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Dorfschule kapituliert vor ihren Schülern – Debatte kocht hoch: Was macht Kinder zu Tyrannen?

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BERLIN. Der aktuelle Fall einer Dorf-Grundschule in Sachsen-Anhalt, die vor ihren undisziplinierten, aggressiven und renitenten Schülern kapituliert – wohlgemerkt: Sechs- bis Zehnjährige aus augenscheinlich gutbürgerlichen Verhältnissen! -, schlägt bundesweit Wellen. Er wirft das Schlaglicht auf eine Entwicklung, vor der Lehrer seit längerem warnen: Die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Was ist die Ursache für das Phänomen? Erziehungsexperten sehen ein Kernproblem im Erziehungsstil vieler Eltern. Der Beitrag ist zunächst in der Zeitschrift “Grundschule” erschienen.

Hier können Sie die Beiträge der Ausgabe 10/2016 der “Grundschule” herunterladen (kostenpflichtig).

Sind viele Kinder in Deutschland verwöhnt und verzogen? Foto: Shutterstock

Kleine Tyrannen

Stillsitzen und eigene Bedürfnisse zurückstellen – das können längst nicht mehr alle Kinder, wenn sie ihre Schullaufbahn beginnen. Psychotherapeutische Experten sehen die Ursache in einem Erziehungswandel, der dem Nachwuchs zu viele Freiheiten lässt.

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In der jüngsten Zeit hat die mediale Bildungsberichterstattung ein düsteres Bild der aktuellen Kindergeneration gemalt. Angestoßen durch das Buch der Wiener Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger entfachte eine Diskussion, um einen anscheinend aktuell verbreiteten Erziehungsstil und seine Folgen für die Gesellschaft.

„Wenn die Tyrannen-Kinder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ heißt das Werk der Wiener Psychotherapeutin, das im vergangenen Jahr erschienen ist (und zu dem mittlerweile ein Folgeband existiert: “Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan”, edition a, 24,90 Euro). Darin kritisiert Leibovici-Mühlberger den Erziehungsstil vieler Eltern, der dem Ideal der „freien individuellen Potenzialentfaltung“ folge und den Kindern letztlich keine Grenzen mehr aufzeige. In der Folge wachse der Nachwuchs in dem Glauben heran, alles zu dürfen, aber nichts zu müssen. Mit einer solchen Einstellung gebe es spätestens in der Grundschule die ersten Probleme, wenn die Lehrer von ihren Schülern erwarten, gewisse Regeln zu befolgen.

Zeitschrift 'Grundschule': Was macht Kinder zu Tyrannen?

Der Beitrag von Anna Hückelheim ist der Ausgabe 10/2016 der “Grundschule” entnommen – Titel: “Was Kinder zu ‘Tyrannen’ macht” .

Hier können Sie die Beiträge des Heftes herunterladen (kostenpflichtig).

 

Tyrannenkinder – das böse Wort ist nicht erst seit Erscheinen des gleichnamigen Buchs der Wiener Psychotherapeutin Prof. Martina Leibovici-Mühlberger in der Welt. Und doch: Die Diskussion kocht hoch. “So viele Kinder wie noch nie zuvor verfügen mit dem Eintritt in die sogenannte Schulreife noch nicht einmal über ausreichend Selbstmanagement, um überhaupt einem Unterricht folgen zu können, sind also schwer beschulbar”, sagt Leibovici-Mühlberger – und macht als Ursache ein Erziehungsversagen vieler Eltern aus. Die “Grundschule” geht den Fragen nach, was Schüler eigentlich “schwierig” macht, welche Faktoren das verhalten negativ beeinflussen – und was Lehrkräfte dagegen tun können.

Die Kritik ist nicht neu. Bereits 2010 sorgte der in Bonn ansässige Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff mit einem ähnlichen Buch für Aufsehen. Der Titel: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. In den sechs Jahren, die zwischen beiden Veröffentlichungen liegen, scheint sich nicht viel geändert zu haben. Sowohl Winterhoff als auch Leibovici-Mühlberger identifizieren als Ursache der problematischen Entwicklung eine mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern. Sie würden keine Anforderungen mehr an ihre Kinder stellen und somit keine Richtung vorgeben.

