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Auf verlorenem Posten: Im Brennpunkt, 30 Kinder pro Klasse, die meisten sprechen kein Deutsch – eine Lehrerin berichtet

DORTMUND. „Es kommen immer wieder Kinder in die Schule, ohne auch nur ein Wort Deutsch zu können. Und das sind keine Ausnahmen oder Einzelfälle mehr, es ist fast die Regel“, sagt Nadine M., Grundschullehrerin im Ruhrgebiet. Doch Zeit und Unterstützung fehlen: Statt mit 18 Kindern, wie noch vor einigen Jahren, unterrichtet sie heute bis zu 30 in einer Klasse. Individuelle Förderung? Kaum möglich. Vorschulische Sprachförderung? Meist Fehlanzeige – und so beginnt für viele ihrer Schüler die Bildungskarriere praktisch chancenlos. „Was tut man den Kindern damit an?“, fragt die Lehrerin. Eine rhetorische Frage.

Auf verlorenem Posten. Illustration: Shutterstock

Nadine M. ist Grundschullehrerin im Ruhrgebiet – seit 15 Jahren. Die Schule, an der sie arbeitet, hat sie sich bewusst ausgesucht: ein sozial benachteiligtes Viertel, Migrationsanteil rund 98 Prozent, gemeinsames Lernen mit Kindern, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Sie wollte das, aus Überzeugung: „Ich habe mich bewusst für all dies entschieden, weil ich einen gewissen Idealismus hatte. Ich wollte nicht nur unterrichten, sondern jedem Kind das Gefühl geben, dass es wichtig ist, dass es Fähigkeiten hat, dass es sich lohnt, immer sein Bestes zu geben.“

Heute klingt in ihren Worten, die die „Welt“ protokolliert und veröffentlicht hat, vor allem Verzweiflung. Angefangen hat sie mit 18 Kindern pro Klasse. „So war es möglich, jedes Kind individuell zu begleiten. Kinder in diesem Alter sind oft sehr mitteilsam. Sie kommen morgens in die Schule und wollen erstmal erzählen. Als Lehrkraft ist es wichtig, die Zeit zu haben, um darauf einzugehen.“

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Wie ist die Situation in der Schule im Brennpunkt?

Doch diese Zeit gibt es längst nicht mehr. Statt 18 sind es inzwischen 26 bis 30 Kinder. „Vieles, was mit 18 Kindern möglich war, ist mit 30 nicht mehr machbar. Haben Sie schon mal Laternen gebastelt mit 30 Kindern, bei denen über die Hälfte nicht mal vernünftig etwas mit der Schere ausschneiden kann? Oder noch nicht mal die einfachsten Anweisungen versteht, obwohl man es erklärt, vorgebastelt hat und Schritt für Schritt anhand von Bildern zeigt?“

Besonders bedrückt sie, dass viele Kinder kaum sprachliche Voraussetzungen mitbringen: „Es kommen immer wieder Kinder in die Schule, ohne auch nur ein Wort Deutsch zu können. Und das sind keine Ausnahmen oder Einzelfälle mehr, es ist fast die Regel.“ Vorschulische Sprachförderung ist in Nordrhein-Westfalen – anders als etwa in Hamburg – nicht obligatorisch. Auch schulische Sprachförderprogramme sind nicht flächendeckend abgesichert. „Da kommt so ein kleines Kind in ein Gebäude mit vielen anderen Kindern und Erwachsenen, kennt sich nicht aus, ist fremd und kann sich nicht mal verständigen. Nicht mal ausdrücken, dass es auf Toilette muss oder wann und ob seine Eltern es wieder abholen.“

Neben diesen fundamentalen Lernhindernissen sind es die praktischen Widrigkeiten, die Nadine M. zermürben: fehlendes Material, marode Gebäude, Eltern, die Unterstützung verweigern oder Lehrer beschimpfen. „Natürlich zahlt man dieses Material als Lehrer selbst. So wie viele Kolleginnen und Kollegen Regale oder sonstiges Mobiliar selber kaufen, damit die Klassenräume einigermaßen ‚nett‘ aussehen und nicht mit Regalen aus den 70ern vollstehen, deren Böden rausfallen. Ganz zu schweigen davon, dass in vielen Schulen der Putz von den Wänden fällt.“

Warum liegt NRW im Bildungsmonitor so weit hinten?

Die persönlichen Beobachtungen decken sich mit Zahlen. Im Bildungsmonitor 2025 – herausgegeben vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) – landet Nordrhein-Westfalen erneut auf Platz 14 von 16 Bundesländern. Bewertet wird dabei, wie stark die Bildungssysteme der Länder zur Armutsbekämpfung, Fachkräftesicherung und wirtschaftlichem Wachstum beitragen.

Ein zentrales Defizit: die Finanzen. Die Bildungsausgaben pro Grundschüler lagen 2023 in NRW bei 7.500 Euro – 900 Euro unter Bundesdurchschnitt (8.400 Euro). Auch die Klassengrößen ragen negativ heraus: Mit durchschnittlich 23,5 Kindern pro Grundschulklasse (laut IT.NRW 2023) führt NRW bundesweit – und liegt 2,6 Kinder über dem Schnitt.

