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Digitale Bildung: „Wenn Konzepte fehlen, bleibt es bei der Pseudodigitalisierung – bisschen was klicken, bisschen was hin- und herschieben“

TÜBINGEN. Florian Nuxoll ist Lehrer (an einem Schulverbund aus einem Gymnasium und einer Gemeinschaftsschule). Und er ist Experte für Digitale Bildung. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen aus der Grundschule hat er jetzt ein Medienbildungskonzept für die Primarstufe entwickelt. Im Interview spricht Nuxoll über Herausforderungen und Chancen digitaler Bildung. Das Interview erschien zunächst in der Ausgabe “Keine Angst vor Tablet und Co” der Zeitschrift “Grundschule”.

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

“Schüler wachsen in einer digitalen Welt auf. Wir müssen sie dabei pädagogisch begleiten, um ihnen Orientierung zu geben.” Foto: Shutterstock

„Digitale Bildung als Aufgabe annehmen“

Vorweg eine grundlegende Frage: Wer sind denn nun eigentlich die sogenannten Digital Natives?

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Florian Nuxoll: Per Definition sind Digital Natives Personen, die nach 1980 geboren wurden, weil sie schon in ihrer Kindheit mit digitalen Technologien sozialisiert worden sind. Demnach gibt es bereits einige Grundschullehrkräfte, die selbst Digital Natives sind. Ich würde aber sagen, man muss innerhalb dieser Gruppe noch mal unterscheiden und zwar zwischen den nach 1980 Geborenen und denjenigen, die nach 2000 geboren worden sind, also die heutigen Schülerinnen und Schüler. Diese sind von vornherein mit Smartphones und sozialen Netzwerken groß geworden. Vor diesem Hintergrund sind Lehrkräfte Digital Immigrants, die sich das Wissen über diese Technologien im Nachhinein aneignen müssen.

Es ist allerdings ein Fehlschluss zu glauben, dass die heutigen Schülerinnen und Schüler, nur weil sie mit dem Tablet und dem Smartphone aufgewachsen sind und sie bedienen können, auch kompetent mit ihnen umgehen können.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Dieser Beitrag und weitere zum Thema Legasthenie und Dyskalkulie sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Probleme richtig deuten” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Digitale Medien sind fester Bestandteil unserer Lebenswelt. Schülerinnen und Schüler können in der Regel schon wischen und klicken, bevor sie schreiben können. Die Bezeichnung “neue Medien” erscheint somit bereits veraltet. Häu¿g gilt das allerdings noch nicht für den Schulalltag, obwohl es viele Gründe gibt, die für den Einsatz digitaler Medien sprechen – schon in der Grundschule. Die Ausgabe der “Grundschule” bringt Beispiele für eine sinnvolle und leistbare Unterrichtspraxis.

Heißt das, dass wir die Kompetenzen der Digital Natives gemeinhin überschätzen?

Nuxoll: Wir Digital Migrants haben manchmal das Gefühl, dass uns die Digital Natives wahnsinnig viel voraus haben. In letzter Konsequenz gilt das häufig aber nur für die Bedienungsebene. Auf der nächsten Ebene können wir den Digital Natives sehr wohl noch Hilfestellung geben, etwa wenn es um Gefahren und Chancen der digitalen Welt geht. Als Lehrkraft muss ich mich dafür ein bisschen in der digitalen Welt der Schülerinnen und Schüler auskennen und zum Beispiel musical.ly (eine Social-Media-App, mit der kurze Videoclips erstellt werden können; Anm. d. Red.) und Snapchat (eine Social-Media-App, mit der temporär Inhalte geteilt werden können; Anm. d. Red.) kennen. Darüber können Lehrer mit Schülern intensiv ins Gespräch kommen.

Wie sollten Lehrerinnen und Lehrer diese Apps am besten im Unterricht thematisieren, um an die kindlichen Erlebenswelten im Digitalen anknüpfen zu können?

Nuxoll: Das ist schwer zu beantworten, denn rein rechtlich dürfen Schüler der Grundschule und der Sekundarstufe I diese sozialen Netzwerke noch gar nicht nutzen. Für den Messenger-Dienst WhatsApp muss man zum Beispiel 16 Jahre alt sein. Vor kurzem hat aber ein Teilnehmer bei einer Fortbildung erzählt, dass die meisten seiner Erstklässler schon WhatsApp haben. Das heißt, wir müssen die bei Schülern beliebten Apps kennen und auch den rechtlichen Rahmen, um sie entsprechend thematisieren zu können. Dabei darf es natürlich auf gar keinen Fall dazukommen, dass wir durch unseren Input das Bedürfnis der Kinder schüren, die Apps nutzen zu wollen. Sie sollen nicht nach Hause gehen und sagen: „Unser Lehrer hat heute über Snapchat geredet. Ich will jetzt ein Smartphone haben und Snapchat nutzen.“

Florian Nuxoll. Foto: Rene Stryja

Das ist ein schmaler Grat. Wie lässt sich dieser Konflikt umgehen?

Nuxoll: Das haben meine beiden Grundschulkolleginnen und ich uns auch gefragt, als wir unser Medienbildungskonzept entwickelt haben. Wir haben uns schließlich entschieden, in unserem Medienwelten-Grundschulheft eine Storyline zu verfolgen, in der die großen Geschwister diejenigen sind, die WhatsApp, Snapchat und ähnliche Programme nutzen – nicht die Grundschulkinder. Dadurch können wir sie im Unterricht an diese Programme heranführen, ohne dass ihnen suggeriert wird, andere Acht-, Neun-, Zehnjährige nutzen das auch.

