Digitale Bildung: Worauf es beim Computer-Einsatz im Unterricht wirklich ankommt – ein Interview mit dem Bildungsforscher Klaus Zierer

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AUGSBURG. Der Einsatz digitaler Medien ist oft mit der diffusen Erwartung verbunden, der Unterricht werde dadurch automatisch besser. Was dabei wirklich ausschlaggebend ist, erklärt Bildungsforscher Prof. Klaus Zierer (der mit dem berühmtesten Bildungsforscher der Welt, John Hattie, zusammenarbeitet) im Interview. Er fordert: Pädagogik vor Technik! Das Interview erschien zunächst in der Ausgabe „Keine Angst vor Tablet und Co“ der Zeitschrift „Grundschule“.

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Klaus Zierer war Grundschullehrer – und ist heute einer der renommiertesten Bildungsforscher in Deutschland. Foto: privat

Als empirischer Bildungsforscher und Erziehungswissenschaftler haben Sie sich ja umfangreich mit John Hatties Studie „Visible Learning“ auseinandergesetzt und diese im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht – welche Faktoren im Kontext von Digitalisierung haben demnach die deutlichsten Auswirkungen auf die Lernleistung von Schulkindern?

Zierer: Für digitale Medien gilt, was für alle anderen Faktoren auch gilt: Es ist weniger der Faktor, der Wirkung erzielt, als vielmehr die Art und Weise, wie Lehrpersonen über Lernen und Lehren denken und darauf aufbauend den jeweiligen Faktor – hier: digitale Medien – in den Unterricht integrieren. Das lässt sich an einer Reihe von Faktoren aufzeigen. Nehmen wir zum Beispiel „intelligente Tutoringsysteme“ mit einer Effektstärke von 0,48. Auf den ersten Blick überzeugend, auf den zweiten Blick zeigt sich: Die Wirkung dieses Faktors hängt davon ab, dass ich als Lehrperson auf der Grundlage des Lernstandes meiner Schülerinnen und Schüler weiß, wann diese Maßnahme die richtige ist.

Konkret wissen wir, dass intelligente Tutoringsysteme auf den Ebenen der Reproduktion und Reorganisation hilfreich sein können, auf den Ebenen des Transfers und des Problemlösens aber schnell an ihre Grenzen stoßen. Damit zurück zu Ihrer Frage: Es ist nicht das digitale Medium entscheidend – diese ändern sich sowieso tagtäglich – und insofern würde eine einfache Fokussierung auf bestimmte Medien das Ziel von Schule und Unterricht verfehlen. Vielmehr ist die Professionalität von Lehrpersonen entscheidend.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Dieser Beitrag und weitere zum Thema Legasthenie und Dyskalkulie sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Probleme richtig deuten” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Digitale Medien sind fester Bestandteil unserer Lebenswelt. Schülerinnen und Schüler können in der Regel schon wischen und klicken, bevor sie schreiben können. Die Bezeichnung „neue Medien“ erscheint somit bereits veraltet. Häu¿g gilt das allerdings noch nicht für den Schulalltag, obwohl es viele Gründe gibt, die für den Einsatz digitaler Medien sprechen – schon in der Grundschule. Die Ausgabe der „Grundschule“ bringt Beispiele für eine sinnvolle und leistbare Unterrichtspraxis.

Der Titel Ihrer neuen Publikation „Lernen 4.0 – Pädagogik vor Technik“ spricht sicherlich vielen Pädagoginnen und Pädagogen aus dem Herzen, sich wissenschaftlich fundiert dazu bekennen zu dürfen, sich nicht zum „Sklaven der digitalen Technik“ zu machen, sondern selbstbewusst die Beziehungsarbeit und das Lernen an sich in das Zentrum ihres Unterrichts zu stellen. Was meinen Sie mit der Aussage des Titels „Pädagogik vor Technik“?

