BONN. Noten prägen den Schulalltag – doch was sagen sie wirklich aus? Im ersten Bürgerrat-Talk zur Bildungspolitik (Titel: „Keine Noten, keine Leistung? Welchen Wert haben Zensuren in der Schule?“) trafen jetzt drei Positionen aufeinander: Die Vorsitzende des Philologenverbands verteidigte die Ziffernnoten als unverzichtbaren Maßstab, der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz pochte auf individuelles Feedback in den unteren Jahrgängen – und eine Vertreterin des Bürgerrats erklärte, warum anonymisierte Prüfungen für mehr Chancengerechtigkeit sorgen sollen.
Live-Termin verpasst? Kein Problem – hier ist die Aufzeichnung:
„Ich darf Sie heute zu einem überaus langweiligen Thema begrüßen – scheinbar jedenfalls: Schulnoten.“ Mit dieser ironischen Spitze eröffnete News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek die Premiere des neuen Bürgerrat-Talks „Bildung und Lernen im Dialog“. Und er schob sofort nach: Langweilig? Ganz sicher nicht. Denn Zensuren sind seit Jahrzehnten eines der am heftigsten diskutierten Themen der Bildungsrepublik.
Wieso überhaupt könnte das Thema als langweilig gelten? Eine mehrere Jahre alte YouGov-Umfrage zeigt: 75 Prozent der Deutschen halten Schulnoten für sinnvoll, nur 20 Prozent lehnen sie ab – also herrscht große Einigkeit, so scheint es jedenfalls. Doch schon eine tiefergehende Befragung der Körber-Stiftung unter Eltern lieferte ein differenziertes Bild: Immerhin 44 Prozent fordern demnach ein neues System, 52 Prozent wollen am bestehenden festhalten – die Hälfte davon allerdings eher skeptisch und nur aus Ermangelung einer Alternative. Offenbar bröckelt die Einhelligkeit, je intensiver sich Bürgerinnen und Bürger mit dem Thema beschäftigen.
Sich intensiv mit dem Für und Wider zu Zensuren beschäftigen – das hat der Bürgerrat Bildung und Lernen getan. Und unlängst folgende Empfehlung gegeben: Bis Klasse 9 keine Ziffernnoten mehr, sondern individuelles Lern-Feedback, schriftlich wie mündlich. Ab Klasse 9 sollen Noten dann wieder hinzukommen, allerdings verbunden mit anonymisierten Prüfungen, um mehr Fairness und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten.
Im Wortlaut heißt es: „Wir wollen den Schüler*innen mit individuellem Lern-Feedback die eigenen Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen und ihnen den Vergleich mit den Anforderungen der Jahrgangsstufe ermöglichen. Für Außenstehende (z. B. Betriebe) schafft dieses ausführliche Lern-Feedback eine größere Transparenz. Die Anonymisierung der Prüfungen vor der Korrektur ermöglicht eine objektivere Bewertung.“
Hintergrund: Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist ein Gremium, das sich aus rund 700 zufällig ausgelosten Menschen zusammensetzt – auch Kinder und Jugendliche bringen dort ihre Perspektiven ein – und das seit 2021 konkrete Vorschläge für ein gerechteres und zukunftsfähiges Bildungssystem erarbeitet. Er wurde von der unabhängigen Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufen. News4teachers ist Medienpartner des Bürgerrat-Talks.
Lin-Klitzing: „Noten sind ein faires, transparentes und für alle nachvollziehbares Instrument“
Am 26. August wurde die Empfehlung des Bürgerrats in Sachen Noten nun erstmals prominent und öffentlich diskutiert – live im Netz. Zu Gast waren Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Quentin Gärtner, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, und Dr. Katharina Roos, Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen. Moderiert wurde die Runde von Andrej Priboschek.
