KEHL. Offenbar immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden an den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion – oft unsichtbar, häufig unterschätzt. Sie verschwinden aus dem Schulalltag, weil sie körperlich nicht mehr können. Doch dank digitaler Avatare, engagierter Lehrkräfte und solidarischer Klassengemeinschaften kehren einige von ihnen zumindest virtuell zurück ins Klassenzimmer.
Von außen wirkt es wie eine normale Schulstunde im baden-württembergischen Kehl. Die Lehrerin steht an der Tafel, die Klasse blickt aufmerksam nach vorne – bis auf einen kleinen weißen Roboter auf einem der Tische, der langsam den Kopf dreht. Die blauen LED-Augen blinken auf: Malene ist zugeschaltet.
Sie sitzt acht Kilometer entfernt, zu Hause in einem abgedunkelten Zimmer. Sonnenlicht ist zu grell, jeder Reiz zu viel. Seit ihrer Corona-Infektion im Februar 2022 ist nichts mehr wie vorher. Malene leidet an der schwersten Form von Post-Covid: Myalgische Enzephalomyelitis, auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Ihr Energielevel? „Wie ein Akku, der sich nicht mehr auflädt“, sagt sie, wie SWR3 aktuell berichtet. Doch ihr Avatar ist ihr Fenster zur Welt – und zur Schule.
Eine stille Epidemie im Klassenzimmer
Immer mehr Kinder und Jugendliche sind offenbar betroffen. Allein in der Post-Covid-Ambulanz in Koblenz stieg die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten von zwei auf dreizehn im Monat. „Die meisten sind zwischen zwölf und fünfzehn, aber wir sehen auch Sechsjährige“, sagte Dr. Astrid Weber, Internistin und Leiterin der Ambulanz, gegenüber dem SWR . Viele kommen nach einer wahren Odyssee durch Praxen und Kliniken: „Die sind müde, abgeschlagen, können nicht zur Schule gehen, haben Konzentrationsprobleme und häufig Infekte – aber Blutbild und Lunge sind unauffällig. Trotzdem sind die Kinder krank“, so berichtete die Medizinerin bereits im vergangenen Dezember gegenüber dem SWR.
Besonders tragisch: Manche können kaum noch laufen und erscheinen im Rollstuhl. Und wenn Lehrer:innen ihnen nicht glauben, droht Ausgrenzung. In einem Fall, so berichtet Astrid Weber, läuft derzeit ein Verfahren vor dem Sozialgericht: Das Jugendamt glaubt der Mutter eines schwer erkrankten Jungen nicht – sie solle ihm sogar die Gesundheitsfürsorge entzogen bekommen.
Der Avatar als Tor zur Klassengemeinschaft
Zurück nach Kehl: In Malenes Klasse haben zwei Mitschüler die tägliche Avatar-Patenschaft übernommen. Sie holen den kleinen Roboter morgens aus dem Sekretariat, tragen ihn ins Klassenzimmer und stellen sicher, dass Malene nichts verpasst. „Wenigstens können wir ihre Stimme hören. Ich trag sie einfach im Herzen mit“, sagt Lucie. Zacharias ergänzt: „Für mich ist es wie mit einer normalen Klassenkameradin. Sie ist ja da – nur halt anders.“
Der Avatar ist nicht nur ein technisches Gerät – er ist Symbol für Zugehörigkeit. Malene kann den Kopf drehen, sich melden, sogar Gefühle ausdrücken. „Früher musste ich immer warten, bis mich jemand zuschaltet – das ist anstrengend. Jetzt entscheide ich selbst, wann ich dabei bin“, sagt sie.
Zwischen Hoffnung und Rückschritt
Anfangs war der Avatar für Malene ein Lichtblick. Sie träumte sogar davon, bei der Klassenfahrt nach Amsterdam dabei zu sein. Doch nur zwei Monate später verschlechterte sich ihr Zustand drastisch. Sie musste ihr Zimmer ins Erdgeschoss verlegen. Der Avatar? Nur noch minutenweise nutzbar.
„Das war ein schwerer Schlag“, sagt ihre Mutter Nanna. Trotzdem kämpft die Familie weiter. Nanna engagiert sich jetzt in einer Aktionsgruppe für Kinder mit Post-Covid. „Wir wollen, dass man unsere Kinder sieht. Dass sie ernst genommen werden – von Schule, Gesellschaft, Politik.“ Eine Heilung? Noch ungewiss. „Aber wir feiern kleine Schritte“, sagt sie. „Neulich sind wir mit dem Auto zum Bäcker gefahren – das war unser Highlight der Woche.“
Eine stille Revolution in der Schulorganisation
Für Schulleiterin Bettina-Maria Herr ist klar: Der Avatar ist kein Fremdkörper mehr. „Neulich haben zwei Schülerinnen ihn in der Pause einfach mitgenommen: ‚Wir nehmen Malene mit‘, sagten sie“ laut SWR3-Bericht. Auch Klassenlehrerin Hanna Geyer sieht das Gerät längst als „Tor zur Normalität“. Natürlich sei nicht jeder Tag einfach – etwa wenn Arbeitsblätter fehlen oder technische Probleme auftreten. Aber: „Es funktioniert erstaunlich gut.“
Die Schule in Kehl-Kork ist damit ein Vorbild. Denn viele andere Bildungseinrichtungen reagieren noch überfordert. Oft fehlt es an Sensibilität – oder schlicht an Wissen. Dabei sind Lehrkräfte zentrale Akteure. Deshalb hat Dr. Astrid Weber gemeinsam mit dem Bildungs- und Gesundheitsministerium in Rheinland-Pfalz spezielle Schulungen für Lehrkräfte entwickelt.
Komplexes Krankheitsbild – schwierige Diagnose
Dass es überhaupt so weit kommt, ist keine Selbstverständlichkeit. Viele Familien kämpfen jahrelang um eine Diagnose. Uta Behrend, Leiterin einer Spezialambulanz in München, beschreibt das gegenüber dem Bayerischen Rundfunk als „Herausforderung“. Sie sagt: „Wir müssen sehr ausführlich mit den Familien sprechen, andere Krankheiten ausschließen – mit Bluttests, funktionellen Tests, Fragebögen.“ Doch oft wird falsch diagnostiziert: Psychosomatik statt ME/CFS. Nicht selten landen Kinder in psychiatrischen Einrichtungen.
Lena Riepl, Mutter der betroffenen Elli und Mitgründerin des Vereins „NichtGenesenKids“, sagt: „Die meisten Familien waren über ein Jahr in einer falschen medizinischen Versorgungsschiene.“ Der Verein hilft mittlerweile bundesweit – mit Beratung, Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit und vor allem: mit Verständnis.
Am Ende steht ein Wunsch, den Malene so formuliert: „Ich möchte, dass man normal mit mir umgeht. Auch wenn das nicht immer geht, wünsche ich mir das.“ Und dann sagt sie noch etwas: „Ich glaube, ich kann jetzt besser meine Grenzen aufzeigen. So: Das ist mein Leben. Und so geht es mir heute. Punkt.“ News4teachers
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