Dorfschule kapituliert vor „Tyrannenkindern“: Sie stören und schlagen – und laufen dann einfach aus dem Unterricht davon

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OSTERWIECK. Der Brief einer Dorfschule an die Eltern der Schüler sorgt für Wirbel: Die Lehrer kapitulieren vor dem Verhalten der Sechs- bis Zehnjährigen, die alle Regeln ignorieren und sich nicht bändigen lassen. Die Wiener Ärztin und Psychotherapeutin Prof. Martina Leibovici-Mühlberger macht immer mehr solcher „Tyrannenkinder“ aus. Sie sieht die Schuld bei den Eltern.

Immer mehr Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Foto: Shutterstock

Das Dorf Hessen, heute ein Teil der Stadt Osterwieck in Sachsen-Anhalt, hat schon bessere Tage gesehen. Davon zeugt das alte Schloss, das im 17. Jahrhundert immerhin Sommerresidenz der Braunschweiger Herzöge war. Das Örtchen im Harz ist heute tiefste Provinz – fernab von städtischen Brennpunkten wie Berlin-Marzahn oder Duisburg-Marxloh. An der örtlichen Grundschule gibt es nur ein einziges Kind mit Migrationshintergrund. Armut ist kein Thema. Und trotzdem haben die Lehrer einen Brandbrief an die Elternschaft verschickt, dessen Inhalt an die nicht selten krassen Herausforderungen von Pädagogen in urbanen Problemvierteln erinnern: Sie werden ihrer Schülerschaft nicht mehr Herr. Das Schreiben wirft ein Schlaglicht darauf, dass auch abseits der pädagogischen Großthemen Inklusion und Integration die Erziehungsprobleme in Deutschland wachsen.

„Sabotage des Unterrichts“

„Die Problematik äußert sich im Unterrichts- und Pausengeschehen in extremer körperlicher Gewalt, Körperverletzungen anderer Schüler, dem Nichteinhalten bekannter Verhaltensregeln oder durch Nichtkenntnis von Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, Sabotage des Unterrichts durch permanente Störungen und Schlägereien, unerlaubtes Verlassen des Unterrichts, Sabotage des Unterrichts durch Nichterscheinen zum Unterricht oder durch Verstecken auf dem Schulgelände“, so zitiert die „Volksstimme“ aus dem Schreiben, das das Kollegium vor den Weihnachtsferien an alle Eltern verteilt habe. Die Rede sei weiter von einer „entwickelten Gefühlskälte“ von Kindern gegenüber Mitschülern. Verletzungen würden billigend in Kauf genommen.

Was ist konkret Vorgefallen? Lehrer berichten laut Zeitung hinter vorgehaltener Hand von Kindern, die auf dem Weg vom Schulgebäude zur Turnhalle einfach weglaufen. Andere Grundschüler hätten sich verweigert, als zwei Klassen wegen Krankheit zusammen unterrichtet werden mussten – und seien dann ebenfalls fortgelaufen. Ein offenbar häufiges Muster: Sechs- bis Zehnjährige akzeptierten es nicht, nach Fehlverhalten von ihren Lehrern zur Rede gestellt zu werden. Mitunter versteckten sich Schüler dann schon mal auf dem weitläufigen Schulgelände. Und die Eltern? Die kümmerten sich meist nicht darum – einmal sei gar niemand erschienen, als ein aggressiver Schüler vom Unterricht ausgeschlossen und abgeholt werden sollte.

Die Situation, heißt es in dem Schreiben an die Eltern, sei seit Schuljahresbeginn aus dem Ruder gelaufen. Bisherige Erziehungsmaßnahmen hätten nicht zum erhofften Erfolg geführt, weder „Schreibstrafen“ noch Briefe an die Eltern. Die bisherigen Maßnahmen der Schule wirken in der Tat hilflos: Ein Kind habe bereits vier Mal die Hausordnung der Schule abschreiben müssen, heißt es – offenbar ohne dass es Einsicht gezeigt hätte.

