BREMEN. Ein mit Spannung erwartetes Grundsatzurteil zur Inklusion liegt jetzt vor: Die Leiterin eines Bremer Gymnasiums ist mit ihrer Klage gegen eine angeordnete Einrichtung einer Inklusionsklasse gescheitert – vordergründig aus formalen Gründen. Die Beamtin könne lediglich verwaltungsintern ihre Bedenken geltend machen, sei aber darüber hinaus nicht klagebefugt, teilte das Verwaltungsgericht Bremen nun zur Begründung seiner Entscheidung mit. Zur Sache selbst äußerten sich die Richter allerdings auch bemerkenswert deutlich.
Der Fall war bundesweit beispiellos: Die Schulleiterin des Bremer Gymnasiums Horn hatte sich gegen die Einrichtung eines inklusiven Klassenverbandes mit 19 regulären Schülern und fünf Kindern mit körperlicher oder geistiger Behinderung zur Wehr gesetzt – und gegen die ihr vorgesetzte Bildungsverwaltung geklagt. Die Direktorin wollte die “Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen dienstlichen Weisung und einer damit verbundenen” feststellen lassen. Sie vertrat die Auffassung, dass ihre Klage sowohl zulässig als auch begründet sei. Gegen rechtswidrige Eingriffe der Bremer Senatorin für Kinder und Bildung, Claudia Bogedan (SPD), stehe ihr ein Abwehrrecht zu, so argumentierte sie. Eine inklusive Beschulung von behinderten Schülern an einem Gymnasium, die keine Aussicht auf das Abitur haben, widerspreche der Konzeption dieser Schulform.
Diese Argumentation wird auch vom Philologenverband vertreten: Es sei „keinesfalls im Sinne des Kindeswohls, ein Kind im Gymnasium zu beschulen, das absolut keine Chance hat, die staatlich vorgegebenen Ziele des Gymnasiums zu erreichen. Denn eine Beschulung von Schülern, die diese Ziele, gegebenenfalls auch mit Nachteilsausgleich, nicht erreichen können, ist mit dem Bildungsauftrag des Gymnasiums, wie er im Schulgesetz festgelegt sei, nicht vereinbar”, so heißt es in einem Beschluss des Niedersächsischen Philologentags von 2016.
Der Bremer Fall macht deutlich, dass es dringend an der Zeit ist, die schulische Inklusion breit in Deutschland zu diskutieren. Denn: Die zentralen Grundfragen des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht-behinderten Schülern sind bis heute ungeklärt. Inwieweit sind die Gymnasien verpflichtet, sich zu beteiligen? Wo sind die Grenzen der Inklusion? Was ist überhaupt das von der Politik anvisierte Ziel – eine Radikal-Inklusion oder eine Inklusion light? Und was davon ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar? Niemand weiß das so recht. Klar ist nur: So fährt die Inklusion vor die Wand.
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Das Gericht sieht hingegegen keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit der behördlichen Anweisung. Die Einführung der inklusiven Beschulung an allen Bremer Schulen entspreche einem klaren gesetzgeberischen Auftrag, hieß in einer Pressemitteilung. Dies gelte auch für die Unterrichtung von Schülern mit Beeinträchtigungen im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (W+ E) an Gymnasien. Die Schulform “Gymnasium” sei weder grundgesetzlich garantiert noch könne sie durch Bundesgesetz für die Länder verbindlich festgelegt werden. So obliege “es der Schulverwaltung, die vom Gesetzgeber vorgesehenen Schulformen hinsichtlich der Bildungs- und Erziehungsziele durch Rechtsverordnungen weiter zu konkretisieren und Lehr- und Stoffpläne durch Verwaltungsvorschriften zu erlassen”.
