STUTTGART. Über Jahre fehlten viele Lehrkräfte im Land – weil es die Jobs nur auf dem Papier gab. Nun steht das Kultusministerium von Baden-Württemberg vor einem Bildungskrimi mit 1.440 offenen Fragen. Die Reaktionen der Lehrerverbände sind heftig. Kein Wunder: Die Mega-Panne dürfte zumindest mitverantwortlich dafür sein, dass der Südwesten in den vergangenen Jahren in allen Bildungsrankings mehr als alle anderen Bundesländer abgestürzt ist.
Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper hat eine rasche Aufklärung der schweren IT-Panne in der Kultusverwaltung angekündigt. Man werde mit „Volldampf“ aufarbeiten, warum so lange niemand gemerkt habe, dass man 1.440 Lehrerstellen versehentlich nicht besetzt hat, sagte die Grünen-Politikerin dem SWR.
Die Aufarbeitung und die Suche nach einem Schuldigen sei aber nicht so einfach wie in der Krimiserie Tatort, sagte Schopper dem Sender. Es gebe 4.500 Schulen im Land und 130.000 Köpfe, die sich auf 95.000 Stellen verteilten. Herr Maier und Frau Schulze würden nicht immer eins zu eins nachbesetzt, sondern es gebe Schwangerschaftsvertretungen, längere Krankheiten, Renteneintritte, die Reduzierung von Stunden.
Fehler zog sich über 20 Jahre durch die Verwaltung
Schopper zeigte sich persönlich betroffen von der schweren Panne. „Ich war genauso schockiert und war auch wirklich erschrocken“, sagte sie. Dazu, dass über Jahre aufgrund der Panne Hunderte Lehrer zusätzlich an den Schulen fehlten, sagte sie: „Natürlich tut es mir leid, dass wir da nicht in die Unterrichtsversorgung schon früher hätten einsteigen können.“ Aber sie wisse nicht, ob man die freien Stellen in der Vergangenheit aufgrund des Bewerbermangels auch hätte besetzen können. „Jetzt haben wir Gott sei Dank auch Leute.“ Jetzt müssten die freien Stellen rasch besetzt werden.
„Das Kultusministerium muss sofort handeln und diese Stellen besetzen. Im kommenden Schuljahr darf keine dieser Stellen weiterhin unbesetzt bleiben!“, so Martina Scherer, die Landesvorsitzende des Philologenverbands Baden-Württemberg (PhV BW).
Der zeigt sich in einer Pressemeldung wenig überrascht. „In der Praxis war die mehr oder weniger massive, aber immer vorhandene Unterdeckung der Unterrichtsversorgung immer spürbar, während die offizielle Statistik der Kultusverwaltung angeblich eine ausreichende Zahl von Lehrkräften bescheinigte“, so heißt es in einer Pressemeldung. „Wir haben uns schon immer über den Gegensatz zwischen gefühlter Unterversorgung in der Realität auf der einen und der angeblichen Überversorgung auf dem Papier auf der anderen Seite gewundert“, so die PhV-Landesvorsitzende.
Laut Kultusministerium seien die Schulen mit 105 Prozent Lehrerstellen „über“-versorgt, jedoch sei im November die Krankheitsvertretungsreserve regelmäßig aufgebraucht und der Vertretungspool leergefegt, und bei jeder Krankmeldung oder Schwangerschaft falle gewöhnlich Unterricht aus – „die Eltern kennen das auch.“
Ist die Panne zumindest mitverantwortlich für das zunehmend schlechte Abschneiden Baden-Württembergs in den bundesweiten Rankings der Schülerleistungen? Das mutmaßt der VBE: „Es ist wie beim Ostereier suchen, wenn die Eltern versäumt haben, sie zu verstecken: Ein langes, unbefriedigendes Gefühl mit einer lächerlichen Erklärung zum Schluss!“, erklärt Bundes- und Landesvorsitzender Gerhard Brand, nach eigener Darstellung fassungslos.
„Es ist bitter für die Kolleginnen und Kollegen nun zu erfahren, dass unzählige Überstunden und Krankheitsvertretungen hätten vermieden werden können“
Seit über 20 Jahren weise sein Verband auf einen eklatanten Mangel an Lehrkräften im Bereich der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren hin. Seit Jahren herrsche dieser Mangel auch an Grundschulen und in Teilbereichen an den weiterführenden Schulen. Umfragen unter Lehrkräften hätten dies immer wieder empirisch bestätigt. „Es ist bitter für die Kolleginnen und Kollegen nun zu erfahren, dass unzählige Überstunden und Krankheitsvertretungen hätten vermieden werden können, wenn das Land seine Aufgaben sorgfältig ausgeführt hätte“, konstatiert der VBE-Chef.