Jetzt wollen die Lehrer härter durchgreifen. Sie erhöhen den Druck auf die Eltern. Bei Verstößen sollen die ihr Kind künftig umgehend von der Schule abholen. Bei schwereren Vergehen droht laut Bericht ein nach dem Schulgesetz von Sachsen-Anhalt möglicher Ausschluss vom Unterricht bis zu fünf Tage. Komme es zu Körperverletzungen, würden Polizei und Rettungsdienst hinzugezogen. Die Polizei werde künftig ebenfalls gerufen, wenn ein Kind nochmal unaufgefordert den Klassenraum oder das Schulgelände verlässt. Sowohl dem Landesschulamt wie auch der Polizei seien die Probleme an der Schule seit längerem bekannt, heißt es. Geändert hat das bislang allerdings nichts.

„So viele Kinder wie noch nie zuvor verfügen mit dem Eintritt in die sogenannte Schulreife noch nicht einmal über ausreichendes Selbstmanagement, um überhaupt einem Unterricht folgen zu können, sind also schwer beschulbar“, sagt die Wiener Ärztin und Psychotherapeutin Prof. Martina Leibovici-Mühlberger – und sie macht als Ursache für die wachsenden Probleme ein Erziehungsversagen vieler Eltern aus. Denn immer mehr Kinder würden wie Prinzen oder Prinzessinnen behandelt, denen keine Grenzen gesetzt würden und die sich für nichts mehr anstrengen müssten. „Diese Grundverweigerung, die in diesen Kindern steckt, entspricht ihrer Grundfrustration und sie halten uns als Gesellschaft und Elterngeneration mit diesem widerständigen, vordergründig selbstbezogenem Verhalten einen Spiegel vors Gesicht“, sagt Leibovici-Mühlberger. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Immer mehr „Tyrannenkinder“: Warum viele Eltern bei der Erziehung versagen – eine Streitschrift

 

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16 Kommentare
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Aylin
6 Jahre zuvor

„[…]An der örtlichen Grundschule gibt es nur ein einziges Kind mit Migrationshintergrund. Und trotzdem haben die Lehrer einen Brandbrief an die Elternschaft verschickt[…]“

— Wie? Es gibt Probleme obwohl KEINE AUSLÄNDER an der Schule sind? Ist ja ein Ding …

sofawolf
6 Jahre zuvor

ZITAT: „Jetzt wollen die Lehrer härter durchgreifen. Sie erhöhen den Druck auf die Eltern. Bei Verstößen sollen die ihr Kind künftig umgehend von der Schule abholen. Bei schwereren Vergehen droht laut Bericht ein nach dem Schulgesetz von Sachsen-Anhalt möglicher Ausschluss vom Unterricht bis zu fünf Tage. Komme es zu Körperverletzungen, würden Polizei und Rettungsdienst hinzugezogen. Die Polizei werde künftig ebenfalls gerufen, wenn ein Kind nochmal unaufgefordert den Klassenraum oder das Schulgelände verlässt. Sowohl dem Landesschulamt wie auch der Polizei seien die Probleme an der Schule seit längerem bekannt, heißt es. Geändert hat das bislang allerdings nichts.“

Es ist gut, dass dieser Artikel erscheint und einmal mehr auf die Zustände an unseren Schulen hinweist. Allerdings meine ich, es hätte nicht erst eines offenen Briefes der Lehrer an die Öffentlichkeit bedurft, um die Maßnahmen zu ergreifen, die in dem Zitat geschildert werden, wenn alles andere nicht geholfen hat!

Leider machen es uns aber Schulgesetze und Verordnungen enorm schwer, „hart durchzugreifen“. Der bürokratische Aufwand, der dafür nötig ist, stresst oft genauso wie die das Fehlverhalten selbst. Da sehe ich politischen Handlungsbedarf !

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Die Dezernate können es sich auch einfach machen, und den Lehrern die Verantwortung oder Schuld dafür geben, weil sie als erwachsene Menschen nicht in der Lage sind, eine Klasse zu führen. Dazu kommen die Widersprüche gegen irgendwelche Maßnahmen bei der Schulleitung, beim Dezernat oder gleich beim Gericht, am Besten mit anwaltlicher Unterstützung. Spätestens dann kommt es auf eine Dokumentation der Vorfälle an, die im Zweifel nicht den formaljuristischen Ansprüchen genügt.