Diese Meinung teilen auch Klaus Seifried, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen sowie ehemaliger Berliner Schulpsychologe, und Veit Rößner, Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Dresden. Rößners Erfahrung: Regeln einzuhalten gelte mittlerweile als spießig statt notwendig. „Sowohl Erstklässler als auch die größeren Schüler lernen schon gar nicht mehr ausreichend, wie man sich im Schulalltag – hinsichtlich der Leistungen als auch im Umgang mit Gleichaltrigen – benimmt“, zitiert ihn die Online-Ausgabe der Sächsischen Zeitung (SZ). Aus Sicht des ehemaligen Schulpsychologen Seifried bleibe bei einigen Eltern die Erziehung auf der Strecke, weil ihnen entweder nach der Arbeit die Kraft dazu fehle oder sie beruflich viel unterwegs seien und dafür keine Zeit hätten. Das berichtet die „Berliner Morgenpost“. Dem Artikel zufolge würden sich viele Eltern zudem überhaupt nicht trauen, ihrem Nachwuchs Grenzen zu setzen. Das gelte besonders für Alleinerziehende, die die Erziehungsverantwortung nicht mit einem Partner teilen könnten.

Die Furcht von Eltern, Regeln durchzusetzen, gründet laut Leibovici-Mühlberger und Winterhoff zum Teil in ihrem Wunsch, von ihren Kindern gemocht zu werden. „Wir leben in einer missachtenden Gesellschaft. Das lässt das Gefühl entstehen: ‚Wenn mich da draußen keiner liebt, soll mich wenigstens mein Kind lieben‘”, erklärt Winterhoff dieses Bedürfnis in einem Internetbeitrag der SZ. „Wer aus dieser Motivation heraus mit seinem Kind umgeht, hindere es aber daran, sich zu einem lebenstüchtigen Menschen zu entwickeln.“

Fehlende Reife

Die Einschätzungen der Experten teilen auch Grundschullehrkräfte. Einige ihrer Beobachtungen schildern sie in Kommentaren auf News4teachers.de. „Bei manchen Eltern hat man den Eindruck, dass sie Angst haben, den Kindern etwas abzuschlagen. Und wenn doch, dann gibt es ewige Diskussionen und Streiterei“, schreibt beispielsweise Leserin „mississippi“. Eine andere Kommentatorin mit dem Pseudonym „ysnp“ bestätigt ebenfalls die Schilderungen der Psychotherapeutin Leibovici-Mühlberger. Sie kennt auch die Folgen, die dieser Erziehungsstil mit sich bringt: „In den Grundschulen sind jährlich mehr Fälle von grenzenlosen Kindern zu beobachten, Umgang und Umgangston sehr bedenklich und gefährlich. Das, was man noch vor einigen Jahren auf die Pubertät geschoben hat, kommt mittlerweile in allen Grundschuljahrgangsstufen vor. Wir haben schon in den unteren Klassen Kinder, die eigentlich unbeschulbar sind. Und ich unterrichte in keiner Großstadt!“

Ähnliches berichtet Leserin „Palim“. Schüler im Alter von fünf bis acht Jahren seien nicht in der Lage zuzuhören, fünf Minuten am Platz sitzen zu bleiben oder einen Streit mit Worten zu schlichten. Oftmals, so die Erklärung von Martina Leibovici-Mühlberger und Michael Winterhoff, seien Grundschüler schlicht nicht reif genug, um dem Unterricht zu folgen, da sie nicht gelernt hätten, sich zu konzentrieren, zu organisieren oder ihre Impulse zu kontrollieren.

Die Erziehung steht auch im Mittelpunkt der Kritik der baden-württembergischen Fraktion des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). „Früher waren Lehrer hauptsächlich für die Bildung der Schüler zuständig und erzogen die Kinder und Jugendliche im Unterricht ‚nebenher‘. Heute müssen Lehrer zuerst erziehen, damit sie sich dann um die Bildung der Schüler kümmern können“, heißt es in einer Pressemittelung des Landesverbands. Auf Dauer gehe auf diese Weise viel Unterrichtszeit verloren. Daher appelliert Michael Gomolzig, VBE-Sprecher Baden-Württembergs, an die Eltern: Bei der Erziehung der Kinder sei Schule nach wie vor auf ihre kontinuierliche Mitarbeit angewiesen. Auf diese ist jedoch scheinbar kein Verlass. Schleichend werde diese Aufgabe zunehmend den Lehrkräften aufgebürdet, so die Wahrnehmung der psychotherapeutischen Experten.

