DÜSSELDORF. In den letzten Wochen haben die vielen Flüchtlingskinder die bildungspolitische Debatte in Deutschland bestimmt. Das Thema Inklusion ist deshalb aber nicht erledigt. Die nordrhein-westfälische GEW erinnert daran mit einer repräsentativen Umfrage unter Schulleitungen des Landes. Fazit: Es hapert. So sehr, dass Kinder aus dem gemeinsamen Unterricht an ihre ursprünglichen Förderschulen zurückkehrten.
Der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung hat aus Sicht der meisten Schulleiter in Nordrhein-Westfalen gravierende Mängel. In einer Online-Befragung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) an allen 6500 Schulen des Landes beklagten die Schulleiter zentrale Defizite. Wie die GEW am Dienstag in Düsseldorf berichtete, fehlen in großem Umfang Sonderpädagogen, Räume, Lernmaterial und Stellen sowie Zeit für Beratung und Absprachen. Insgesamt fehlen demnach rund 7000 Stellen – allein in NRW.
Aus Sicht der Gewerkschaft sollten gemischte Klassen für Kinder mit und ohne Handicap maximal 20 Schüler haben. Dies ist aber nur in jeder zehnten inklusiv arbeitenden Klasse Realität. Die GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer forderte die rot-grüne Landesregierung auf, nachzusteuern und eine Doppelbesetzung aus Fachlehrern und Sonderpädagogen zu gewährleisten. Auch vor dem Hintergrund von 40.000 erwarteten Flüchtlingskindern in den Schulkassen sei dies sinnvoll.
Drei Viertel der Leiter an den allgemeinen Schulen gaben in der Befragung an, sie benötigten mehr Stellen für sonderpädagogische Förderung. 53 halten eine zusätzliche Stelle für erforderlich, um gutes gemeinsames Lernen zu gewährleisten – 28 Prozent forderten sogar zwei Extra-Stellen.
Daneben ergab die Befragung folgende Kritikpunkte:
- Abordnungen und Versetzungen gingen zu Lasten der Förderschulen: Bei 90 Prozent der befragten Förderschulen seien Lehrer an die allgemeinen Schulen für den Bereich Lern- und Entwicklungsstörungen abgeordnet, bei etwa der Hälfte der Förderschulen wurden Lehrer an andere Schulformen versetzt. 80 Prozent der Förderschulen veränderten daraufhin ihr Förderangebot, 45 Prozent der Förderschulen vergrößerten die Klassen.
- Die Grundschulen könnten den sonderpädagogischen Förderbedarf erst im dritten Schulbesuchsjahr feststellen lassen. Der vermutete Förderbedarf sei also „viel grösser“ als der offiziell festgestellte.
- Statt Inklusion finde häufig „Exklusion“ statt: Vier von fünf Förderschulen verzeichneten Abbrecher, Förderschüler also, die aus Regelschulen zurückkehrten – im Schnitt der Schuljahre 2014/2015 und 2015/2016 pro Förderschule drei. Insgesamt seien 2.000 Kinder betroffen, vor allem Grundschüler, hieß es.
- Zwei Drittel der Schulleitungen aus den allgemeinen Schulen empfinden das bestehende Fortbildungsangebot als nicht ausreichend – für ihr bisheriges Kollegium, aber auch für die abgeordneten Sonderpädagogen. Die hätten Fortbildungsbedarf im Hinblick auf Teamarbeit und Vorbereitung auf ihre neue Rolle als Kollege an der allgemeinen Schule.
- Für die Schulen gibt es keine zentrale Anlaufstelle für Inklusionsanfragen, dies empfindet jedoch die große Mehrheit der Befragten (80 Prozent) als erforderlich.
- Bei 50 Prozent der allgemeinen Schulen und 40 Prozent der Förderschulen gibt es keinen Schulentwicklungsplan der Kommune, der die Inklusion angemessen berücksichtigt. 90 Prozent aller Befragten empfinden dies aber als absolut erforderlich.
- Knapp 80 Prozent der allgemeinen Schulen verfügen nur zum Teil oder gar nicht über eine ausreichende Materialausstattung für differenziertes Lernen. Knapp 80 Prozent der Schulen verfügen nur zum Teil oder gar nicht über ein ausreichendes Raumangebot. 64 Prozent der allgemeinen Schulen sind nur zum Teil oder gar nicht für ihren Bedarf barrierefrei. Die inklusiv arbeitenden Schulen bedürfen einer deutlich größeren Unterstützung durch ihren Schulträger.
Es sei klar, dass dies nicht in einem Schub erfüllt werden könne, räumte Schäfer ein. Das ursprünglich einmal über 9.400 Stellen umfassende Budget für Sonderpädagogen dürfe aber nicht reduziert werden, nur weil die Zahl der Förderschulen sinke, forderte die Gewerkschaft.
Außerdem kritisiert die GEW künstliche Hürden bei der Nachqualifizierung von Lehrern zu Sonderpädagogen. Statt der angepeilten 250 Nachqualifizierungen pro Halbjahr würden deshalb nur maximal 100 erreicht. Die Gewerkschaft fordert darüber hinaus, den viel zu hohen Numerus clausus für das Lehramt Sonderpädagogik gänzlich abzuschaffen, um den enormen Personalbedarf decken zu können. Nach GEW-Angaben lag der NC teilweise bei 1,2.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) befand, dass sich die Situation seit Mai – als er selbst eine Umfrage zum Thema Inklusion vorlegte – um „keinen Deut“ verbessert habe. Der Vorsitzende Udo Beckmann betonte: „Mit einer Stellenbudgetierung, die sich nicht an den tatsächlichen Erfordernissen an den Schulen orientiert, sondern lediglich nach Haushaltslage entschieden wird, wird das Projekt Inklusion in NRW scheitern.“ News4teachers / mit Material der dpa