Pälzer
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

keine „Regierung“, auch nicht die im Klassenzimmer, kommt ohne die grundsätzliche Zustimmung der „Regierten“ aus.

Marco Riemer
5 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

>>Hart durchzugreifen<<

Oh Gott. Glaubt wirklich ein Lehrer daran, das Repression die Lernbereitschaft und idealerweise den Wissenstransfer sowie Kompetenzzuwachs positiv und nachhaltig beflügeln können?

Manchmal frage ich mich, ob in den Lehramts-Studiengänge lernpsychologische Fragestellungen einen gebührenden Stellenwert erhalten.

Ich empfehle, wenn es mit den Kindern nicht so klappt, dankbar sein, für diesen Denkanstoß und analysieren, warum Lehrer diese Kinder nicht mehr erreichen. Autonomiestreben könnte ein Wert sein, den Kinder in sich entwickeln. Ich definiere Autonomie so, das der Mensch, der sie leben will, im Einklang mit seinen inneren (nalso nicht zwangsläufig mit Lehrplan-Interessen) Bedürfnissen lebt. Vielleicht wollen enfach viel mehr Kinder autonome Lerner sein? Im Einklang mit ihren (intrinsischen) Interessen und Bedürfnissen.
Und wenn dem so ist, kann unser Schulsystem – aus dem letzten Jahrhundert – da zielführende, dem Lerner entsprechende Antworten finden?

Cavalieri
5 Jahre zuvor
Antwortet  Marco Riemer

„hart durchgreifen?“
Gegenüber den Eltern würde das schon Sinn machen. Da es sich um Deutsche handelt, können die sich nicht rausreden, sie verstünden Briefe von der Schule nicht. Wenn Eltern die Lehrer mit Gewalt bedrohen sollten: Strafanzeige. Oder muskelbepackte Security-Leute anheuern, wie kürzlich an einer Grundschule in Berlin. In Rotterdam soll der dortige arabisch-stämmige (!) Bürgermeister es durchgesetzt haben, dass bei gewissen Verstößen das Kindergeld einfach nicht mehr gezahlt wird. Und das hat gewirkt. Beispielsweise müssen die Eltern die Zeugnisse in der Schule persönlich abholen, sonst passiert genau das. Da könnte man noch einiges draufsatteln. Letztlich sitzt die Bürokratie immer am längeren Hebel. Gesetze kann man neuen Situationen anpassen. Das allgemeine Gesäusel von der „vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Eltern“ muss dann halt zeitweise suspendiert werden. Das Vertrauen scheint ja ohnehin weg zu sein. Bei minderjährigen Kindern haben die Eltern die Pflichten gegenüber dem Staat zu erfüllen, auch die Schulpflicht.
Und noch was: Wie hatte man das in der DDR denn gemacht? Die Prügelstrafe war abgeschafft, die konnte es nicht sein.

Marco Riemer
5 Jahre zuvor
Antwortet  Cavalieri

Noch mal. Repression a la „Strafanzeige. Oder muskelbepackte Security-Leute “ können, auch in den Eltern kein einsichtsvolles Verhalten provozieren. Allenfalls ängstliches Vermeidungsverhalten!! Aber mir käme es doch auf EINSICHT und „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ an.

Wenn ich erst gewaltsame Methoden anwenden muss, habe ich mir doch ein Bankrott-Zeugnis ausgestellt. Mein wirksamstes Gegengift gegenn solchen Schul-Beziehungs-Stress: Abschaffung der allgemeinen Schulpflicht!! In einem beziehungsgeflecht ist es immer beziehungsschädlich wenn Macht und Ohnmacht ungleich verteilt ist. Gleichwertigkeit würde hergestellt werden, wenn die Schulpflicht (aus dem 16-17 Jh.) fallen würde!! Mein ceterum censeo!

Mechthild Köstner
6 Jahre zuvor

Es ist absolut richtig und entscheiden die Eltern frühzeitig ins Boot zu holen. Immerhin haben diese eine Fürsorgepflicht! Das können weder eine Schule noch die Lehrer allein bewältigen. Die wichtigsten Verhaltensmuster erlernt ein Kind in den ersten drei Jahren! Da aber bei vielen Eltern Unsicherheit über Erziehungswege vorherrscht wäre es möglicherweise auch hilfreich hier mit Tipps zur Seite zu stehen. Im Gespräch sein und bleiben ist hier das Wichtigste.