Gibt es auf der anderen Seite auch Chancen, die die Digitalisierung Kindern bietet?

Nuxoll: Es gibt definitiv Vorteile. Ich glaube aber, dass die Konzepte, die die absoluten Vorteile fürs Lernen bringen, noch teilweise in der Entwicklung sind. Ich denke da etwa an Programme zum adaptiven Lernen, die den Lernstand der Schüler genau analysieren – das ist der Bereich „Learner Analytics“. Das Programm kann dann jedem Schüler die Aufgaben geben, die für ihn gerade am relevantesten sind, um einen Lernfortschritt zu erreichen. Ein Beispiel wurde hier in Tübingen entwickelt: Prosodiya ist ein Programm zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistung. Mit ihm lernen Kinder Schritt für Schritt, einzelne Wörter in Silben zu gliedern und zu erkennen, welche Silbe betont ist. Anschließend lernen sie, wie sie die sprachrhythmischen Merkmale mit Rechtschreibregeln verbinden können. Dieses Programm ist so aufgebaut, dass jeder Schüler in seinem Tempo arbeiten kann und Feedback zu seinem Lernstand bekommt. Interessant dabei ist – ob das jetzt positiv oder negativ ist, muss man auch gar nicht bewerten –, dass Schüler das Feedback der Software manchmal eher annehmen als von einer Lehrkraft. Das wirkt so objektiv, sodass die meisten Schüler es dann emotionslos annehmen. Sie sind dann nicht sauer, sondern sagen einfach: „Okay, das Programm sagt, ich muss das noch üben“ – und dann wird das gemacht.

Das klingt ganz spannend. Was bedeutet es aber, dass sich solche digitalen Konzepte für den unterrichtlichen Bereich, wie Sie sagen, noch Großteils in der Entwicklung befinden?

Nuxoll: Ein Fehler, der jetzt oft gemacht wird, ist, dass die Ministerien besonders die Technik pushen wollen. Digitale Endgeräte sind natürlich eine Voraussetzung zur Umsetzung digitaler Bildung, aber wenn die Konzepte noch nicht da sind, die für die Lehrkraft wirklich hilfreich sind, dann bleibt es bei dieser Pseudodigitalisierung der Bildung, die wir heute vielfach beobachten können: bisschen was klicken, bisschen was hin- und herschieben – da ergibt sich kein Mehrwert für den Unterricht beziehungsweise das Lernen.

Was muss Medienarbeit in der Grundschule bieten, damit es nicht bei der von Ihnen erwähnten Pseudodigitalisierung der Bildung bleibt?

Nuxoll: Wir haben ja bereits festgestellt, dass die Schüler inzwischen in einer digitalen Welt aufwachsen und wir sie dabei pädagogisch begleiten müssen, um ihnen Orientierung zu geben. Das Ziel muss dabei sein, die Schüler zu unterstützen, sich zu mündigen Nutzern von Medien und digitalen Technologien zu entwickeln. Das heißt auch, dass sie lernen, wann der Einsatz digitaler Medien sinnvoll ist und wann nicht. Sie müssen entscheiden können: Recherchiere ich jetzt digital oder analog? Präsentiere ich mit einem Poster oder nutze ich ein computerbasiertes Programm?

Was empfehlen Sie Lehrkräften, die digitale Bildung umsetzen möchten, sich im Umgang mit der aktuellen Technik aber noch unsicher fühlen?

Nuxoll: Wir haben im Rahmen unseres Medienbildungskonzepts festgestellt, dass drei Stufen digitaler Bildung existieren. Auf der ersten Stufe können Lehrkräfte Medienbildung komplett ohne digitale Technologien unterrichten, etwa indem sie mit ihren Schülern die eigene Mediennutzung reflektieren. Dafür brauchen sie kein Tablet oder Ähnliches. Auf der nächsten Stufe können sie die Technik einsetzen, mit der sie sich wohlfühlen und die Schüler zum Beispiel im Computerraum einen Steckbrief erstellen lassen. Auf diese Weise können Lehrerinnen und Lehrer sukzessive ausprobieren, was sie können. Das führt vielleicht dazu, dass sie nach und nach mehr digitale Technologie im Unterricht einsetzen und ausprobieren. Also: Lehrkräfte müssen nicht immer digital unterwegs sein, um die Schüler auf eine digitale Welt vorzubereiten. Wichtig ist, dass sie digitale Bildung als Aufgabe annehmen und angehen.

Ines Oldenburg führte das Interview.

Ein Konzept für die Praxis

Das Arbeitsheft „Medienwelten Grundschule“, das Florian Nuxoll gemeinsam mit Grundschulpädagoginnen entwickelt hat, richtet sich an die Klassenstufen 3 und 4 und besteht aus sechs Modulen. Zu ihnen gehören unter anderem die Themen Recherchieren, Präsentieren und Kommunikation. Die offline erworbenen Kenntnisse können die Kinder in einem kostenfreien, auf das Arbeitsheft abgestimmten Online-Angebot anwenden und festigen.

Hier lassen sich das Arbeitsheft und die dazugehörige Lehrerhandreichung bestellen (kostenpflichtig).

Digitale Bildung: Worauf es beim Computer-Einsatz im Unterricht wirklich ankommt – ein Interview mit dem Bildungsforscher Klaus Zierer

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