Website-Icon News4teachers

Warum neu zugewanderte Roma-Kinder so schwer in deutsche Schulen zu integrieren sind – die Hintergründe

DUISBURG. Vor zehn Tagen berichtete News4teachers über neu zugewanderte Roma-Familien, die Schulen in deutschen Brennpunkt-Vierteln zunehmend vor Herausforderungen stellen. Der Beitrag stieß auf riesiges Interesse. Anlass, die Hintergründe zu beleuchten. Was in deutschen Klassenzimmern sichtbar wird, beginnt weit entfernt: in den Slums der Slowakei, in segregierten Schulen Bulgariens, in diskriminierenden Systemen Ungarns und Tschechiens. Roma-Kinder werden in weiten Teilen Europas von echter Bildung ausgeschlossen – mit Folgen, die dann eben auch in Deutschland spürbar sind.

Roma-Kinder im rumänischen Agăș, wo sie im Sommer mit ihren Familien auf der Suche nach Altmetall in provisorischen Zelten leben. Foto: Shutterstock

In Duisburg steht Sören Link vor einem Problem, das längst größer ist als seine Stadt. Klassenräume platzen aus allen Nähten, Lehrkräfte arbeiten am Limit – und immer mehr Kinder kommen ohne ein einziges Wort Deutsch in die Schule. „Das bekommen Schulen allein nicht hin“, sagt der SPD-Oberbürgermeister (News4teachers berichtete).

Das, was in Duisburg und anderen deutschen Städten an Überforderung sichtbar wird, ist die letzte Station einer Entwicklung, die in Südosteuropa beginnt – dort, wo Armut, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit ganze Generationen der Roma an Bildung hindern. Viele Familien, die heute in deutschen Städten ankommen, bringen keine Schulgeschichte mit, weil es in ihren Herkunftsländern kaum eine gibt. Und das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines europäischen Versagens: In Bulgarien, Ungarn, Tschechien oder Rumänien werden Roma-Kinder bis heute systematisch ausgegrenzt. Seit einigen Jahren ziehen Roma von dort verstärkt nach Deutschland – dorthin, wo die Mieten am billigsten sind und sich die Probleme ohnehin schon ballen.

Anzeige

Die Situation in Duisburg oder Ludwigshafen lässt sich nicht verstehen, ohne nach Jarovnice, Sofia oder Ostrava zu blicken. Dort, mitten in der EU, wachsen Roma-Kinder in Verhältnissen auf, die Bildung zur Illusion machen.

In der Slowakei wächst eine Generation auf, für die Schule kaum existiert

Jarovnice, ein Ort in der Ostslowakei, liegt zwischen Hügeln, Feldern – und Elend. Mehr als 7.000 Menschen leben dort in einem Roma-Slum, in notdürftig zusammengefügten Hütten ohne Wasser, Kanalisation, Strom. Zwischen ihnen: Kinder, die barfuß durch Staub und Müll rennen, während andere im Unterricht sitzen sollten.

Eine von ihnen ist Nicola, 15 Jahre alt, Mutter des kleinen Sajmon. Sie wünscht sich gegenüber einem Reporter des MDR, dass ihr Sohn „zur Schule geht und arbeitet“. Aber der Weg dahin beginnt mit einem Hindernis: In Jarovnice gibt es zwar eine Grundschule, doch dort lernen fast ausschließlich Roma-Kinder. Weiße Eltern schicken ihre Kinder woanders hin. Lehrerin Adriana Belejkaničová sagt: „Ich habe das Gefühl, dass sich die Dinge sogar eher zum Schlechteren entwickelt haben.“ Der Unterricht läuft auf Sparflamme, viele Kinder müssen die erste Klasse wiederholen, und von außerhalb kommt kaum jemand, um zu helfen.

Ciprian Necula, Soziologe und Direktor des Roma Education Fund, nennt das „systemischen Rassismus“. In einer DW-Kolumne „Mein Europa“ schreibt er, dass die Roma „in einem historischen Vakuum gefangen sind, einem Teufelskreis, der diesen Zustand der sozialen Verwundbarkeit aufrechterhält“. Bildung wäre der Ausweg – aber das Schulsystem, das Integration verspricht, produziert immer neue Ausschlüsse. Lehrer, die in Roma-Gemeinschaften geschickt werden, seien, so Necula, häufig „sehr schlecht ausgebildet, Ersatzlehrer, Aushilfen oder strafversetzte Lehrkräfte“. Investitionen blieben geringer, Erwartungen niedrig.

In Bulgarien werden Schulen zu Orten der Isolation

Auch in Bulgarien ist das so. An der Grigorij-Tsamblak-Schule in Sofia putzt Schulleiterin Irena Tsukeva die Wände, an die von außen Hakenkreuze geschmiert wurden – mal wieder. „Wir kommen gar nicht mehr hinterher, sie zu säubern“, sagt sie gegenüber der Deutschen Welle. 98 Prozent ihrer Schüler sind Roma. Früher war die Schule gemischt – doch seit dem Jahr 2000 dürfen Eltern die Schule frei wählen. Als mehr Roma-Kinder aufgenommen wurden, meldeten weiße Eltern ihre Kinder ab. So wurde aus einer Gemeinschaftsschule eine reine Roma-Schule.

Lehrer Rossen Bogomilov, selbst Roma, kennt das Gefühl der Ausgrenzung gut: „Ich wurde an zwanzig Schulen abgelehnt, bevor mich Frau Tsukeva eingestellt hat. Man hat mir gesagt, der Grund sei meine Abstammung.“ Die EU-Agentur für Grundrechte stellte fest, dass in Bulgarien inzwischen fast 30 Prozent der Roma-Kinder reine Roma-Schulen besuchen – der höchste Wert in der EU. Für Bogomilov ist das mehr als eine Zahl. Es ist der Alltag seiner Schülerinnen und Schüler, die in einem Land aufwachsen, in dem Gleichberechtigung auf dem Papier steht, aber an der Schultür endet.

