BERLIN. Die Belastung von Lehrerinnen und Lehrern durch ständiges Multitasking, permanente Aufmerksamkeit, Konfliktregelung hier, Motivierung dort ist mehrfach höher als in irgendeinem Verwaltungsjob. Sie wird von der Öffentlichkeit massiv unterschätzt und – vielleich noch schlimmer – von einer Erziehungswissenschaft im Elfenbeinturm und einer Schulverwaltung fernab von der Front im Klassenzimmer übersehen. Das meint jedenfalls unser Gastautor Prof. em. Rainer Dollase in seinem folgenden Kommentar.
Die Schulwirklichkeit und die Etepetete-Gesellschaft
Frühsommer 1954, Duisburg-Meiderich, Schule an der von der Mark Strasse, der Volksschulrektor und spätere Hauptschulrektor Helmuth D. kommt mit einer geschwollenen Lippe nach Hause. Ein Vater hatte ihn angeboxt – der fand es ungerecht, wie man seinen Sohn bestraft hatte. Eine Ohrfeige vom Rektor. Sohnemann hatte dem Sohn vom Fahrsteiger (für Praxisferne: was „Höheres“) ein Tintenfass auf den Janker geleert. Klarer Fall von Klassenkampf – hier Bergmannssohn dort Fahrsteigersohn. Und der Rektor hält mit dem Fahrsteigersohn. Also Boxkampf. Nun – Helmuth D. hatte während seines Lehramtsstudiums an der Hochschule für Lehrerbildung in Dortmund (vor dem Weltkrieg II) Boxen als Fach belegt und hatte den Angreifer in großzügiger Auslegung des Rechts auf Notwehr auf die Bretter geschickt. Was einen als Sohn zwar freute – aber doch verunsicherte. Wollte ich wirklich diesen Beruf später ergreifen? In dem körperliche Attacken aufgebrachter Eltern ( ja und auch Schüler) möglich sind?
Die Attacken waren und sind ja immer noch üblich – gut, dass der VBE vor kurzem mal eine Umfrage dazu gemacht hat. Danach übrigens kamen auch verschiedene andere Berufe mit Statistiken über körperliche und verbale Attacken heraus – Ärzte wurden im vergangenen Jahr pro Tag 288mal körperlich attackiert und 2600 mal beleidigt, 92 Prozent der Pfleger wurden im Einsatz schon mal angepöbelt, Sonderpädagogen und Heilerziehungspfleger schon mal gebissen, Alten- und Krankenpfleger regelmäßig angekotzt und vollgekotet, 7488 mal gab es im Jahre 2016 Widerstandshandlungen gegen Polizisten – tja, und über unsere SoldatInnen wollen wir besser nicht reden – bei ihnen gehört der Einsatz des Lebens zur Hauptaufgabe.
Gewalt – sie gab es ja schon immer und auch anderswo. In alten Quellen liest man: „Im Bundesstaat Illinois berichtet die ‚allgemeine deutsche Lehrer Zeitung‘ 1889, „setzte sich ein Junge, den seine Lehrerin züchtigen wollte, zur Wehr. Er warf die Frau zu Boden und trampelte auf ihr herum. Die Lehrerin erlitt einen Blutsturz und starb nach 5 Minuten“. Soweit zur Situation in der „guten alten Zeit“.
Kurz: die Realität ist und war hart, schonungslos, sie erfordert stabile Charaktere, interaktiv geschulte Profis, eine harte Lebensphilosophie, Aufopferung für den job – auf den Uni und Referendariat vorbereiten könnten. Tun sie aber nicht. Die Schulpraxis wird stattdessen regiert von einer praxisfernen Etepetete Kaste, die sich bestens mit PC, Kaffeeautomat, Sitzungsbrötchen, Geschäftsordnungen, Paragraphen, rückenschonenden Sesseln, Umlaufmappen, mails und Besserwisser Sprech auskennt – und dafür auch noch besser bezahlt wird. Ausgerechnet diese Schreibtischmenschen, auch schon mal „powerpoint Prekariat“ genannt – die die Praxis eigentlich hassen wie die Pest – versuchen sich als Erlöser – und produzieren blasse, administrativ – juristische Mätzchen, die in der Praxis nicht helfen. Sie kennen die Praxis nur aus den Berichten über die Praxis – sie haben sie selber nie besucht und vor allem, sind selber nie daran gescheitert.
Zu den Fakten:
- Die Unterschätzung der Belastung unserer Lehrkräfte:
Nicht nur ich würde einen Tag mit 4 Stunden gut vorbereiteten Unterrichts an einer belasteten Schule (realer Fall: rund 230 SchülerInnen, 84% Migrationshintergrund, 175 Familien, die „Bildung und Teilhabe“ berechtigt sind, 49 Kinder AOSF – Inklusionskinder – und 51 Flüchtlingskinder, davon 10 traumatisiert, in 70 Fällen sind die Eltern getrennt,) gerne gegen 2 volle Büroarbeitstage (je 8 Stunden) tauschen. Insbesondere an Unis, Ministerien, in Redaktionsstuben, Organisationen, Ämtern – oder bei Qualitätsinspektion und Organisationsentwicklung.