Zierer: Wir können an vielen digitalen Medien der vergangenen Jahre sehen, welche enormen Möglichkeiten der technische Fortschritt mit sich bringt. Dennoch darf man aus meiner Sicht den Kontext nicht aus dem Blick verlieren, in dem diese digitalen Medien eingesetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, nicht so einfach die Forderung einer „Industrie 4.0“, einer „Arbeitswelt 4.0“ oder einer „Medizin 4.0“ auf Erziehung und Unterricht zu übertragen. Aus diesem Grund ist gerade bei Bildung zu unterscheiden, was technisch möglich und pädagogisch sinnvoll ist.

Ein konkretes Beispiel: Schon heute ist es technisch möglich, dass Kinder keine Fremdsprache mehr lernen müssen, um sich mit anderen Menschen in einer fremden Sprache zu unterhalten. Eine App kann die Übersetzung übernehmen. Pädagogisch sinnvoll ist das aber nicht, denn das Erlernen einer Sprache erschöpft sich nicht darin, dass ich eine Sprache spreche. Eine Sprache ist auch und vor allem Träger von Werten und Normen, von Geschichte und Kultur. Und all das hilft mir eben nicht nur, eine Sprache zu beherrschen, sondern den Anderen zu verstehen und dadurch auch mich zu verstehen.

Insofern müssen aus meiner Sicht in Bildungskontexten pädagogische Überlegungen immer vor technischen Fragen stehen. Das gilt übrigens auch für all jene Fälle, in denen technische Errungenschaften neue pädagogische Möglichkeiten und damit Ziele eröffnen. Denn dann gilt es, diese neuen Möglichkeiten und Ziele erneut pädagogisch zu hinterfragen und ihre Sinnhaftigkeit zu reflektieren.

Digitale Medien sind nicht per se Unterrichtsqualitätsverbesserer. Die Lehrkraft muss sie immer im Hinblick auf ihren Mehrwert für den geplanten Unterricht prüfen. Inwiefern liefert beispielsweise der Einsatz des Tablets zur Produktion eines Erklärvideos im Sachunterricht tatsächlich einen Mehrwert, den es ohne Tablet nicht gäbe?

Zierer: Zunächst ist beim Einsatz von digitalen Medien zu unterscheiden, ob es um die Wirkung in einem Fach geht oder um die Wirkung auf digitale Kompetenzen. Im Falle der Letzteren ist es einfach und zweifelsfrei, wenn ich Ihr Beispiel aufgreife: Kinder lernen bei der Produktion eines Erklärvideos den Umgang mit digitalen Medien und wünschenswerterweise auch eine kritische Einstellung dazu. Ob digitale Kompetenz in welcher Form auch immer bereits in der Grundschule gelernt werden muss, ist eine andere, normative Frage.
Bei der Frage nach der Wirkung in einem Fach sind die Kriterien andere.

Der Mehrwert zeigt sich hier am Lernerfolg: Der Einsatz digitaler Medien führt dann dazu, dass Schülerinnen und Schüler besser lernen – dabei kann „besser“ schneller, nachhaltiger, motivierter, demokratischer und dergleichen bedeuten. Gerade in diesen Fällen zeigen viele empirische Studien, dass der Einsatz von digitalen Medien kein Selbstläufer ist: Er alleinführt nicht zu diesem Mehrwert. Dieser erfordert von Lehrpersonen eine entsprechende pädagogische Expertise. Das gilt auch für die erwähnten Erklärvideos.
 
Wie können nun Lehrerinnen und Lehrer, deren professionelles Handeln der entscheidende Faktor für eine gelingende – das heißt wohl durchdachte – Digitalisierung im Unterricht ist, eben dieses professionelle Handeln weiterentwickeln?

Zierer: Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, digitale Medien nicht als Selbstzweck zu sehen, sondern die Frage nach dem Warum zu reflektieren. Wenn Lehrpersonen auf diese Frage beispielsweise antworten, dass digitale Medien eingesetzt werden, weil es heutzutage erwünscht sei, dann hat das wenig mit Professionalität zu tun. Wenn sie demgegenüber antworten, dass sie digitale Medien einsetzen, weil sie für ihre Lernenden zum jetzigen Zeitpunkt, ausgehend vom Lernstand und im Hinblick auf das angestrebte Bildungsziel das Medium mit dem größten zu erwartenden Effekt sind, dann zeigt sich daran pädagogische Expertise. Kurzgefasst steckt das in der Formel: Pädagogik vor Technik.