Daran knüpft Ciprian Necula an: Für ihn ist Bulgarien ein Lehrbeispiel dafür, wie Bildungspolitik zum Mittel der Ausgrenzung wird – weil Inklusion und Assimilation verwechselt werden. „In den meisten Schulen in Europa lernen die Roma-Kinder nichts über sich selbst“, schreibt er. „Sie lernen, dass Bildung nur dann Wert hat, wenn sie nicht mehr Roma sind.“ Dieses Bildungsideal – Anpassung statt Akzeptanz – habe tiefe Wurzeln, sagt er: „Europa erwartet von Roma einen historischen Sprung, den keine andere Gemeinschaft je ohne Unterstützung hätte schaffen können.“

In Ungarn ist Trennung politisch gewollt – und gesellschaftlich verankert

In Ungarn ist die Segregation längst Teil der politischen Kultur – und sie hat System. In landesweit rund 500 Gemeinden, so schätzen Roma-Aktivisten, werden Kinder noch immer in getrennten Klassen oder ganzen Schulen unterrichtet, die kaum Ausstattung oder qualifizierte Lehrkräfte haben. Besonders deutlich wurde das im Fall von Gyöngyöspata, einer Kleinstadt im Nordosten des Landes: Dort saßen Roma-Kinder über Jahre in separaten Klassenräumen, bekamen schlechteres Unterrichtsmaterial und durften an gemeinsamen Aktivitäten wie dem Schwimmunterricht nicht teilnehmen. Als Ungarns Oberstes Gericht den betroffenen Familien 2020 eine Entschädigung zusprach, reagierte Premier Viktor Orbán wütend: „Ich werde das nicht zulassen. Das ist unser Land.“

„Was in Ungarn passiert, ist kein Zufall, sondern das Resultat eines Kalküls“, sagt Ciprian Necula. „Roma dienen als Spiegelbild einer Mehrheit, die sich über ihre Abwertung definiert.“

In Tschechien bestehen Sonderschulen fort – unter neuem Namen

Tschechien gilt seit Jahren als Prüfstein europäischer Gleichstellungspolitik – und fällt regelmäßig durch. Schon 2007 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Roma-Kinder dort diskriminiert werden – und forderte Reformen. Doch bis heute landen viele von ihnen in sogenannten „praxisorientierten Schulen“, Einrichtungen für Kinder mit leichter geistiger Behinderung. In manchen Regionen ist der Anteil der Roma dort sechsmal höher als in der Mehrheitsbevölkerung. Julius Miko, einer der Kläger von damals, sagt im tschechischen Rundfunk, die Verlegung in eine solche Schule habe ihm „das ganze Leben erschwert“. Doch trotz des Urteils von Straßburg besteht die Segregation fort. Necula nennt sie „eine Form der Disziplinierung – und Europa sieht zu“.

In Rumänien, seinem Heimatland, ist der Teufelskreis noch offensichtlicher. In Cluj, der Millionenstadt im Norden, liegt die Siedlung Pata Rat direkt neben einer Mülldeponie. Hunderte Roma-Familien leben dort, ausgegrenzt und ohne Infrastruktur. „Nach mehr als drei Jahrzehnten halbherziger Versuche ist die öffentliche Inklusionspolitik gescheitert“, schreibt Necula. Gute Schulleistungen, Verbleib in der Schule, Zukunftsvorbereitung – „das scheinen zufällige und längst aufgegebene Absichten zu sein“.

Das Europäische Parlament hat die Lage mehrfach untersucht. In einem Bericht von 2020 heißt es, 68 Prozent der Roma brechen die Schule vorzeitig ab, nur 18 Prozent besuchen höhere Bildung, 63 Prozent der jungen Roma sind weder in Ausbildung noch Arbeit. 80 Prozent leben unter der Armutsgrenze, 78 Prozent in überfüllten Haushalten, ein Drittel ohne fließendes Wasser. Die Abgeordneten fordern die Mitgliedstaaten auf, „Praktiken der Segregation zu beseitigen und Antidiskriminierungskampagnen in Schulen durchzuführen“. Doch viele Regierungen setzen nur auf Fortschritte auf dem Papier. Necula nennt es „Symbolpolitik, die den Schein von Integration wahrt, während sich die Realität verschlechtert“.

Dabei geht es nicht nur darum, Schule prinzipiell zugänglich zu machen – es geht eben auch um Inhalte. „Schule würde gerechter werden, wenn sie auch den Roma-Kindern relevante Informationen vermittelt – um ihre Würde zu stärken“, sagt Necula. Kinder lernten dort aber nur „die Geschichte und Kultur des Unterdrückers, nicht ihre eigene“. Er bringt es auf den Punkt: „Schule darf kein Ort der Assimilation sein. Sie muss der Ort sein, an dem Roma endlich lernen dürfen, sie selbst zu sein.“

In Duisburg spüren Lehrkräfte, was Europa verdrängt: die Folgen eines kollektiven Bildungsversagens. Sören Link sagt: „Hier kippt etwas – und das ist Gift für den sozialen Frieden.“ Die Kinder, die in den Schulhöfen des Ruhrgebiets Deutsch lernen sollen und häufig daran scheitern, tragen Geschichten aus Sofia, Ostrava oder Cluj in sich. News4teachers 

„Hier scheitern wir“: Armutseinwanderung aus Bulgarien und Rumänien bringt Kommunen an Grenzen – und überfordert Schulen

Die mobile Version verlassen