Susanne Lin-Klitzing machte gleich zu Beginn unmissverständlich klar, dass sie für die Beibehaltung von Noten eintritt. „Noten sind ein faires, transparentes und für alle nachvollziehbares Instrument. Sie geben Schülern und Eltern eine klare Rückmeldung – unabhängig davon, wie wortreich oder geschickt jemand formuliert. Eine Zwei ist eine Zwei, und das versteht jeder.“
Sie räumte zwar ein, dass es Ergänzungen brauche: „Natürlich können wir Noten durch Feedback begleiten und erläutern. Aber Noten abzuschaffen, würde den Kindern und Eltern die Orientierung nehmen. Wir dürfen nicht vergessen: Schule muss verständlich bleiben – und dafür braucht es klare Bewertungen.“
Gärtner: „Feedback motiviert mehr als eine Zahl“
Quentin Gärtner widersprach. Der Schülervertreter sagte: „Wir Schüler erleben Noten sehr unterschiedlich. Für viele sind sie ein Druckmittel – etwas, das Angst macht. Wenn ich eine Arbeit zurückbekomme und da steht einfach nur eine Zahl, dann weiß ich oft gar nicht: Was genau war gut, was muss ich verbessern?“
Er betonte, dass er sich vor allem für eine andere Gewichtung in den jüngeren Klassen ausspricht: „Bis Klasse 9 sollte das individuelle Feedback im Vordergrund stehen. Da brauchen wir Rückmeldungen, die uns zeigen, wo wir uns verbessern können. Eine Zahl reicht da nicht aus. Ab der Oberstufe können Noten zusätzlich sinnvoll sein, weil es dann auch um Bewerbungen und Vergleichbarkeit geht.“
Wörtlich führte er aus: „Ich bin nicht grundsätzlich gegen Noten. Aber sie müssen eingebettet sein in eine Rückmeldekultur, die wirklich weiterhilft. Wir wollen lernen – nicht für die Ziffer, sondern fürs Leben. Feedback kann motivieren. Noten allein tun das nicht.“
Roos: „Anonymisierte Prüfungen für mehr Chancengerechtigkeit“
Katharina Roos erläuterte die Sicht des Bürgerrats: „Die Bürgerinnen und Bürger im Rat haben nach intensiven Diskussionen mit großer Mehrheit für das Modell gestimmt: Feedback statt Zensuren in den ersten neun Schuljahren – und ab Klasse 9 Noten mit anonymisierten Prüfungen.“ Sie hob hervor, dass es vor allem um Fairness gehe: „Die Anonymisierung verhindert, dass persönliche Eindrücke oder Vorurteile in die Bewertung einfließen. Erst nach der Korrektur erfahren die Lehrkräfte, welches Kind hinter welcher Arbeit steckt. Dann können sie gezielt fördern.“
Roos machte deutlich, dass die Empfehlung des Bürgerrats nicht leichtfertig entstanden ist: „Wir haben über Monate hinweg diskutiert, gestritten, Argumente abgewogen. Am Ende stand ein klares Votum – 77 Prozent der Erwachsenen und sogar 88 Prozent der Jugendlichen im Bürgerrat haben zugestimmt. Das zeigt, wie groß das Bedürfnis nach Veränderung ist.“
Gleichzeitig warnte sie vor einer zu technischen Sichtweise: „Natürlich müssen rechtliche Fragen zur Anonymisierung von Prüfungen geklärt werden. Natürlich braucht es Fortbildungen für Lehrkräfte, um Feedback professionell zu gestalten. Aber die Botschaft ist eindeutig: Wir wollen ein System, das gerechter ist und das Schülerinnen und Schüler ermutigt, ihr Potenzial auszuschöpfen.“
Im Verlauf der Diskussion ging es immer wieder um die Frage, was Noten eigentlich leisten. Lin-Klitzing betonte: „Noten messen Leistung – nicht Verhalten, nicht Persönlichkeit. Sie sind ein Maßstab, der für alle gilt.“ Gärtner sah das anders: „Wir erleben, dass Lehrerinnen und Lehrer sehr unterschiedlich bewerten – und manchmal fließt eben doch mit ein, wie jemand im Unterricht wirkt. Genau das empfinden wir als ungerecht.“
Am Ende bat Moderator Priboschek die Gäste, jeweils eine Eigenschaft für ein faires Bewertungssystem zu nennen. Susanne Lin-Klitzing entschied sich für „Transparenz“. Quentin Gärtner wählte „Motivation“. Katharina Roos betonte „Chancengerechtigkeit“.
Eines wurde klar: Schulnoten sind alles – nur nicht langweilig. Sie bleiben eine pädagogische Grundsatzfrage, die Schüler, Eltern und Lehrkräfte gleichermaßen bewegt. Und die Debatten um die Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen gehen weiter: Am 11. September folgt der nächste Bürgerrat-Talk zum Thema „Freiheit in der Bildung“. Im Oktober steht ein Streitgespräch über Hausaufgaben an. Den Höhepunkt bildet die große Bürgerrats-Konferenz am 21. und 22. November in Berlin – mit einem Live-Talk zur Frage, wofür das gegliederte Schulsystem eigentlich steht.
Katharina Roos beendete die Runde mit einem klaren Appell: „Es geht nicht darum, Schule bequemer zu machen. Es geht darum, sie gerechter zu machen. Wir wollen, dass jedes Kind die Chance bekommt, seine Stärken zu entwickeln – ohne dass eine Zahl auf dem Papier schon früh über Zukunftschancen entscheidet.“ News4teachers