Weiter heißt es in dem Urteil: “Eine Beschränkung der inklusiven Beschulung von W+E-Schülern auf bestimmte Schulformen findet in der Gesetzesbegründung daher ebenso wenig eine Stütze wie die Ansicht der Klägerin, an einem Gymnasium seien nur Schüler inklusiv zu beschulen, von denen erwartet werden könne, sie würden das Abitur erfolgreich erwerben.” Entgegen der Ansicht der Klägerin werde durch die Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf weder eine „Schule für alle“ geschaffen, noch der gymnasiale Bildungsgang in seiner grundlegenden Konzeption verändert.
Darüber hinaus betonen die Richter: Schlechtere Bildungschancen der Regelschüler seien durch die Inklusion nicht zu befürchten. “Der gymnasiale Bildungsgang an sich (…) wird hierdurch nicht verändert. Die regulären Schüler lernen trotz der inklusiven Beschulung die Inhalte, welche sie auf das Abitur vorbereiten. Die Inklusionsschüler werden dementsprechend nicht in dem gymnasialen Bildungsgang zum Abitur, sondern parallel hierzu an den Gymnasien inklusiv auf einem ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechenden Anforderungsniveau unterrichtet und gefördert.”
Aufgrund der nicht nur zieldifferent, sondern auch in weiten Teilen – gerade in den Kernfächern – in äußerer Differenzierung erfolgenden inklusiven Beschulung der W+E-Schüler sei nicht ersichtlich, dass – wie von der Klägerin befürchtet – die regulären Schüler des gymnasialen Bildungsgangs das erhöhte Lerntempo wegen Verzögerungen bzw. Störungen durch die W+E-Schüler nicht oder jedenfalls schlechter würden halten können. Die Richter gaben der Direktorin noch einen Seitenhieb mit: “Die Klägerin als Schulleiterin hat es zudem gerade in der Hand, durch entsprechende konkrete Gestaltung des pädagogischen Konzepts der inklusiven Beschulung dafür Sorge zu tragen, dass sowohl den Belangen der regulären Schüler als auch denen der W+E-Schüler Rechnung getragen wird.”
“Auch an Gymnasien”
Mit Blick auf die anderen Schulformen heißt es: “Schließlich erscheint es nicht fernliegend, sich den Herausforderungen der zieldifferenten inklusiven Beschulung von W+E-Schülern auch an Gymnasien zu stellen, da an diesen reguläre Schüler grundsätzlich auf einem einheitlichen Anforderungsniveau unterrichtet werden, während die Oberschulen ohnehin bereits vor der Herausforderung stehen, ihre regulären Schüler zieldifferent zu unterrichten und zu der dadurch bedingten Aufgliederung des Unterrichts noch ein weiteres Anforderungs- bzw. Förderungsniveau hinzukäme.”
Ein wichtiger Nebenaspekt: Inklusionsklassen, wie sie auch in Nordrhein-Westfalen künftig vorgesehen sind, widersprechen dem Grundgedanken der Inklusion offenbar nicht. So meinen die Richter: “Für eine angemessene Beschulung und Förderung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist es erforderlich, Schüler mit bestimmten Förderbedarfen in einer Inklusionsklasse zusammenzufassen, da zum einen mit demselben Förderbedarf regelmäßig ähnliche Bedürfnisse einhergehen und zum anderen die (zufällige) Zusammenlegung von Schülern mit unterschiedlichen Förderbedarfen (etwa im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung und im Bereich Wahrnehmungs- und Entwicklungsförderung) zu vermeidbaren Schwierigkeiten führen würde.”
Gegen die jetzt getroffene Entscheidung ist Berufung möglich. News4teachers / mit Material der dpa (News4teachers hat den ursprünglichen Beitrag um 16 Uhr aktualisiert)
Hier geht es zu der ausführlichen Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts Bremen.
Auch auf der Facebook-Seite von News4teachers wird das Urteil schon diskutiert:
Inklusion: Haben geistig Behinderte einen Anspruch auf einen Platz am Gymnasium? Experte sagt: Nein!