Wie groß ist der Einfluss von Migration?

Laut Landesstatistikamt IT.NRW besuchten im Schuljahr 2024/25 rund 1,1 Millionen Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in NRW – das entspricht 44,3 Prozent aller Kinder und Jugendlichen (IT.NRW, 10/2024). Damit liegt NRW insgesamt nur leicht über dem Bundeswert von 42,2 Prozent (Mikrozensus 2024).

Doch in einzelnen Kommunen zeigen sich die wahren Belastungen. So hatten im Schuljahr 2023/24 in Wuppertal 58,6 Prozent, in Duisburg 58,3 Prozent und in Gelsenkirchen 57,7 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund – die höchsten Werte in ganz NRW. Für Lehrerinnen wie Nadine M. heißt das: Fast jede Klasse ist geprägt von Mehrsprachigkeit, Integrationsaufgaben und zusätzlichen Förderbedarfen – oft ohne die nötigen Ressourcen.

Was sagen die Lehrerverbände?

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) NRW macht deshalb für die schlechten Ergebnisse nicht die Pädagogen verantwortlich, sondern die Rahmenbedingungen. Vorsitzender Stefan Behlau erklärt: „Das schlechte Abschneiden NRWs liegt an den Bedingungen und geht nicht auf das Konto der Menschen in Schule. Ohne ihr starkes Engagement stünden wir noch schlechter da.“ Nötig seien kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams, moderne Räume und eine Ausstattung, die individueller Förderung gerecht werde.

Wie dramatisch ist die Lage im Ruhrgebiet?

Besonders dramatisch ist die Lage im Ruhrgebiet – dort, wo auch Nadine M. unterrichtet. Der Bildungsbericht Ruhr 2024 dokumentiert massive Defizite entlang der gesamten Bildungskette. So hat sich die Zahl der Fünfjährigen, die nicht in einer Kita betreut werden, in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. In manchen Städten erhält jedes sechste Vorschulkind keinen Platz. Besonders betroffen: Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die eine frühe Förderung dringend bräuchten.

Etwa ein Drittel der Grundschulen im Revier gilt inzwischen als „Schulen in herausfordernder Lage“. Fachkräfte fehlen dort in besonderem Maße. Das hat Folgen: Mehr als vier Fünftel der Achtklässler an Hauptschulen im Ruhrgebiet erreichen nicht die Mindeststandards im Fach Deutsch – eine Zahl, die die Studienautoren als „erschreckend“ bezeichnen.

Auch finanzielle Not verschärft die Situation. Viele Städte im Ruhrgebiet sind hoch verschuldet und können sogenannte freiwillige Leistungen wie Schulsozialarbeit oder Sprachförderprogramme kaum stemmen. „Das Ruhrgebiet benötigt dringend eine Bildungswende, um allen gleichermaßen Chancen zu eröffnen“, heißt es im Bericht.

Wie sehr fehlen die Eltern als Partner?

Nadine M. sieht das Problem nicht nur in fehlenden Strukturen, sondern auch im mangelnden Rückhalt vieler Familien. „Es fehlt oft die Unterstützung der Eltern. Hausaufgaben werden nicht erledigt, Lesen wird nicht geübt, nötiges Material ist häufig nicht vorhanden. Teils ist ein reibungsloser Unterricht nur möglich, wenn man genügend Klebestifte, Bleistifte, Radiergummis, Scheren und Anspitzer bereitstellt.“ Manche Eltern verweigerten auch die Kooperation, wenn es um Förderbedarf gehe. „Berät man die Eltern zu sonderpädagogischem Förderbedarf, lehnen viele dies ab, weil sie glauben, dass ihr Kind dafür viel zu ‚schlau‘ sei. Die Beurteilungsfähigkeit von Lehrern wird immer stärker infrage gestellt. Ich bin in so einem Gespräch von einem Vater stark beschimpft und beleidigt worden.“

Das setze sich bis in den Alltag fort: Regeln würden von Eltern wie Kindern ignoriert. „Wenn ich meinem Kind beibringe, die Regeln in der Schule sind eh nicht wichtig, welche Erwachsenen ziehen wir uns damit heran, für die keinerlei Regeln mehr gelten?“

„Unsere Kinder brauchen Zuwendung“

Trotz all der Widrigkeiten bleibt Nadine M. im Beruf – auch, weil sie ein starkes Kollegium hat. „All dies kann ich nur aushalten, weil ich ein tolles Team habe. Menschen, die dafür brennen, Kinder zu unterrichten. Die täglich alles geben, um da zu sein, mit all ihrem Wissen, ihrem Engagement und ihrer Herzlichkeit.“ Doch sie betont auch: „Unsere Kinder brauchen Zuwendung, Akzeptanz, Unterstützung und Lehrkräfte, die sich für sie einsetzen. Und davon gibt es in diesem Land eine ganze Menge – das sollte die Gesellschaft langsam mal wieder begreifen.“ News4teachers

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