Grund: die Belastung unserer Lehrkräfte durch permanentes Multitasking, permanente Aufmerksamkeit, Konfliktregelung, Motivierung ist mehrfach höher als in irgendeinem Verwaltungsjob. Sie wird von der Öffentlichkeit massiv unterschätzt, obwohl der Aktionsrat Bildung schon 2014 belegt hat, dass nur die Lehrberufe unter massivem Stress leiden – mehr noch als Krankenschwestern und -pfleger.
Die öffentliche Kommunikation darüber ist allerdings gestört (auch die empirischen Studien bessern da nichts) – Lehrer sein kann in Villenvierteln genauso leicht und angenehm sein, wie Arbeit im Büro. Es kommt in der Tat auf Schulform und Einzugsbereich an. Auch ein Grund, warum alle aufs Gymnasium wollen. Und auch dadurch: Praktiker leugnen die Belastung – um ihr öffentliches Image als Faulenzer nicht noch weiter zu verschlechtern. In Paris – so meine Bekannten dort – haben Lehrkräfte auch mittwochs frei – unterrichten also Montag und Dienstag sowie Donnerstag und Freitag. Sie beaufsichtigen aber nicht den Ganztag …
Auch durchaus erfolgreiche Praktiker streben nach Innendienst, nach einem Sitz auf der Zuschauertribüne, damit sie die Akteure, die für die Gesellschaft die Drecksarbeit machen, auch noch beschämen und mit ihren praxisfernen Waldorf und Stadler Phrasen (die kennen sie aus der Muppet-Show) schurigeln können.
Wie hängt der Punkt mit der Gewalt zusammen? Gewalt und Stress ist wegen der sozialräumlichen Polarisierung unregelmäßig auf einzelne Schulen verteilt – eine flexible, schnelle und passgenaue Reaktion mit Zusatzstellen für Lehrkräfte, multiprofessionellem Personal und außerschulischen Hilfen ist wichtig. Das fordern ja mittlerweile alle, die Praxis kennen.
- Die Unterschätzung der Probleme der Praxis durch eine praxisferne Erziehungswissenschaft und Schulaufsicht:
Neulich war zu hören, dass unsere Lehrkräfte „so schlecht“ seien, dass sie mit den Gewaltausbrüchen egomanischer Schüler und Eltern nicht zurechtkämen. Sie müssten strenger ausgelesen werden – vermutlich aufgrund der Fähigkeit, geschwurbelte Texte aus der Pädagogik im Sinne der Textautoren zu interpretieren. Das ist ein neuer Tiefpunkt wissenschaftlicher Verantwortungslosigkeit – wir sollten lieber testen, ob Lehrerausbildner und Profs in Unis und Seminaren wirklich auch schwierige Unterrichtssituationen aus dem Stand bewältigen können – da fallen viele völlig raus, die ihr Gesicht gerne vor die TV Kamera halten und Klugreden über den guten Unterricht halten.
Nein – Machen ist gefragt, richtige und wirksame Handlungen – nicht richtige Texte. Mit Text wird keine komplexer gewordene Realität bewältigt – für die erste und zweite Phase gilt „Vormachen – Nachmachen“. Und für die Qualitätsinspektion auch: die Inspektoren machen den guten Unterricht aus dem Stand vor… Und erst recht für ProfessorInnen: jede Woche 1 Tag Arbeit in einer belasteten Schule s.o. (nicht im Pädagogik-Leistungskurs des örtlichen Ratsgymnasiums).
Die höheren Besoldungsgruppen für das Servicepersonal, das für die Bearbeitung der wirklichen Probleme in unseren Schulen nichts wirklich durchgreifendes leistet, also Bildungsadministration, Qualitätsinspektion oder -analyse, Einführung in die pädagogische Textanalyse (statt in die Bewältigung der Realität) wie in Uni und Referendariat üblich, kurz: die all das Gute, was sie predigen, nicht begeisternd vormachen können – sind das falsche Signal für die Zukunft. In der Industrie 4.0. geht es den Büromenschen an den Kragen – pädagogische Handlungsforschung wird in der Schulwirklichkeit gemacht, pädagogische Schlussfolgerungen und moralische Maximen werden von jenen, die sie für gut halten, erst einmal vorgemacht. Kein Lehrerausbildner und Qualitätsinspektor weigert sich, den guten Unterricht sofort und überall vorzumachen. Das geht nicht? Doch – die Medizin macht es vor.
Es geht auch wirklich ganz einfach: Jedem Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft werden verantwortlich – sagen wir – 5 Problemschulen als Universitätsschulen zugeordnet.
Was hat dieser Punkt mit Gewalt an der Schule zu tun? Nun – ein Leitungs- und Wissenschaftspersonal, dass die dunklen Seiten des Lehrerberufs genau und aktuell kennt, weil es selbst regelmäßig eigenverantwortlich in dieser schwierigen Praxis steckt, erfindet nicht nur Brave-Kinder-Pädagogik – sondern auch eine realistische Pädagogik. Illusionäre Konzepte aus Reform- und Alt-68er-Pädagogik verschwinden da schnell. Gemeinsames Lernen wird keine Erlösungsformel sein, Disziplin kein No Go sein, sondern die erste Pflicht für Schüler und Lehrkräfte.