Pälzer
6 Jahre zuvor

Man fragt sich: was sind das für Eltern? Sind sie aus ihrer DDR-Vergangenheit her der Meinung, Erziehung sei Sache des Staates und nicht ihre elterliche Verantwortung?

sofawolf
6 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Ach, Pälzer, ist es denn „im Westen“ anders?

Ich meine, das ist eher von drüben nach hüben rübergeschwappt (vom Westen in den Osten). Klar, es gab auch im Osten schwierige Kinder und schwierige Klassen, doch der Autoritätsverlust der Schule kam mit den Veränderungen nach der Wende.

Schwierige Kinder und schwierige Klassen gab es auch im Westen früher schon zu Großmutters Zeiten. Es ist die in den 1970er Jahren (?) einsetzende Kuschelpädagogik, deren Früchte wir jetzt ernten.

sofawolf
6 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Die Zustände, die da mal überraschenderweise aus einem Dorf in Sachsen-Anhalt geschildert werden, die haben „Sie da im Westen“ doch schon seit Jahrzehnten fast überall (von Bayern abgesehen?).

jakobabs
6 Jahre zuvor

Viermal die Hausordnung abgeschrieben und trotz dieser kuschelpädagogischsten aller walldorfpädagogischen Maßnahmen noch immer keine Einsicht? Klar, dass jetzt nur noch Polizei für Abhilfe sorgen kann. Wie wäre es mal mit professionellem pädagogischem Handeln durch die Lehrkräfte?

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  jakobabs

Nämlich?

Petra W.
6 Jahre zuvor
Antwortet  jakobabs

Ob es da so kuschelpädagogisch zugeht frage ich mich. Sorgt Kuschelpädagogigk dafür, dass Kinder derart gewalttätig und gefühlskalt werden?
Z.B. „“Sehen Sie die Eisenstange auf dem Hof? Das waren mal zwei. Dazwischen hing ein Volleyballnetz.“ Schüler hätten die Stange herausgehoben und damit auf einen anderen eingeprügelt, berichtet sie. „Der kam mit Platzwunde ins Krankenhaus.““ -aus dem Artikel der Zeit über die Schule: http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-02/sachsen-anhalt-gewalt-schulen-lehrer-brief-eltern

Ich frage mich eher, was diese Kinder zuhause erleben, dass so etwas für sie normales Verhalten ist. Ich glaube nicht, dass es ausreicht, so etwas im Fernsehen zu sehen. Offenbar handelt es sich um eine kleine Gruppe von Schülern, die aktiv mit diesem Verhalten angefangen haben. Woher bringen die das mit? Diese Frage würde ich mir stellen. Insofern finde ich die Zusammenarbeit mit der Polizei und gerne auch mit dem Jugendamt gar nicht so schlecht.

Anna Müller
5 Jahre zuvor

Der Bericht wirft auch kein gutes Licht auf die Schule und die dort arbeitenden Lehrer.
Es gibt Methoden des Antiaggressionstrainings, die bei KITA und Grundschulkindern erprobt und wirksam sind, es gibt Möglichkeiten Bewegungsspiele und mehr Sportangebote einzusetzen, Gruppenräume einzurichten für besonders problematische Kinder, die dort separat betreut werden und
vielleicht auch zu Essen bekommen (viele Kinder kommen ohne Frühstück !).
Und es gibt die Mediation als Möglichkeit, vielleicht zusammen mit einem Elternvertreter.
Ein Lehrer, der „Schuld“ bei allen anderen sucht, der für sein Gehalt keine eigenen Lösungen findet und der nur mit Strafen antwortet und dem Ruf nach Polizei ( bei 10 jährigen !) lebt meiner Ansicht nach in einer irrealen Welt.
Konflikte löst man nur indem man sich in sein Gegenüber hineinversetzt, nicht wenn man als Gruppe im Lehrerzimmer hysterisch wird.