BERLIN. Gewalt gegen Lehrkräfte, Pöbeleien, Drohungen: Was sich an Schulen abspielt, ist kein pädagogisches Randproblem mehr – sondern Symptom tiefer gesellschaftlicher Verwerfungen. Der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer warnt vor einer Entwicklung, die politisch wie medial verdrängt wird: der systematischen Verrohung unseres Zusammenlebens.
Wahlstedt, Schleswig-Holstein. An der Poul-Due-Jensen-Gemeinschaftsschule scheint es ein grundlegendes Gewaltproblem zu geben. Laut der Schulleiterin Annette Grosse gehören Vandalismus, Pöbeleien und Beleidigungen von Lehrkräften dort seit Längerem zum Alltag. Wörtlich erklärte sie gegenüber den Lübecker Nachrichten: „Lehrer fühlen sich teilweise bedroht.“ Der jüngste Vorfall, bei dem mehrere Schüler zwei Erwachsene – darunter einen Wachmann – körperlich attackiert haben sollen, sei dabei nur ein weiterer in einer ganzen Reihe. Das Bildungsministerium in Kiel hat sich eingeschaltet und angekündigt, „Ordnungsmaßnahmen gegen die beiden Jugendlichen“ zu prüfen. Außerdem soll ein Runder Tisch einberufen werden.
Doch die Frage steht im Raum: Handelt es sich hier um Einzelfälle – oder ist das, was sich an dieser Schule zeigt, Ausdruck einer viel tiefer liegenden gesellschaftlichen Entwicklung?
Der renommierte Gewalt- und Konfliktforscher Prof. Wilhelm Heitmeyer sieht in solchen Vorfällen Symptome eines größeren Prozesses, den er als „Durchrohung der Gesellschaft“ beschreibt. In einem aktuellen Gastbeitrag für den „Spiegel“ warnt der langjährige Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld: „Unsere Gesellschaft ist verrohter, als viele es wahrhaben wollen.“
Gewalt gegen Lehrkräfte ist Alltag geworden – „Respekt nimmt ab”
Tatsächlich zeigen zahlreiche Studien, dass Gewalt gegen Lehrkräfte in Deutschland kein Randphänomen mehr ist. Eine vom VBE beim Meinungsforschungsinstitut forsa in Auftrag gegebene Umfrage unter Schulleitungen ergab Anfang 2025: 60 Prozent der Befragten berichteten, dass körperliche und psychische Gewalt an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Nur vier Prozent sahen einen Rückgang.
„Gewalttaten gegen Lehrkräfte sind keine Einzelfälle“, kommentierte Gerhard Brand, Bundesvorsitzender des VBE. Das soziale Miteinander breche auf, die Empathiefähigkeit nehme ab, Konflikte eskalierten schneller, so Brand: „Wir beobachten, dass der Respekt gegenüber schulischen Autoritäten abnimmt und es regelmäßig zu Grenzüberschreitungen kommt.“ Die Ergebnisse zeigen: Lehrkräfte werden beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt – nicht nur im Klassenraum, sondern auch im digitalen Raum. An 36 Prozent der Schulen wurden Lehrkräfte im Internet bedroht, 35 Prozent berichteten von körperlichen Angriffen.
Heitmeyer: „Diese selbsttäuschende Beruhigungsformel ist irreführend“
Wilhelm Heitmeyer kritisiert in seinem Gastbeitrag, dass diese Entwicklungen häufig verharmlost oder relativiert werden – etwa durch den Hinweis auf gestiegene Anzeigenbereitschaft oder erhöhte gesellschaftliche Sensibilität. Wörtlich schreibt er:
„Diese selbsttäuschende Beruhigungsformel ist aus mehreren Gründen irreführend.“
Die These, wonach mehr Meldungen auf eine positivere gesellschaftliche Entwicklung hindeuten, greife zu kurz: „Es gibt zahllose empirische Befunde, die belegen, dass Hass, Gewalt und Rücksichtslosigkeit zunehmen.“ Es gehe dabei nicht nur um polizeilich registrierte Straftaten, sondern um eine Vielzahl alltäglicher Erfahrungen – etwa das Mobbing oder Beleidigen von Lehrkräften –, die durch sozialwissenschaftliche Methoden erfasst würden.
Heitmeyer schlägt deshalb eine andere Erklärung vor: die „Durchrohungsthese“. Sie beschreibt, „wie private, öffentliche oder institutionelle Strukturen Menschen dazu stimulieren, Macht zerstörerisch einzusetzen“. Die Gewalt sei eben nicht allein durch die Persönlichkeit der Täter erklärbar, sondern Ausdruck struktureller Veränderungen.
