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Bereitet die Oberstufe überhaupt noch auf das Studium vor? Philologen: Abitur neu mit Hochschul-Anforderungen abgleichen!

DÜSSELDORF. Immer mehr Abiturienten verlassen die Schulen mit Bestnoten – doch was auf dem Papier glänzt, scheint in der Realität zu verblassen. Hochschulen schlagen Alarm: Die Studierfähigkeit der jungen Menschen ist aus ihrer Sicht bedroht. Was muss Schule leisten, um aufs Studium vorzubereiten? Der Philologenverband stellt die Grundsatzfrage.

Zu tief getaucht? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die Zahlen sprechen für sich: Fast 3,4 Prozent der Abiturienten in NRW haben in diesem Jahr die Traumnote 1,0 erreicht – mehr als doppelt so viele wie vor der Pandemie. Was für Eltern und Schüler nach einem Grund zur Freude klingt, lässt Lehrkräfte und Hochschulrektoren aufhorchen.

Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbands NRW, stellt in der Rheinischen Post die Systemfrage: „Man muss sich insgesamt fragen: Ist die Bestnote 1,0 nach wie vor ein Indiz für die tatsächliche Studierfähigkeit?“ Zwar wolle sie den Jugendlichen ihre Leistungen nicht absprechen – „Aber schicken wir sie mit dieser Note auch mit dem richtigen Rüstzeug in Ausbildung oder Studium?“ Angesichts der Lage plädiert der Philologenverband für einen neuen Abgleich zwischen den Anforderungen der Universitäten an die jungen Leute und den Anforderungen im Abitur.

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Der Befund: Immer häufiger müssten Universitäten Brückenkurse anbieten, weil Studierende selbst Grundlagen in Mathematik, Chemie oder Physik nicht ausreichend beherrschten. Das Problem sei nicht neu, aber laut Mistler dringlicher denn je. Auch Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen und Vizechef der Landesrektorenkonferenz NRW, bestätigt: „Eine 1,0 im Abitur bedeutet nicht zwangsläufig, dass jemand auch unter universitären Bedingungen Spitzenleistungen erbringt.“

Insbesondere in den MINT-Fächern zeige sich ein anderes Leistungsbild: „Kompetenzen wie Selbstorganisation, eigenverantwortliches Lernen oder diskursives Denken“ fehlten oft – Eigenschaften, die für ein erfolgreiches Studium unerlässlich seien.

“Das Gymnasium erfüllt nicht mehr seine Aufgabe” – Die Fundamentalkritik von Volker Ladenthin

Der Bonner Erziehungswissenschaftler Prof. Volker Ladenthin hat sich schon 2018 mit einer radikalen Diagnose zu Wort gemeldet. In seinem Beitrag in Forschung & Lehre mit dem Titel „Da läuft etwas ganz schief“ kritisiert er eine tiefgreifende Entfremdung zwischen Gymnasium und Hochschule: „Der Übergang von der Schule auf die Universität ist hochgradig gestört. Zwischen Abitur und Universität entsteht eine neue Schulart – die das nachholt oder überhaupt erst einmal thematisiert, was in den Lehrplänen der Schule steht.“

Ladenthin wirft dem Gymnasium vor, seiner zentralen Aufgabe – der Herstellung von Studierfähigkeit – nicht mehr gerecht zu werden. Seine empirischen Beobachtungen stammen aus Klausuren, die er über Jahre in seinen Einführungsveranstaltungen analysiert hat.

Im Wortlaut: „Ich möchte aber nicht allgemein bleiben, sondern an Beispielen zeigen, woran es beim Übergang grundsätzlich hapert. Meine Beschreibung hat sich aussagekräftiger Quellen bedient: Seit sieben Jahren lasse ich vergleichbare Klausuren in den Anfangssemestern schreiben: Die bisher über 1.000 Klausuren mit je sechs Fragen verlangen Reproduktion, aber auch Reorganisation und Transfer sowie Urteile. Die Fragen lauten etwa: “Warum sind Schulen gegründet worden: Unterscheiden Sie soziale und pädagogische Motive! – Welche (aktuellen) Theorien wollen den Bildungsbegriff ersetzen? Beurteilen Sie die Versuche!” Ein Pool von circa 120 möglichen Fragen ist den Studierenden vor den Klausuren bekannt, so dass sie von der Art der Fragen nicht überrascht sein können. Bei Referaten ist eine schriftliche lehrzielorientierte Sachanalyse verlangt, für die kurze Texte (10 bis 200 Zeilen) zu referieren sind. Trotzdem ist immer mehr Hilfe nötig.  Die zentrale Frage lautet: ‚Können Sie den Stoff nicht reduzieren?‘“

Ladenthins Bilanz ist alarmierend:

Im Wortlaut. „Der ‚Berichtscharakter‘ kann bei Referaten sprachlich nicht durchgehalten werden, was unter anderem dadurch bedingt ist, dass der Konjunktiv I im Deutschen keineswegs sicher gebildet werden kann. Der Frage nach Voraussetzungen von Thesen (“Wer behauptet, dass etwas ungerecht sei, muss ein Kriterium haben für das, was gerecht und ungerecht ist”) wird mit dem Hinweis begegnet, davon stehe aber nichts im Text. Dem Hinweis, dass man dann eben die Voraussetzungen selbst bedenken müsse, wurde entgegengehalten, dass man als Studenten doch keine Texte von Professoren kritisieren könne.

