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“Inklusion ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Vielfalt” – aber die müssen Lehrer auch wollen! Eine Streitschrift

BREMEN. Das Bremer Verwaltungsgericht hat in dieser Woche ein bemerkenswertes Urteil zur Inklusion gefällt. Es wies die Klage einer Gymnasialleiterin gegen die Bildungsverwaltung, die sie zur Einrichtung einer inklusiven Klasse zwingen wollte, zurück. Zur Begründung befanden die Richter, dass der Direktorin, erstens, als Beamtin kein Klagerecht gegen eine solche Dienstanweisung zukomme und dass, zweitens, auch von einem Gymnasium ein zieldifferenter Unterricht erwartet werden könne (News4teachers berichtete). Letzteres berührt den Kern des Inklusionsstreits in Deutschland: Ist es Lehrern zuzumuten, auf die individuellen Lernbedürfnisse einer heterogenen Schülerschaft einzugehen? Im dritten Teil seiner Streitschrift vertritt unser Gastautor Prof. Hans Wocken dazu eine klare Position.

An Grundschulen ist die Heterogenität der Lerngruppen naturgemäß groß. Foto: Shutterstock

„Inklusion ist Kommunismus für Schulen!“

3. Inklusiver Unterricht ist eine Didaktik der Vielfalt!

Die implizite Theorie des gegliederten Schulsystems kann mit dem Begriff „Homodoxie“ beschrieben werden (Wocken 2013). Homodox heißt gleichgläubig. Im Zentrum der homodoxen Pädagogik steht der unerschütterliche Glaube an die segensreichen Wirkungen von Homogenität der Lerngruppen und Gleichheit der Schüler. Die wahre „Einheitsschule“ ist in dem System des gegliederten Schulwesens beheimatet und dort strukturell inkorporiert. Der perfekte „Einheitsunterricht“ wird ausgerechnet im eigenen System, in den Klassenzimmern der „begabungsgerechten“ Schule erteilt. Die Schulformen des gegliederten Schulsystems und die homogenen Jahrgangsklassen sind der vollkommenste Ausdruck der Gleichmacherei. Es ist daher absurd und im Wortsinne pervers, die inklusive Schule der „Gleichmacherei“ (Geyer 2014) und des „Einheitsbreis“ (Felten 2017) zu bezichtigen. Diese Vorwürfe stellen die wahren Verhältnisse buchstäblich auf den Kopf.

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Das Buch

Die drei Beiträge des Essays sind Textauszüge aus dem neuen Buch von Hans Wocken: “CONTRA Inklusionskritik. Eine Apologie der Inklusion”. Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).

Darin setzt sich Deutschlands renommiertester Inklusionsexperte meinungsstark und wortgewaltig mit dem Lager der ideologischen Inklusionsgegner auseinander und wirft ihm fehlende Redlichkeit, einen Unwillen zur fachlichen Auseinandersetzung und einen interessengeleiteten, unfairen und nichtrationalen Duktus der Formen der Auseinandersetzung vor. Dem Ziel der Inklusionsgegner, behinderte Kinder wieder in Sonderschulen zurückzudrängen, tritt Wocken mit seiner neuesten Textsammlung, die mit einem Prolog von Pablo Pineda, einem spanischen Lehrer mit Down-Syndrom, eröffnet wird, entgegentreten.

Inklusion ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Vielfalt und natürlicher Heterogenität. Die „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 2006) hat in einer Didaktik der Vielfalt ihr unterrichtliches Gegenstück. Ein inklusiver Unterricht akzeptiert und berücksichtigt die Heterogenität nicht nur als Eingangsbedingung, sondern versucht darüber hinaus, die gegebene Heterogenität als ein Potential für anregende Lernprozesse und gedeihliche Entwicklungen zu nutzen. Die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler ist in der Inklusion kein Anlass für institutionelle Separation oder für die Bildung permanenter Gleichheitsgruppen. Die Inklusionsopponenten, die ja allesamt dem gegliederten Schulwesen die Stange halten, werfen also der Inklusion etwas vor, was sie selbst tagtäglich, routinemäßig und in Perfektion betreiben: Gleichmacherei und pädagogischen Egalitarismus. Die Schulen des gegliederten Schulsystems sind die wahren Gleichheitsschulen; ihr oberstes Regulativ für die Strukturierung von Lerngruppen und Lernprozessen ist das homodoxe Grundgesetz, das Gesetz der Gleichheit: Gleiche Schüler, gleiche Ziele, gleiche Inhalte, gleiche Zeit, gleiche Wege, gleiche Ergebnisse!

Einige Zitate des Gymnasiallehrers Felten (der auch schon auf News4teachers veröffentlicht hat, d. Red. – hier geht’s hin) können zeigen, dass der pädagogische Egalitarismus sich einen differenzierenden, insbesondere einen zieldifferenten Unterricht einfach nicht vorstellen kann:

„Wenn aber jedes Kind, gleich welcher Behinderungsform, das Recht bekäme, an einer Schule seiner (bzw. seiner Eltern) Wahl einen vollinklusiven Unterricht zu besuchen, müssten entweder in jeder Klasse mehrere Sonderpädagogen mitwirken (was niemand bezahlen kann und wird) – oder das Lernniveau würde allerorten sinken“ (Felten 2017, 101).