- Die Unterschätzung der zerstörerischen Wirkung von Narzissmus, Ego Dominanz, hierarchischem Selbstkonzept und Co.
Das „Ich-Zeitalter“ kommt in die Jahre – weltweit deutete sich schon vor einige Jahrzehnten an, dass der moderne Mensch sich ein gewaltiges, leicht zu irritierendes Selbst zugelegt hat – und aggressiv bis pampig reagiert, wenn er sich im Unrecht fühlt. Zur Freude der Anwälte. Um Gewalt zu verstehen, muss man wissen, (1) dass der Mensch früher wie heute Gewalt ausübt, um etwas zu erreichen, besser zu sein als andere und vor allem Recht zu behalten, gewinnen zu können etc. Andere sollen sich dem größten Individuum aller Zeiten stets unterordnen. Oder aber (2) – er fühlt sich beleidigt, nicht gewürdigt, nicht respektiert, nicht anerkannt. Narzissten und Co. möchten keine Regeln, keine Autoritäten, keine schlechten Noten – alles wird als narzissische Kränkung abgespeichert und führt zu Aggression a la „Michael Kohlhaas“. Der casus belli liegt vor und nur noch blinde Verteidigungswut des beleidigten Selbst ist angesagt.
Schule kann demütigen. Volker Krumm hat schon vor Jahren darauf durch Untersuchungen hingewiesen – Schüler und Eltern fühlen sich oft gedemütigt oder ungerecht behandelt. Ein premium Anlass für Aggression.
Vor allen Dingen deshalb, weil Schulabschlüsse in unserer Gesellschaft den persönlichen Wert nicht nur des Kindes sondern auch der Eltern stabilisieren. Auch renitente und aggressive Eltern sind Folgen der Etepetete-Gesellschaft: verzärtelte Sensibelchen, die schon durch Kinkerlitzchen beleidigt werden (typisch „ Was guckst Du?“ als Beleidigungsanlass).
Sicher – wir könnten was gegen das Beleidigtsein tun. Alle weichen Verfahren und Kriterien für die Notenvergabe (z. B. mündliche Mitarbeit, Beurteilung des Auftretens bei einer Präsentation) abschaffen und nur standardisierte Testverfahren oder schriftliche Arbeiten (wie in Finnland, wo Lehrkräfte sehr angesehen sind) als Grundlage von Noten nehmen. Gegen evidente Minderleistung ist schwer anzugehen – aber leichter ist es schon, wenn man vermuten darf, das Sympathie oder Antipathie, oder gar nicht verstehbare Kriterien hinter der Notenvergabe stecken.
Oder – wir denken mal darüber nach, was renitente Eltern für die Schule tun können, um die Disziplin in der Schule zu sichern. Und befreien die Meckerei aus dem sicheren Versteck des „bequemen Selbst“ des „ich bin da ja nicht für zuständig“. Wenn Disziplin nicht gelingt – muss man die Eltern auch mal mit den Konsequenzen konfrontieren (z. B. öfter von der Möglichkeit Gebrauch machen, Kinder nach Hause zu schicken). Alles muss vorher – wie die Regeln eines Fußballspiels – vereinbart werden. Vor allem bei Eltern, die in ihren Heimatländern Schule als Befehlsempfänger für Elternmacht empfunden haben – es sei denn, sie strafen drakonisch. Ja – und Gesetze kann man auch jederzeit ändern, notfalls muss man die Schulpflicht in ein Recht auf Schule umwandeln.
Und dann der Unterricht – der stinklangweilige Arbeitsblattunterricht, der Verlust von Enthusiasmus, das quasi-Verbot für Lehrkräfte im Frontalunterricht die Schüler zu motivieren – muss sofort geändert werden. Von der Etepetete Kaste, die die administrative Zurichtung ihres Gehirns mangels eigener Praxis nicht mehr in Frage stellen kann – kann man bald schon nicht mehr erwarten, dass sie in der interaktiven Unterrichtskunst einen Weg sieht. Gehen die Schüler gerne zur Schule, lernen sie viel und schnell – dann wird auch der Umgang mit Schülern und Eltern leichter.
Wie ging der Eingangsfall vom Frühsommer 1954 weiter? Nein – kein Formular ausgefüllt, kein Telefonat mit der Schulrätin, kein Gerichtsverfahren. Der Vater (nach genauer Kenntnisnahme des Vorfalls) kam mit einer Flasche Dujardin zum Rektor – nach ungefähr der Hälfte der Pulle entdeckten beide ihre Sympathie füreinander. Das Ende war dann schon sehr fröhlich. Nun – so geht das ja heute nicht – nein – davon können wir nur abraten ….das wäre ja hoffnungslos „old school“.
Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs. Dollase war Mitglied des Teams „Schule und Kultur“ der nordrhein-westfälischen CDU im Vorfeld der Landtagswahl im Mai.