Narzissmus als Folge

Leibovici-Mühlberger erkennt zudem ein weiteres Problem des Erziehungsstils der „freien individuellen Potenzialentfaltung“. Immer mehr Kinder seien krankhaft selbstverliebt und nur auf sich und ihren Vorteil fixiert. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen nähmen zu. Eine Entwicklung, die einer Gruppe Wissenschaftler um Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam zufolge grundsätzlich in westlichen Ländern zu beobachten sei. Sie war der Auslöser für Brummelman und sein Team, nach den Ursachen des Narzissmus zu forschen. Über ihre Ergebnisse berichten sie in ihrem Beitrag „Origins of Narcissism in Children“, den die Internetausgabe des Wissenschaftsmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS) veröffentlicht hat.

Wie Leibovici-Mühlberger kommen sie zu dem Schluss, dass die Erziehung in westlichen Ländern eine Teilschuld an diesem Trend trägt. Demnach fördern Eltern, die ihre Kinder für etwas Besonderes halten und ihnen das auch vermitteln, die Entwicklung dieser Persönlichkeitsstörung. „Kinder glauben ihren Eltern, wenn diese ihnen erzählen, dass sie besser sind als andere“, zitiert die Ohio State University (OSU) in Columbus in einer Pressemitteilung Brad Bushman, Ko-Autor der Studie und Professor für Kommunikation und Psychologie.

An der Untersuchung nahmen insgesamt 565 niederländische Kinder teil, die zu Beginn der Studie zwischen sieben und elf Jahren alt waren, sowie ihre Eltern. In einem Abstand von sechs Monaten wurden sie viermal befragt. Die Ergebnisse der Umfragen zeigen, dass Kinder im Verlauf der Studie narzisstischere Charakterzüge aufwiesen, wenn ihre Eltern sie zu Beginn der Untersuchung als besonders im Vergleich zu anderen beschrieben hatten. Der Hauptautor der Studie, Eddie Brummelman, liefert in der OSU-Pressemitteilung eine mögliche Begründung für das Verhalten der Eltern: Er kann sich vorstellen, dass einige durch ihr übertriebenes Lob versuchen würden, das Selbstwertgefühl ihrer Kinder zu steigern. Doch das sei der falsche Weg. Stattdessen, so ein weiteres Ergebnis der Studie, könnten sie dieses Ziel erreichen, indem sie ihren Kindern Zuneigung und Anerkennung schenken und ihnen mit Herzlichkeit begegnen.

In Deutschland zeigen Kinder und Jugendliche im Querschnitt zu etwa 20 Prozent psychische Auffälligkeiten, wie narzisstische Persönlichkeitsstörungen, und wiederum 20 Prozent würden im Verlauf des Kindes- und Jugendalters an (mindestens) einer psychischen Störung erkranken, so Hans Willner, Chefarzt der Klinik für seelische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter am St. Joseph Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Er bezieht sich auf die Daten der Bella-Studie (Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten).

Eine ähnliche Einschätzung zum Anteil der Betroffenen liefert der ehemalige Schulpsychologe Seifried. Doch statt wie Willner zu dem Schluss zu kommen, dass bei Kindern seelische Probleme zunehmen, vertritt er die Meinung, dass die Fälle nicht mehr, jedoch schwieriger und komplexer werden. Rolf Göppel, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Hochschule in Heidelberg, siedelt den Anteil der von psychischen Problemen betroffenen Kinder und Jugendlichen in Deutschland sogar noch etwas niedriger an und zwar bei 15 Prozent – ein Wert, der stabil sei, wie die „Aachener Zeitung“ Göppel zitiert. Der Pädagogikprofessor ist sich demnach zudem sicher: „Es gibt keinen Niedergang der Erziehungskompetenz auf breiter Front.” Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus

Hier können Sie die Beiträge der Ausgabe 10/2016 der “Grundschule” herunterladen (kostenpflichtig)

“Nicht autoritär sein, sondern Autorität zeigen”: Wie Lehrer mit schwierigen Schülern umgehen sollten

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