Als didaktisches Arbeitsmodell finde ich hierfür das SAMR-Modell von Puentedura hilfreich, weil es sowohl theoretisch fundiert als auch empirisch abgesichert ist. Er unterscheidet darin vier Ebenen des digitalen Medieneinsatzes, um dessen Möglichkeiten sichtbar zu machen: S steht für Substitution (Ersetzung), A für Augmentation (Erweiterung), M für Modifcation (Änderung) und R für Redifinition (Neubelegung). Das überzeugende an diesem Modell: Auf den Ebenen der Substitution und Augmentation sind keine durschlagenden Effekte möglich – man kann das machen, muss es aber nicht. Interessant wird es auf den Ebenen der Modification und Redifinition. Hier kommt es zu einem Mehrwert durch den Einsatz digitaler Medien, der vor allem darauf zurückzuführen ist, dass es gelingt, Menschen und ihre Ideen miteinander zu verbinden.

Die Digitalisierung ist wie in der Gesellschaft  auch im Bildungsbereich nicht aufzuhalten. Gibt es Ihrer Meinung nach Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Digitalisierung in Schule und Unterricht?

Zierer: Zunächst stimme ich der These zu, dass Digitalisierung auch im Bildungssystem nicht aufzuhalten ist. Ob das gut ist, muss aus meiner Sicht konkretisiert werden: Keine Technik ist nur gut und keine Technik ist nur schlecht. Technik bringt immer Chancen mit sich, aber eben auch Gefahren. Letztere können wir heute bereits an vielen Facetten erkennen. Ich nenne nur Smartphones als Beispiel, die bereits die Erlebensmöglichkeiten von Grundschulkindern verändert haben – und das eben nicht nur positiv.

Damit will ich nicht gegen eine Digitalisierung im Bildungsbereich sprechen, sondern eher ihre Notwendigkeit unterstreichen und damit auch die zentrale Gelingensbedingung ansprechen: Digitalisierung erfordert eine umfassende Medienbildung, die die Bereiche der Medienkunde, der Mediengestaltung, der Mediennutzung und der Medienkritik umfasst. Und alle vier Bereiche sind wichtig, hängen voneinander ab, beeinflussen sich gegenseitig. Um das umzusetzen, sind Strukturen wichtig, aber noch wichtiger sind die Menschen, die diese Strukturen zum Leben erwecken. Insofern brauchen wir nicht nur eine Investition in digitale Ausstattung, sondern vor allem eine Investition in die Menschen. Und da wir Menschen Teil der Natur und Umwelt sind, brauchen wir ein gesundes Ökosystem – aus meiner Sicht viel, viel wichtiger als Digitalisierung.

Abschließend: Was ist Ihre zentrale Botschaft an Lehrerinnen und Lehrer, die die Herausforderungen der Digitalisierung im Unterricht sinnvoll meistern wollen?

Zierer: Wichtiger als das, was Lehrpersonen tun, ist, wie und warum sie es tun. Erfolgreiche Lehrpersonen zeichnen sich nicht nur durch Kompetenzen aus, sondern durch Haltungen. Und eine der entscheidenden Haltungen ist, danach zu fragen, welchen Einfluss man auf die Lernenden hat, diesen Einfluss sichtbar zu machen und als Gesprächsanlass für den kollegialen Austausch zu nutzen. Denn eines unterstreicht Digitalisierung in einer besonderen Weise: Nachhaltige Schul- und Unterrichtsentwicklung erfordern kooperative Strukturen und eine Kultur des Fehlers, eine gemeinsame Vision von Schule und Bildung sowie eine gemeinsame Vorstellung von Unterrichtsqualität. Nutzen Sie also Ihre kollektive Intelligenz, entwickeln Sie eine gemeinsame Bildungsvision und tauschen Sie sich evidenzbasiert über Unterricht als Ihr Kerngeschäft aus! Ines Oldenburg führte das Interview.

