BERLIN. Grundschullehrkräfte berichten, dass immer mehr Kinder schon in der ersten Klasse überfordert sind. Konzentrationsprobleme, fehlende Selbstständigkeit, mangelnde Sprachkenntnisse – was früher Ausnahme war, scheint heute Alltag zu sein. Eine Umfrage bestätigt: Erstklässler bringen heute deutlich mehr Defizite mit als noch vor zehn Jahren. Allerdings geht die Schere dabei auseinander: Die Startchancen von Schulanfängern hängen in Deutschland so stark von der sozialen Herkunft ab wie in kaum einem anderen Land.
„Seit zehn Jahren unterrichte ich Erst- und Zweitklässler – und mein Job ist anstrengender geworden.“ Lisa Taberner (Name geändert), 52, Grundschullehrerin aus Niedersachsen, klingt erschöpft, wenn sie der Zeit schildert, was sie in ihren Klassen wahrnimmt. „Die Kinder und ihre Verhaltensweisen haben sich verändert. Ich beobachte beispielsweise, dass Erstklässler immer mehr um sich selbst kreisen. Sie wissen nicht, was es bedeutet, Teil einer Gruppe zu sein.“
Die Pädagogin beschreibt eine Situation, die vielen Kolleginnen und Kollegen inzwischen bekannt vorkommen dürfte: „Wenn ich mich beispielsweise mit einem anderen Kind unterhalte, warten sie nicht ab, sondern platzen dazwischen und reden auf mich ein. Das stört mich und das Kind, mit dem ich gerade rede oder arbeite, und führt dazu, dass ich immer wieder neu anfangen muss.“
Nicht nur im sozialen Verhalten sieht Taberner eine Verschiebung. Auch im Unterrichtsalltag merke sie deutliche Unterschiede: „Die meisten Schüler und Schülerinnen hören nur aktiv zu, wenn sie das Thema interessiert. Sie sind sehr lustorientiert, alles muss Spaß machen. Wenn ich etwas vorlese oder vorspiele, das anfangs etwas trocken erscheint, können viele es anschließend nicht wiedergeben.“
Besonders irritierend findet sie, dass sich immer mehr Kinder ungern bewegen: „Während früher alle Kinder kreischend losgerannt sind, sitzen viele heute lieber auf der Bank und warten. Ich frage mich dann: Was ist los mit euch? Warum macht ihr nichts? Wo ist euer Bewegungsdrang?“
Auch die Selbstständigkeit hat nach ihren Beobachtungen abgenommen. „Oft muss ich dann durch den Klassenraum laufen und allen einzeln helfen, was mich viel Zeit kostet.“ Früher sei vieles – vom Schleifebinden über das Schneiden mit der Schere bis zum richtigen Halten des Stiftes – selbstverständlich gewesen. „Vieles, was früher im Kindergarten oder zu Hause erlernt und geübt wurde, wird an mich ausgelagert. Der eigentliche Lehrauftrag leidet darunter.“
ARD-Umfrage: 87 Prozent der Grundschullehrkräfte sehen mehr Defizite als vor zehn Jahren
Was Taberner und zwei ihrer Kolleginnen in Protokollen beschreiben, die in der Zeit nun erschienen sind, ist kein Einzelfall. Eine aktuelle ARD-Befragung unter knapp 7.000 Grundschullehrkräften zeigt: 87 Prozent geben an, dass Kinder in der ersten Klasse heute deutlich mehr Defizite aufweisen als noch vor zehn Jahren – und zwar unabhängig davon, ob sie an einer Brennpunktschule oder in einem wohlhabenderen Einzugsgebiet unterrichten.
Besonders häufig nennen die Lehrkräfte Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme bei der Feinmotorik und Sprachdefizite. Als Hauptgrund wird ein bildungsfernes Elternhaus genannt.
Alarmierend: Mehr als die Hälfte (52 Prozent) hat keine zusätzlichen Stunden für gezielte Förderung wie Sprachunterricht zur Verfügung. Weitere 28 Prozent verfügen lediglich über eine Stunde pro Woche. Die Folge: Viele Kinder können dem Unterricht nicht ausreichend folgen – und fallen schon in der ersten Klasse zurück.
„Ich bin nicht nur Lehrerin, sondern auch Therapeutin und Sozialarbeiterin“
Marlies Hoffmann (Name ebenfalls geändert), 52, leitet in Berlin eine Grundschule mit der höchsten sogenannten Schultypisierungsstufe – im Klartext: eine Brennpunktschule. „Ich nehme eine deutliche Verschlechterung der schulischen Leistung der Kinder wahr. Es gibt kaum eine Kompetenz, die nicht betroffen ist, sei es motorisch, sozial, was auch immer. Viele Kinder wissen nicht, wie man sich in der Schule orientiert, eine Hose zumacht oder allein zur Toilette geht“, sagt sie der Zeit.