„Lernzieldifferent – der schöne Begriff verschweigt, dass dies langfristig nur bei ständiger Doppelbesetzung funktioniert“ (Felten 2017, 67).

Die Absage an Unterrichtsdifferenzierung und die vehemente Ablehnung eines zieldifferenten Unterrichts werden insbesondere für die Sekundarstufe geltend gemacht:

Sollten diese beiden Sätze wirklich stimmen, muss man ahnungsvoll wohl davon ausgehen, dass Unterrichtsdifferenzierung auch in den heutigen Sekundarschulen eher selten vorzufinden ist. Schließlich sei noch ein sprachlich originelles Zitat angeführt, das die heimliche Unterrichtstheorie des Gymnasialpädagogen Felten in wunderbarer Weise offenlegt:

Eine Dechiffrierung der impliziten Unterrichtstheorie der Inklusionsopponenten kommt zu folgendem Ergebnis: Ein Lehrer kann auch nur einen Unterricht machen. Für mehrere „Unterrichte“ braucht man auch immer mehrere Lehrer. Sofern irgendwann irgendwo irgendein unterrichtlicher Differenzierungsbedarf entsteht, muss immer sofort (mindestens) ein zusätzlicher Lehrer her, weil ein Lehrer ja nicht zwei „Unterrichte“ machen kann. Felten hat mit einem einzigen Wort, das eine wundersame enthüllende Wirkung entfaltet, das eiserne, historisch gewachsene Gesetz der Schule und das zentrale Dogma der Unterrichtslehre freigelegt: Unterricht ist immer zielgleicher Unterricht! Zieldifferenter Unterricht sind mehrere „Unterrichte“! Unterricht ist dadurch definiert, dass ein Lehrer einen Unterricht macht; mehr geht einfach nicht. Ein Unterricht für alle ist aber pädagogischer Egalitarismus pur, „Einheitsunterricht“ in Reinkultur. Für Unterrichtsdifferenzierung ist in jedem Fall die zweite Lehrkraft zuständig; ist eine zweite Lehrkraft nicht zur Stelle, muss die Unterrichtsdifferenzierung leider ausfallen, um eine Überforderung der verantwortlichen Lehrkraft zu vermeiden.

Nachdem Felten die reale Möglichkeit eines differenzierenden Unterrichts schon im Grundsatz in Frage gestellt hat, setzt er noch einen weiteren Kritikpunkt oben drauf und bezweifelt die verfassungsmäßige Zulässigkeit eines zieldifferenten Unterrichts:

Die ausschnitthafte Präsentation der didaktischen Vorstellungen des Gymnasiallehrers und Inklusionsgegners Felten ist selbstoffenbarend und bedarf kaum weiterer Kommentare. Zieldifferenter Unterricht kann mangels didaktischer Phantasie von den Inklusionsopponenten nicht einmal gedacht und vorgestellt werden. Zieldifferenter Unterricht liegt ferner außerhalb der professionellen Möglichkeiten eines Lehrers und außerhalb der Zuständigkeit des verantwortlichen Lehrers. Und zieldifferenter Unterricht ist schließlich verfassungsrechtlich bedenklich.

Pädagogik-Studenten und Referendare sind gut beraten, derartige Fakes nicht in Lehramtsprüfungen aufzutischen. Inklusion hat die behauptete Unmöglichkeit zieldifferenten Lernens durch Erfahrung und eine kreative Unterrichtspraxis widerlegt; sie darf ferner auch die Warnung vor einer grundgesetzwidrigen Ungleichbehandlung ungleicher Schülerinnen und Schüler getrost als pädagogischen Kalauer beiseitelegen. Die gewidmete Plakette „Einheitsunterricht“ wird von der Inklusion dankend abgelehnt und an die Inklusionsopponenten als die originalen Erfinder, wahren Eigentümer und realen Überzeugungstäter zurückgegeben.

Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).

Auch auf der Facebook-Seite von News4teachers wird der Beitrag bereits hitzig diskutiert.

Der Autor
Hans Wocken. Foto: privat

Hans Wocken ist gelernter Sonderschullehrer und hatte von 1980 bis 2008 an der Universität Hamburg eine Professur für Lernbehinderten- und Integrationspädagogik inne. Er war ein Pionier der integrativen Pädagogik und hat die schulische Integration bzw. Inklusion von Anfang an mitgestaltet und mitgeprägt. In den 80er Jahren initiierte er in Hamburg zwei Schulversuche zur Integration und hat sie wissenschaftlich begleitet. In der Inklusionspädagogik vertritt er eine „dialektische“ Position. Inklusionspolitik und -pädagogik fordern u.a.

  • eine Balance von Philosophie und Pragmatismus;
  • eine Balance von Freiheit und Gleichheit;
  • eine Balance von Vielfalt und Gemeinsamkeit;
  • eine Balance von Anpassung der Schule und Anpassung der Kinder;
  • eine Balance von gemeinsamen und individuellen Lernsituationen;
  • eine Balance von angeleitetem und selbstgesteuerten Lernen.

Homepage: www.hans-wocken.de

Inklusion: Haben geistig Behinderte einen Anspruch auf einen Platz am Gymnasium? Experte sagt: Nein!

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