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Studierunfähig? „Unsinn!“ Warum die Debatte ums Abitur überzogen ist (und trotzdem über den Übergang auf die Uni gesprochen werden muss)

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PASSAU. Während Politiker und Lehrerverbände im Chor (ausgerechnet) mit der Bild-Zeitung Alarm schlagen und die Studierfähigkeit von Abiturientinnen und Abiturienten grundsätzlich infrage stellen, widerspricht Prof. Ulrich Bartosch entschieden: Der Präsident der Universität Passau und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz räumt mit Mythen auf, warnt vor vorschnellen Urteilen – und zeigt auf, wie Schulen und Hochschulen besser zusammenarbeiten könnten, um Bildungsbrücken statt Brüche zu schaffen.

Übergangshilfe. Illustration: Shutterstock

Kaum sind die Abiturprüfungen geschrieben, beginnt das jährliche Ritual: Medien, Lehrerverbände und Politiker hinterfragen den Wert des höchsten deutschen Schulabschlusses. Diesmal lautet die Diagnose besonders drastisch: „Noteninflation!“, ruft CDU-Politiker Christoph Ploß. „Eine Flut an Einser-Abis“, beklagt Lehrerverbandspräsident Stefan Düll. Und die Bild titelt: „Immer mehr Abiturienten brauchen Nachhilfe für die Uni.“ (News4teachers berichtete.)

Prof. Ulrich Bartosch, Präsident der Universität Passau und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, war darin zitiert worden – als Kronzeuge für die These vom Verfall der Studierfähigkeit. Doch der Erziehungswissenschaftler widerspricht nun deutlich. In einem ausführlichen Interview mit ZEIT Campus zieht er eine differenzierte Bilanz. Seine Botschaft: Die Lage ist ernst, aber ganz bestimmt keine Katastrophe.

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Missverstanden in der „Bild“: „Ich habe nicht gewarnt“

Zunächst distanziert sich Bartosch von der Darstellung der Bild-Zeitung: „Ich habe nicht gewarnt, da fühle ich mich missverstanden. Ich wollte sagen: Wir müssen genau hinschauen, welche Schwierigkeiten Studienanfänger heute haben. Das ist keine Kritik an den Schulen oder am gegenwärtigen Abitur. Es gibt aus meiner Sicht keine empirische Grundlage für die These, das Abiturniveau sei immer schlechter geworden.“

Zwar gebe es die Wahrnehmung von Lehrenden, dass viele Studienanfänger etwa in Mathematik Probleme hätten. Aber: „Es wäre schön, wenn wir eine bessere Datengrundlage hätten. Ich kann die Wahrnehmung meiner Kolleginnen und Kollegen nicht näher durch Studien belegen. Aber es gibt diese Beobachtung nun mal, und darauf muss ich reagieren.“

Damit stellt sich Bartosch gegen die pauschale Abwertung des Abiturs, wie sie manche Lehrerverbände oder konservative Politiker äußern. Zwar zeigt etwa eine Statistik der Bundeszentrale für politische Bildung, dass sich die Zahl der Abiturienten mit der Note 1,0 bis 1,4 seit 2006 deutlich erhöht hat. Doch ob dies automatisch auf eine Abwertung hinweist, ist wissenschaftlich keineswegs belegt.

Bildungsforscher wie Prof. Olaf Köller vom IPN Kiel weisen darauf hin, dass auch andere Faktoren dafür verantwortlich sein können – etwa eine bessere individuelle Förderung an Schulen, die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft oder eine veränderte pädagogische Bewertungskultur, die stärker auf individuelle Lernfortschritte achtet.

Auch der rheinland-pfälzische Bildungsminister Sven Teuber warnt davor, den schulischen Erfolg junger Menschen pauschal infrage zu stellen: „Gute Noten sind kein Problem, solange sie auf echter Leistung beruhen.“ Die Kultusministerkonferenz wiederum verweist auf die Standardisierung durch das Zentralabitur und betont, dass diese eher zu mehr Transparenz und besserer Vorbereitung geführt habe – nicht zu einer Absenkung der Anforderungen.

