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Warum die Leistungen der Schüler schlechter werden: Die Mütter fallen als Hilfstruppe aus

DÜSSELDORF. Die Leistungen der Grundschüler sind in den vergangenen Jahren gesunken. Um die Ursachen tobt ein heftiger Streit. Sind es falsche Lehrmethoden, wie manche Politiker meinen? Oder zeigt sich darin die unbestreitbar gestiegene Belastung der Lehrkräfte, wie Lehrerverbände einwenden? Beide Seiten, so die Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek, übersehen einen wesentlichen Punkt. Dem Bildungssystem ist nämlich im vergangenen Jahrzehnt ein Millionenheer von unbezahlten Hilfskräften abhandengekommen: die Mütter.

Immer mehr Mütter in Deutschland sind berufstätig – die Schulen bekommen das zu spüren. Foto: Shutterstock

Für Anna Paulsen (Name geändert) hat sich das Leben verändert. Die Mutter von drei Kindern, das jüngste ist acht Jahre alt, kann heute wieder arbeiten gehen – früher, als ihr heute 21-jähriger Sohn in die Schule kam, war das praktisch unmöglich. Damals, vor etwa 15 Jahren also, endete der Unterricht mal früher, mal später. Eine Betreuung am Nachmittag gab es nicht. So stand ihr Sohn mitunter schon gegen halb zwölf wieder vor der Haustür. Hausaufgaben wurden am Küchentisch erledigt – unter mütterlicher Aufsicht, die Schludereien und Fehler natürlich nicht durchgehen ließ. Das konnte dann auch schon mal eine oder anderthalb Stunden dauern.

Und heute? Paulsens jüngste Tochter besucht eine Grundschule mit offenem Ganztag, wo sie bis 16.30 Uhr betreut wird. Die Hausaufgaben erledigt sie dort. Ob die Achtjährige diese vollständig erledigt, kontrolliert niemand. Fehler werden nicht verbessert. Wie auch? In der Gruppe sind 25 Kinder; betreut werden sie von zwei Erzieherinnen. Und die haben mit der Schule eigentlich nichts zu tun. Der Ganztag wird von einem privaten Verein getragen, unterliegt also nicht den Weisungen der Schulleitungen. Das ist so üblich in Deutschland – aus Kostengründen: Weil ein grundgesetzliches Schulgeldverbot herrscht, aber Elternbeiträge zur Finanzierung herangezogen werden, darf die vermeintliche Ganztagsschule gar keine echte Ganztagsschule sein, sondern lediglich eine „offene“. Das ist eben nur eine Halbtagsschule mit optionalem Betreuungsangebot am Nachmittag. Eine Mogelpackung.

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„Beim Ganztag, wie wir ihn in der Regel haben, handelt es sich um eine Nachmittagsbetreuung. Damit ist gewährleistet, dass die Kinder gut aufgehoben sind, während die Eltern arbeiten. Mehr aber meist auch nicht. Dabei geht es natürlich ums Geld. Betreuen ist die billiger als schulisches Fördern“, erklärt der Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. „Der Bund hat zwischen 2003 und 2009 vier Milliarden Euro für den Ausbau des Ganztags in Deutschland aufgewendet. Die Länder hingegen wollten möglichst wenig ausgeben. Zusätzliche Lehrerstellen hätten sie nach der bestehenden Aufgabenverteilung finanzieren müssen. Also kam man auf die Lösung: Betreuung, denn fürs Betreuungspersonal sind die Schulträger, also die Städte und Gemeinden, zuständig. Und die können für Betreuungsangebote von den Eltern Gebühren nehmen, was für ein schulisches Angebot gesetzlich nicht ginge.“

40 Prozent der Kinder im Ganztag

Und diese Betreuung bekommen immer mehr Kinder in Deutschland geboten. Mittlerweile (Stand: Schuljahr 2015/2016) besuchen rund 2,8 Millionen Kinder, das sind etwa 40 Prozent der Schüler in Deutschland, eine Ganztagsschule – die meisten davon eine „offene Ganztagsgrundschule“. Im Schuljahr 2002/2003 waren es lediglich rund zehn Prozent der Schüler gewesen.

Parallel zum Anstieg der Betreuungsquote wuchs die Beschäftigungsquote in Deutschland – und zwar vor allem die der Frauen. Sie stieg von 65 Prozent 2006 auf mittlerweile knapp 75 Prozent. „2016 gingen hierzulande 18,3 Millionen Frauen im Alter von 20 bis 64 Jahren einer Arbeit nach“, so meldete Statista, das Statistische Bundesamt. Das bedeutet: Offensichtlich ist dem deutschen Bildungswesen im vergangenen Jahrzehnt ein Millionenheer an unentgeltlich arbeitenden Förderkräften abhandengekommen – und einen echten Ausgleich dafür gab es nicht. Das ließe sich auch monetär ausdrücken: Setzt man eine qualifizierte Förderstunde im Einzelunterricht, wie auf dem Nachhilfemarkt üblich, mit 45 Euro an, ist für die Gruppenbetreuung lediglich ein Fünftel pro Kind fällig. Hochgerechnet ergibt das in etwa eine Summe von gut und gerne 15 Milliarden Euro im Jahr, die dem Bildungssystem verloren gegangen sind. Von dieser Summe ließen sich grob überschlagen 150.000 Lehrer bezahlen.

Die Auswirkungen sind messbar – die Leistungen insbesondere der Grundschüler, das belegt gleich eine ganze Serie von großen Bildungsstudien wie VERA und IGLU, gehen an breiter Front zurück. Der IQB-Vergleich im Auftrag der KMK ergab unlängst, dass die Viertklässler in Mathematik, beim Zuhören und in Rechtschreibung binnen fünf Jahren in Deutschland im Schnitt schlechter geworden sind. Besonders deutlich übrigens in Baden-Württemberg. Die dortige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) nahm das desaströse Ergebnis zum Anlass, die Kompetenz vieler Grundschullehrer in ihrem Land zu bezweifeln. Sie führt seitdem einen erbitterten Krieg gegen die Methode „Schreiben wie Hören“. Schlechte Personalausstattung, wie die Lehrerverbände monieren? Kann es aus Sicht der Ministerin nicht sein. „Bayern hat deutlich mehr Schüler, deutlich weniger Lehrer, aber deutlich bessere Ergebnisse“, sagt Eisenmann.

Bayern hat allerdings auch die niedrigste Ganztagsquote in Deutschland. Baden-Württemberg hat dagegen das Angebot in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut – wie andere Bundesländer auch. Anna Paulsen hat davon profitiert. Die Mutter freut sich darüber, dass ihr Kind betreut wird, während sie arbeitet. Sie weiß das zu schätzen. Allerdings sieht die Mutter schon, dass die schulische Förderung dabei mitunter zu kurz kommt. Versuche, die Hausaufgaben abends nochmal gemeinsam durchzugehen, scheitern regelmäßig: Dann ist die Achtjährige schlicht zu müde. Agentur für Bildungsjournalismus

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