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“Kontrollwahnsinn”: Lehrkräfte und Eltern kritisieren Bayerns (Söders) Leistungsbegriff

MÜNCHEN. Das Schulsystem in Bayern muss sich nach Ansicht des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) und des Bayerischen Elternverbands (BEV) grundlegend verändern. Es brauche eine andere Form des Lernens und ein anderes Leistungsverständnis, fordern BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann und die stellvertretende Vorsitzende des BEV, Angela Wanke-Schopf, in der Süddeutschen Zeitung. An diesem Dienstag beginnt in Bayern das neue Schuljahr.

“Mainstream-Geschmack”: Markus Söder (bei einem Auftritt in einer CDU-Veranstaltung). Foto: Shutterstock / Ryan Nash Photography

„In unserer bayerischen Gesellschaft leben wir einen scharfen Leistungsbegriff, viele sind unterwegs in dem Kontrollwahnsinn“, sagt Fleischmann. „Alternative Formen der Leistungserhebung, die gibt’s aber schon, die stehen in den Lehrplänen, aber das trifft den Mainstream-Geschmack der Söderianer nicht.“

Hintergrund: Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte im vergangenen Herbst per Machtwort das Fortbestehen der unangekündigten Tests verkündet. Nach Angaben des Kultusministeriums wird es die bei vielen Schülerinnen und Schülern besonders ungeliebten „Exen“ weiter geben. Es liegt aber weiterhin im Ermessen der Lehrkräfte, wie sie damit umgehen.

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Wanke-Schopf sagt: „Wir vom BEV sind ganz klar für die Abschaffung der unangekündigten ‘Exen’ und dieses Abfragen, also dieses ‘An die Tafel holen und dann eine Viertelstunde oder halbe Stunde fragen, bis der Schüler die Nerven verliert und eine schlechte Note bekommt’.“ Es brauche eine andere Prüfungskultur. „Warum nicht individuelle Projekte machen und darüber einen Test schreiben? Warum sollen die Lehrer nicht im Gespräch Noten machen?“, fragt Wanke-Schopf. „Brauchen wir Noten überhaupt? Ich finde, da sollte man viel größer denken.“

Kontrolle statt Motivation?

Fleischmann schlägt in dieselbe Kerbe: „Note, Schulaufgabe, Überraschungs-Ex sind Ausdruck eines Leistungssystems, das auf Kontrolle angelegt ist. Wenn du Schule unter der Überschrift Kontrolle lebst, dann passt das gut zusammen. Wenn du Schüler individuell begleiten willst, wenn du willst, dass sie Bock haben zu lernen und das ein Leben lang, dann ist der Blick mit der Kontrollbrille nicht richtig.“Auch BEV-Vertreterin Wanke-Schopf kritisiert das System: „Für mich gibt es keinen Grund, Kinder so in die Falle tapsen zu lassen. Wir müssen uns eine andere Prüfungskultur aneignen.“

Immerhin: Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) hat eine Arbeitsgruppe zur Prüfungskultur ins Leben gerufen, an der auch der BLLV beteiligt ist. Noch in diesem Schuljahr sollen erste Ergebnisse vorliegen. Fleischmann sieht darin eine Chance für mehr faktenbasiertes Handeln.

Sitzenbleiben und frühes Aussortieren

Dass Bayern nicht auf der Höhe der Zeit sei, zeige sich auch beim Sitzenbleiben, so Fleischmann. Pädagogisch sei das Wiederholen einer Klasse sinnlos: „Die zynische, fehlbenannte Ehrenrunde bringt nämlich genau das Gegenteil. Das Schlimmste dabei ist die Demotivation der Kinder.“ Stattdessen brauche es individuelle Förderung, sobald Lernschwächen erkannt würden. Auch das frühe und harte Aussortieren im Schulsystem sieht der BLLV kritisch. Die Durchlässigkeit sei in der Praxis eine Einbahnstraße nach unten: „Auf drei Absteiger kommt ein Aufsteiger! Ein längeres gemeinsames Lernen wäre eine wirkliche Lösung.“ Für Fleischmann reicht es nicht, an einzelnen Stellschrauben zu drehen: „Jetzt auf einmal sechs Jahre aus den vieren zu machen, bringt alleine nicht das, was wir wollen. Vielmehr muss sich das Lernen grundlegend ändern und somit das Leistungsverständnis.“

Als positives Beispiel nennt sie die Eichendorff-Mittelschule in Nürnberg-Erlangen, die durch offene Lernkonzepte, gute Diagnostik und angstfreies Lernen – gerade in Mathematik – großen Zuspruch erhält. Solche Schulen zeigten, dass individuelle Förderung funktioniert und auch für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgt. Der Mangel an Lehrkräften verschärft die Situation allerdings zusätzlich. Um Nachwuchs zu gewinnen, müsse der Beruf attraktiver werden, fordert Fleischmann – mit besseren Arbeitsbedingungen, mehr Personal und gesellschaftlicher Wertschätzung. „Wir brauchen mehr begeisterte Lehrer“, sagt sie. News4teachers / mit Material der dpa

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