„Es ist ein Irrglaube, dass man zum Studieren alles schon können und wissen müsste“

Bartosch benennt Probleme – aber differenziert. Dass der Übergang von der Schule in die Hochschule für viele holprig ist, streitet er nicht ab: „Gerade in der Mathematik und in den Naturwissenschaften gibt es offenbar Probleme, auch das schon seit Jahren. Da geht es nicht um höhere Mathematik, sondern teils um Grundlagenfertigkeiten wie Bruchrechnung oder Potenzregeln.“

Aber: Daraus auf ein generelles Versagen der Schule zu schließen, sei falsch. Für Bartosch ist klar: „Es ist ein Irrglaube, dass man zum Studieren alles schon können und wissen müsste. Auf die Studiertauglichkeit kommt es ja gerade dann an, wenn Sie mit neuen, unvertrauten Problemen konfrontiert sind.“ Auch die Forderung nach härteren Auswahlverfahren an Hochschulen hält er für problematisch: „Man kann ein schlechter Schüler sein und später im richtigen Studienfach den Schalter umlegen und aufblühen, auch in Mathe oder Physik.“

Warum der Einstieg ins Studium trotzdem schwer fällt

Für Bartosch liegen die Ursachen der Schwierigkeiten eher in den strukturellen Bedingungen – und in den Veränderungen der Gesellschaft selbst: „Studierende stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen als früher. Hinter ihnen liegt eine katastrophale Schulphase in der Pandemie. Das wirkt sich auf die Studierfähigkeit aus, bei manchen auch auf Fachkenntnisse. Überhaupt sind Studierende viel heterogener. Heute erwerben nicht mehr sieben Prozent die Hochschulzugangsberechtigung wie noch vor ein paar Jahrzehnten, sondern etwa die Hälfte.“

Hinzu kämen neue Lernbedingungen durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz: „KI macht es viel schwieriger, junge Studierende zu motivieren, Aufgaben und Probleme eigenständig zu lösen.“ Ein klares Plädoyer formuliert Bartosch gegen den Begriff des Studienabbruchs. Dieser sei viel zu negativ konnotiert: „Ich halte nichts von dem Wort Abbruch. Das klingt nach Versagen. Wer sein Studium nicht beendet oder das Fach wechselt, hat nicht versagt. Studienfachwechsel gehören dazu. Sie können der Beginn toller Bildungsbiografien sein.“

Gleichzeitig fordert er bessere Begleitung durch die Hochschulen, um solche „Krisen“ nicht ausufern zu lassen: „Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass Studierende zwei oder drei Jahre ihres Lebens in ein Fach investieren, in dem sie dann nicht erfolgreich sind.“

Auswahlverfahren, Brückenkurse, Orientierungshilfen

Was also tun? Bartosch plädiert für einen Mix aus besserer Beratung, frühzeitiger Orientierung und strukturellen Angeboten: „Studium-Interessentests, studiengangübergreifende Orientierungsprogramme, Self-Assessments und Schnupperstudien sind hilfreich. So kann man schon mal abklopfen, wie gut die eigenen Fähigkeiten zum Studium passen.“

Auch Brückenkurse seien sinnvoll – nicht als Reparaturbetrieb, sondern als Übergangshilfe. Zudem lobt Bartosch innovative Modelle wie das Leuphana-Semester in Lüneburg, bei dem Studierende über Fächergrenzen hinweg wissenschaftliches Arbeiten lernen: „Entscheidend ist, einen Studiengang so aufzubauen, dass Studierende gut in die ersten Uniwochen hineinfinden, die sie oft als überfordernd empfinden.“

Ein Reformansatz müsse auch die Schulen einbeziehen. Dafür brauche es echte Kooperationen: „Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Hochschulen muss besser werden. Meine Uni in Passau erprobt zum Beispiel an neun Schulen eine inklusive Begabungsförderung für alle Schülerinnen und Schüler, nicht nur die mit den besten Noten. Das schafft Bildungsbrücken.“

Ähnlich hatte bereits Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen argumentiert: Sie forderte angesichts der aktuellen Diskussionen über die Studierfähigkeit einen engeren Austausch zwischen Schule und Hochschule – und stellte in der Rheinischen Post die Grundsatzfrage: „Schicken wir sie auch mit dem richtigen Rüstzeug in Ausbildung oder Studium?“ Angesichts wachsender Klagen über Defizite in Mathematik oder naturwissenschaftlichen Grundlagen plädiert sie für einen „neuen Abgleich“ zwischen den Erwartungen der Hochschulen und den schulischen Standards.

Ulrich Bartosch zeigt in seinem Interview: Die Probleme beim Übergang von Schule zur Hochschule sind real – aber keine Folge einer angeblichen „Verdummung“ der Jugend. Vielmehr fordert er systemische Antworten auf eine zunehmend komplexe Bildungsrealität. Der Erziehungswissenschaftler verweist dabei auf eine lange Geschichte bildungspolitischer Klagen: „Solche Klagen findet man durch die gesamte Bildungsgeschichte. […] Der Schritt vom Schulalltag ins Universitäre ist enorm und war es schon immer.“

Und wer die heutige Abiturientenschaft pauschal als unfähig abtut, bekommt von ihm ein entschiedenes Schlusswort: „Was für ein Unsinn! Wer wäre ich, die jungen Leute so zu verurteilen?“ News4teachers

Hier geht es zum vollständigen Interview mit Prof. Bartosch in der “Zeit”. 

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