufmerksamkeit, die professionell ist. Wir brauchen gute, professionell ausgestattete Jugendarbeit und Begleitung. Das ist die beste Extremismusprävention.“
„Im Internet gibt es alle Zutaten für Radikalisierung: Gewaltvideos, emotionale Politikvideos, eine Flut von persönlicher Ansprache durch extremistische Influencer“
Begrich verweist auf eine „epidemische Ausbreitung“ von Radikalisierung in den vergangenen Jahren – besonders nach den multiplen gesellschaftlichen Krisen:
Pandemie, Klimakrise, Ukrainekrieg, Nahostkonflikt. Viele Jugendliche suchten Orientierung und Zugehörigkeit – und fänden sie oft online: „Im Internet gibt es alle Zutaten für Radikalisierung: Gewaltvideos, emotionale Politikvideos, eine Flut von persönlicher Ansprache durch extremistische Influencer“, erklärt Begrich. „Gleichzeitig fehlten reale Vergemeinschaftungs-Erfahrungen – etwa durch geschlossene Jugendzentren während der Pandemie.“
So entstehe eine gefährliche Dynamik aus Identitätskrisen und digitalen Echokammern. Begrich warnt vor einem doppelten Wirkmechanismus: Erst geschehen rechtsextreme Aktionen auf der Straße – dann folgt die mediale Verbreitung über soziale Netzwerke, die weitere Jugendliche erreichen.
Tatsächlich können Schulen wichtige Frühwarnsysteme sein. Wenn Lehrkräfte rechtzeitig Anzeichen erkennen – plötzlicher Rückzug, extremistische Äußerungen, Verbreitung einschlägiger Symbole –, kann das helfen. Doch dazu braucht es klare Strukturen, Sensibilisierung und Unterstützungsnetzwerke.
Begrich fordert:
- Mehr Fortbildungen für Lehrkräfte zur Erkennung von Radikalisierungsprozessen
- Mehr Schulsozialarbeit und externe Beratungsmöglichkeiten
- Mehr Ressourcen für nicht-schulische Jugendarbeit
- Grenzsetzung im sozialen Umfeld, auch durch Eltern und Vereine.
„Jugendliche brauchen die Erfahrung, dass es Grenzen gibt, an die sie sich halten müssen – und die auch durchgesetzt werden. Das ist Teil von Sozialisation“, betont Begrich.
Unsere Meinung: Die Zahlen des Verfassungsschutzes und die Fälle junger Gewalttäter zeigen: Radikalisierung ist längst kein Randphänomen mehr. Sie betrifft die Mitte der Gesellschaft und zunehmend auch das Klassenzimmer. Dobrindts Appell, Schulen stärker in die Prävention einzubinden, mag verständlich klingen, ist aber gefährlich verkürzt, wenn daraus kein politischer Wille zur besseren Ausstattung folgt. Ohne professionelle Begleitung, personelle Entlastung und gesellschaftlichen Rückhalt droht Prävention an der Schulrealität zu scheitern. Was es jetzt braucht, ist nicht nur Alarmismus – sondern konkrete Unterstützung für die Menschen, die vor Ort die Demokratie schützen wollen. News4teachers / mit Material der dpa