Besonders groß sind die Probleme bei Kindern, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kommen – und dort aufgrund Personalmangels nicht ausreichend gefördert werden. „Wir müssen also Dinge aufholen, die Kinder eigentlich schon mitbringen sollten.“
Hoffmann wünscht sich ein verpflichtendes Vorschuljahr, um Basisfähigkeiten und Sozialverhalten zu vermitteln. Doch stattdessen erlebt sie, wie viel Zeit für Elternarbeit draufgeht: „Ich würde die Kinder gerne mehr unterrichten, aber dazu komme ich oft nicht, weil ich viel Arbeit mit den Eltern habe. Sie vertrauen uns oft nicht, weil sie selbst Bildungsverlierer sind.“
Dazu kommen beengte räumliche Verhältnisse: „In unserer Mensa ist Platz für 75 Kinder, bei uns essen aber täglich 400. Einzel- oder Kleingruppenförderung ist kaum möglich. Deshalb funktioniert es mit der Inklusion an unserer Schule nicht.“
Was sie besonders bedrückt: „Viele Kinder können nicht ihren Namen schreiben, zählen, mit einer Schere umgehen oder den Stift richtig halten. Und wenn sie diese Aufgaben nicht schaffen, merken sie, dass sie gescheitert sind. Mir bricht es immer wieder das Herz. Die meisten Kinder hier sind im Prinzip schon ab Tag eins Bildungsverlierer.“
„Früher habe ich gesagt, mein Beruf ist eine Saisonarbeit. Heute ist immer Saison. Ich bin nicht nur Lehrerin und Schulleiterin. Ich bin auch Therapeutin, Sozialarbeiterin, Krisenmanagerin.“
DIW-Studie: Soziale Herkunft entscheidet in Deutschland besonders stark über Startchancen
Wie dramatisch die Startbedingungen von Kindern in Deutschland voneinander abweichen, belegt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in Kooperation mit der Universität Leipzig.
Das zentrale Ergebnis: In keinem der untersuchten Länder – darunter Frankreich, Japan, die USA und das Vereinigte Königreich – hängt die sprachliche Kompetenz von Schulanfängerinnen und Schulanfängern so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland.
Laut Studienautor Jascha Dräger erklärt die elterliche Bildung in Deutschland allein 16,9 Prozent der Unterschiede in den sprachlichen Fähigkeiten bei Schuleintritt, zusammen mit dem Haushaltseinkommen sogar 19,5 Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich sind es 6,8 Prozent, in Japan 4,6 Prozent. Auch bei den Mathematikkompetenzen ist die soziale Kluft groß – ähnlich stark nur noch in den USA.
Die Forschenden fordern daher flächendeckend gebührenfreie und hochwertige frühkindliche Bildung sowie gezielte Unterstützung benachteiligter Familien beim Kita-Zugang. „Besonders gebührenfreie und hochwertige Betreuungsangebote […] könnten dazu beitragen, die Startchancen für Kinder unabhängig von ihrem familiären Hintergrund zu verbessern“, so Dräger.
„Die Erwartungshaltung vieler Eltern ist hoch“
Helga Schumacher (Name geändert), 59, leitet eine Ganztagsgrundschule in Hessen – und bestätigt gegenüber der Zeit die Befunde der DIW-Studie. „Insgesamt sind die Kinder heute deutlich heterogener“, sagt sie und betont: „Während es früher beim Test zum Schuleintritt in der Regel kein Problem gab, wenn die Schüler etwas ausschneiden oder Linien nachzeichnen sollten, ist das heute ganz anders.“
Zwar besuchen alle Kinder vor der Einschulung ein Vorschuljahr, doch die Defizite bleiben. „Viele können sich nicht gut ausdrücken, einfügen oder Rücksicht nehmen. Ihnen fehlt es an sozialer Kompetenz.“ Auch im Alltag fehlten früher selbstverständliche Fähigkeiten: „Wenn Kinder heute nicht wissen, wie man eine Brotdose öffnet oder Schleifen bindet, zeigt das: Es wird weniger gemeinsam geübt. Digitale Medien übernehmen häufiger die Rolle von Eltern – abends wird gestreamt, anstatt vorgelesen.“
Gleichzeitig beobachtet sie eine wachsende Selbstsicherheit: „Viele können schon früh über ihre Gefühle sprechen, äußern ihre Meinung, reflektieren sich erstaunlich erwachsen. Aber sie hinterfragen auch öfter Anweisungen.“
Problematisch sei zudem der Umgang mancher Eltern mit der Schule: „Die Erwartungshaltung ist hoch: Gute Noten ab der ersten Klasse, individuelle Förderung, Erziehungsberatung – all das wird inzwischen als selbstverständlich angesehen.“ Viele wollten mitbestimmen, manche sogar den Unterrichtsinhalte verändern.
„Gleichzeitig übertragen Eltern mehr Verantwortung an uns Lehrkräfte – nicht nur für die Bildung der Kinder, sondern wir sind nun auch stärker dafür verantwortlich, sie zu erziehen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln“, sagt Schumacher. Dass das noch funktioniert, liege nur daran, dass Assistenzlehrkräfte den Alltag in den ersten Klassen unterstützen. News4teachers
Hier geht es zu den Protokollen in der “Zeit”.
Verloren im Kita-Stress: Warum immer mehr Kinder schon überfordert in der Grundschule ankommen