Gewalt in vielen gesellschaftlichen Bereichen – auch in der Schule
Diese Formen der Gewalt seien in allen gesellschaftlichen Räumen zu beobachten, schreibt Heitmeyer – „im Privaten in Ehen und Familien, in öffentlichen Räumen gegen Polizei, Feuerwehr, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Sportveranstaltungen, gegen Obdachlose.“ Und weiter: „in institutionellen Räumen von Schulen, in Kirchen und Sportvereinen mit sexualisierter Gewalt, in der Notaufnahme von Krankenhäusern, in der Altenpflege, in Jobcentern.“ Die Gewalt ziehe sich also quer durch alle Lebensbereiche – und macht auch vor Schulen nicht Halt.
Die neuesten Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) bestätigen diesen Befund: Die Zahl tatverdächtiger Kinder im Bereich Gewaltkriminalität ist im Jahr 2024 auf über 13.700 Fälle gestiegen – ein Zuwachs von 11,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch die Zahl jugendlicher Gewalttäter hat zugenommen. Laut PKS spielen dabei mehrere Risikofaktoren eine Rolle – darunter wirtschaftliche Sorgen, akzeptierte Gewaltmuster, fehlende elterliche Involviertheit und psychische Belastungen durch gesellschaftliche Krisen. Diese Bedingungen spiegeln sich auch im Schulalltag wider – etwa in Fällen wie dem in Wahlstedt.
„Psychologisierung schützt Strukturen“
Doch Heitmeyer geht über eine soziologische Zustandsbeschreibung hinaus. Er kritisiert die politische und mediale Tendenz, Gewalt vor allem psychologisch zu erklären (etwa mit Blick auf Corona-Folgen) – und dabei die strukturellen Ursachen auszublenden. „Psychologisierung schützt Strukturen“, schreibt er pointiert. Man müsse den Blick stattdessen auf die strukturelle Produktion von Durchrohung richten – etwa durch den kapitalistischen Wettbewerbsdruck, durch soziale Ungleichheit, durch den Verlust von Empathie und abnehmende Normbindung.
Die sogenannte „kapitalistische Landnahme“ – ein Begriff des Soziologen Klaus Dörre – spiele dabei eine zentrale Rolle: „Die Ökonomisierung des Sozialen führt dazu, dass Menschen nach ihrer Verwertbarkeit beurteilt werden. Die psychische und physische Unversehrtheit, die Gleichwertigkeit aller Bürger, wird abgewertet.“ In der Folge gehe die Fähigkeit zur Empathie verloren: „Eine über 30 Jahre unternommene Langzeituntersuchung in den USA stellte fest, dass die affektive Empathie um 48 Prozent und die kognitive Empathie um 34 Prozent abgenommen hat.“
Ein besonders wirkmächtiger Motor dieser gesellschaftlichen Durchrohung ist laut Heitmeyer die Kultur der Selbstinszenierung in sozialen Medien. In Anlehnung an den Soziologen Andreas Reckwitz beschreibt er eine Entwicklung hin zur „Logik des Besonderen“ – also dem gesellschaftlichen Zwang, sich als einzigartig, außergewöhnlich und überlegen zu präsentieren. „Heute herrscht eine Logik des Besonderen, ein Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, das zu einer gesellschaftlichen Erwartung geworden ist“, zitiert Heitmeyer Reckwitz.
Die sozialen Netzwerke fungieren dabei als Bühne, auf der diese Selbstvermarktung und Abwertung anderer in Echtzeit stattfinden. „Ein zentraler Modus dazu ist dann die Demonstration von Überlegenheit in der Alltagskommunikation“, so Heitmeyer. Wer im digitalen Raum auffallen will, bedient sich oft extremer, provokativer oder verletzender Ausdrucksformen – das befördert Hass, Demütigung und Gewalt als akzeptierte Kommunikationsmittel. Auch die von Rechtsextremen beförderte „toxische Männlichkeit“ spielt eine Rolle. Heitmeyer spricht hier von „anonymisierten Zerstörungsmaschinen“, in denen Hass zum Bestandteil eines kapitalistischen Geschäftsmodells wird. Die Folge: Auch Kinder und Jugendliche übernehmen zunehmend diesen Stil – und tragen ihn in die Schule hinein.
Was bedeutet das für Lehrkräfte? Heitmeyer spricht zwar nicht explizit über bildungspolitische Konsequenzen – doch seine Analyse lässt sich auf den Schulkontext übertragen. Wenn Gewalt Ausdruck gesellschaftlicher Strukturprobleme ist, dann können Schulen allein sie nicht lösen. Sie sind nicht die Ursache, sondern Ort der sichtbaren Symptome.
Das bedeutet: Präventionsprogramme, Wachpersonal oder Ordnungsmaßnahmen – wie im Fall Wahlstedt – reichen allein nicht aus, um das Problem zu bewältigen. Heitmeyer fordert eine gesamtgesellschaftliche Debatte, die das „Verdrängen“ beendet und sich der Realität stellt: „Wenn nicht die Selbsttäuschung über deutsche Zustände beendet wird und stattdessen eine produktiv radikale Debatte über die gesellschaftliche Produktion der Durchrohung einsetzt, werden die Probleme weiter zunehmen – und das Bemühen, sie zu verdrängen.“ News4teachers