Brand weiter: „Darüber hinaus klingt es im Nachhinein wie Hohn, wenn Lehrkräfte vor diesem Hintergrund für das schlechte Abschneiden von Schülerinnen und Schülern bei Schulleistungstests verantwortlich gemacht werden sollen. Warum, so fragt der VBE, werden bei der Programmierung keine Kontroll- und Plausibilitätsroutinen hinterlegt? Das Land erwartet von uns Lehrkräften, dass wir einen guten Job machen, das erwarten wir auch vom Land! Dass nun die fehlenden 1.440 Lehrkräfte eingestellt werden sollen, ist ja recht und schön, nur sind sie durch die versäumte Einstellungspolitik der vergangenen Jahre gar nicht auf dem Markt. Ein Trauerspiel.“
Es sei ein Skandal, dass in Baden-Württemberg offensichtlich nicht bemerkt wurde, dass die Anzahl der besoldeten Lehrkräfte und die Anzahl der Stellen im Verwaltungsprogramm in einem solchen Maße nicht übereinstimmen. „Oder sind diese Gelder anders verwendet worden?“, fragt Martina Scherer. „Diese Frage wird die Landesregierung in nächster Zeit beantworten müssen. Und das in Anbetracht der prekären Einstellungssituation, die wir aktuell am Gymnasium haben,“ so die Philologen-Chefin weiter.
Hintergrund: Das Kultusministerium steht aktuell ohnehin in der Kritik, weil es aufgrund der Umstellung auf G9 ab nächstem Schuljahr (und der deshalb gekürzten Stundentafel in den aufwachsenden Jahrgängen) weniger junge Gymnasiallehrkräfte einstellen will als ursprünglich geplant (News4teachers berichtete).
Der Philologenverband meint: „An den allgemeinbildenden Gymnasien muss jetzt schon für den ab 2032 absehbaren gravierenden Lehrermangel durch die Pensionierung der Boomer-Generation und den Aufwuchs von G9 zusätzlich eingestellt werden. Zumindest die besten unserer Referendare, die im Land Baden-Württemberg ausgebildet wurden, müssen auch hier gehalten werden! Hier darf nicht wieder derselbe Fehler des ‚Schweinezyklus‘ gemacht werden! Irgendwann muss eine Schulverwaltung doch lernen, für die Zukunft zu planen! Falls zuerst die Schulen im Sekundarbereich versorgt werden müssen, dann muss den gymnasialen Referendarinnen und Referendaren zumindest eine vertraglich zugesicherte Rückkehrgarantie an das allgemeinbildende Gymnasium angeboten werden.“
„Wir benötigen an den Schulen unbedingt eine höhere Versorgung, damit Ausfälle keine Löcher in die Stundenpläne der Schülerinnen und Schüler reißen“
Scherer mahnt an: „Das wäre nun die Chance für das KM, mit einer nachhaltigen Einstellungspolitik zu beginnen. Es gibt ausreichend Referendarinnen und Referendare, die noch eine Stelle benötigen. Zudem sind viel zu viele Kolleginnen und Kollegen in unattraktiven Krankheitsvertretungs-Verträgen eingestellt“. Jetzt wäre auch die Zeit und die Möglichkeit, die Schulleitungen endlich zu entlasten und von den „Geister-Stellen“ mehr Stunden für Leitungsaufgaben zur Verfügung zu stellen. Die Überlastung der Schulleitungen zeige sich beispielsweise darin, dass neue Statistiksysteme die Handlungsspielräume zunehmend einschränken oder schulische Prozesse „bis ins kleinste Detail“ durchfaktorisiert werden müssten; zudem hätten sie zunehmende Aufgaben bei der Arbeit in der Schulentwicklung vor Ort – dies benötige Ressourcen.
„Wir benötigen an den Schulen unbedingt eine höhere Versorgung, damit Ausfälle keine Löcher in die Stundenpläne der Schülerinnen und Schüler reißen“, fordert Scherer. Seriöse Berechnungen zeigen dem Verband zufolge: „Die Schulen brauchen mindestens eine (rechnerische) Versorgung von 115 Prozent, damit Krankheitsvertretung und Ergänzungsbereich permanent gesichert sind. Insofern muss dringend deutlich über den nominellen Bedarf von 100 Prozent hinaus eingestellt werden. 100 Prozent bedeuten nämlich: Der Pflichtunterricht ist gerade abgedeckt, wenn alle Lehrkräfte anwesend sind und niemand krank ist. Und darin ist keine einzige Stunde für AGs wie Chor, Theater, Sportangebote, für Fördermaßnahmen, Hausaufgabenbetreuung (und deren Verwaltung), Mittagsbetreuung oder Sonstiges enthalten, was das besondere Profil einer Schule ausmacht. Von kleineren Gruppen zum Üben, Wiederholen usw. ganz zu schweigen.“
Wegen einer schweren IT-Panne sind 1.440 Lehrerstellen im Südwesten versehentlich nicht besetzt worden (News4teachers berichtete). Grund ist ein Softwarefehler, der bis auf das Jahr 2005 zurückgeht, wie das Kultusministerium und das Finanzministerium eingeräumt hatten. Dieser Fehler sei über all die Jahre unbemerkt geblieben. Der Landesschülerbeirat spricht von „Geisterlehrkräften“, der Elternbeirat vom „größten Bildungsskandal seit Jahrzehnten“. News4teachers / mit Material der dpa
Bildungsabsteiger Baden-Württemberg: Wie bekommen Politiker die Schülerleistungen wieder nach oben?