“Gibt man einen Text und fragt, was die Studierenden an diesem Text interessiert, bekommt man keine Antwort”

Und weiter: „Es fehlt an Urteilskraft im Umgang mit parallelen oder widersprüchlich zueinander stehenden Theorien – etwa der Differenz einer Sozialisations- und einer Bildungstheorie. Theorien werden nicht als Theorien referiert, sondern als unmittelbar realitätsbezogene Aussagen: Statt ‚Wehler stellt die These auf, dass das Bildungssystem ungerecht sei‘, wird im Referat formuliert: ‚Das Bildungssystem ist ungerecht.‘“

„Auffällig ist zudem, dass viele Studierende keine Fragen haben: Ihnen ist kaum etwas ein Problem. Sie haben keine Fragen und suchen daher nicht nach Antworten. Vielmehr erwarten sie, dass ihnen etwas angeboten wird, was sie (vielleicht/vielleicht aber auch nicht) interessieren könnte. Gibt man einen Text und fragt, was die Studierenden an diesem Text interessiert, bekommt man keine Antwort. Sie erwarten, dass man ihnen mit dem Text auch die Fragen präsentiert.“

Bezeichnend ist auch Ladenthins Beobachtung über eine zunehmende Unselbstständigkeit: „Man fühlt sich nicht für sich selbst verantwortlich, sondern verlässt sich darauf, dass das Verantwortungsgefühl anderer dafür sorgt, dass man selbst keinen Schaden nimmt.“ Bitteres Fazit: „Es scheint, als wenn Lernen als ‚narzisstische Kränkung’ erfahren wird: In – stets freundlichen – Evaluationsgesprächen bekannten Studierende, sachbezogene Korrekturvorschläge für ihr anstehendes Referat durch studentische Hilfskräfte als ‚Demütigung‘ empfunden zu haben, als eine ‚traumatische Erfahrung‘.“

“Es wurden bestmögliche Voraussetzungen geschaffen, das Abitur erfolgreich zu absolvieren“

Der Bonner Professor zeigt sich fassungslos, dass sich das universitäre Lernen zunehmend in eine Nachhilfeveranstaltung verwandele. Denn: „Das Abitur befähigt inzwischen nicht mehr zum Beginn eines Grundstudiums.“ Die Folge sei ein erheblicher Ressourceneinsatz auf Seiten der Hochschulen: „Was die Kultusminister an verkürzter Schulzeit einsparen, geben die Wissenschaftsminister für Brückenkurse wieder aus.“ Für Ladenthin ist klar: Das Gymnasium versäume es, zentrale wissenschaftliche Kompetenzen einzuüben – mit weitreichenden Folgen.

Das NRW-Schulministerium kann hingegen offensichtlich kein Problem erkennen. Ein Sprecher verweist laut „Rheinische Post“ auf die Qualität des Zentralabiturs und die individuelle Förderung im Schulsystem: „Durch die Transparenz der Anforderungen und individuelle Förderung sowohl in der Sekundarstufe I als auch in der gymnasialen Oberstufe sind bestmögliche Voraussetzungen geschaffen worden, das Abitur erfolgreich zu absolvieren.“ News4teachers / mit Material der dpa

Stichwort Studierfähigkeit

Die Frage, was Studierfähigkeit bedeutet und wann sie gegeben sein muss, beschäftigt auch die Hochschulrektorenkonferenz. Die sieht keineswegs die Notwendigkeit, dass schon Studienanfänger über alle dazugehörigen Kompetenzen verfügen müssen. Wörtlich heißt es dort:  

„Studierfähigkeit steht für die individuellen Voraussetzungen, die notwendig sind, ein wissenschaftliches Studium aufzunehmen und erfolgreich abzuschließen. In diesem Lernprozess findet die Entwicklung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen über den gesamten Studienverlauf hinweg statt und kann durch unterschiedliche Lehrformen unterstützt werden.“

Und weiter: „Wird der Übergang in die Hochschule als Frage der Passung individueller und institutioneller Faktoren verstanden, besteht gelingendes Studieren darin, sowohl individuelle Studienziele zu realisieren als auch institutionelle Studienanforderungen zu bewältigen. Studierfähigkeit hängt folglich nicht allein vom (mitgebrachten) Leistungsvermögen der Studierenden ab, sondern wird in der Auseinandersetzung mit den hochschulischen Rahmenbedingungen hergestellt und im Studienverlauf (weiter-)entwickelt.“

“Einser-Abi-Flut”: Hat Deutschland eine Bestnoten-Inflation? Bildungminister hält die Diskussion für beleidigend

 

 

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