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Vita und Werk

Prof. Dr. Klaus Zierer (geb. 1976) ist Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuvor war er von 2011 an Professor für Erziehungswissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Ursprünglich als Grundschullehrer tätig, wurde er 2003 an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert und 2009 mit einer international vergleichenden Arbeit über eklektisches Vorgehen in Lehrbüchern der Didaktik und des Instructional Design habilitiert. Seit 2010 ist er Associate Research Fellow am ESRC Centre on Skills, Knowledge and Organisational Performance (SKOPE) der University of Oxford.

Aus Klaus Zierers breitem Spektrum wissenschaftlicher Tätigkeiten sind besonders die Arbeiten im Anschluss an John Hatties Werk „Visible Learning“ bekannt, wie „Kenne deinen Einfluss! Visible Learning für die Unterrichtspraxis“ (2018, 3. erweiterte Auflage, Schneider Verlag), das Zierer gemeinsam mit Hattie verfasst hat. Seine neueste Publikation beschäftigt sich mit der Digitalisierung im Bildungssystem: „Lernen 4.0 – Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich“ (2018, 2. Auflage, Schneider Verlag).

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Läuft doch super, auch ohne das Digitaldingsda – Von der Illusion, dass alles in Deutschland so bleiben kann wie bisher (auch in Schulen)

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Aufmerksamer Beobachter
5 Jahre zuvor

Klaus Zierer stellt zurecht fest: „Es ist nicht das digitale Medium entscheidend – diese ändern sich sowieso tagtäglich – und insofern würde eine einfache Fokussierung auf bestimmte Medien das Ziel von Schule und Unterricht verfehlen.“

Ganz genau so sehe ich das auch. Und exakt deshalb halte ich die momentan in Politik und Wirtschaft grassierende Fokussierung rein auf die Versorgung mit Hardware für grundfalsch.
Danke an N4t für diesen Beitrag.

Aufmerksamer Beobachter
5 Jahre zuvor

By the way: Neben den digitalen dürfen parallel dazu weiterhin gerne auch analoge Zugänge zu den Köpfen der Menschen verwendet werden.

drd
5 Jahre zuvor

Danke! Um historische Fragestellungen zu reflektieren, benötige ich keinen Computer.

Bernd Gebert
5 Jahre zuvor

Das macht Schule hat vor kurzem einen Blog-Beitrag veröffentlicht und darin empfohlen, sich einen digitalen Leitfaden zu erarbeiten, der sich mit Sinn und Zweck digitale Bildung an der Schule auseinandersetzt: http://www.das-macht-schule.net/digitaler-leitfaden

Christian Ebinger
5 Jahre zuvor

Ich vermisse aber bei ihm völlig den Ansatz, dass Digitalisierung einem Schulsystem, das an großer Ressourcen-Knappheit leidet, Erleichterung verschaffen kann. Digitalisierung in der Bildung wäre — so gedacht — ähnlich wie Digitalisierung in der Medizin und Pflege zunächst erstmal als Entlastung der dort Arbeitenden von Bürokratie und stumpfsinnigen Routinearbeiten gedacht. Vokabeltests erstellen und korrigieren zum Beispiel ist recht zeitaufwändig, und man hat immer noch viel zu wenig Zeit dafür. Man müsste noch viel öfter Tests schreiben. Und man müsste dringend tiefer schürfen bei der Diagnose: Wo hat der Schüler Schwächen? Fehlen ihm bereits die einfachsten Vokabel-Grundlagen? Müsste er also erst mal zurück ins erste Lernjahr und könnte da effektiv ansetzen, bevor er sich in den schweren Vokabeln des vierten Lernjahrs verzettelt? Oder zeigen die Schülerleistungen nach drei, vier Tests kontinuierlich gute Leistungen und der Schüler könnte effektiv gefördert werden mit Zusatzvokabeln, wo er sich sonst langweilt? Diese Diagnose könnten wir Lehrer erst unter riesigem Aufwand leisten. In der Wirklichkeit sind wir bereits jetzt völlig überlastet, was Vokabeltests angeht. Hier wäre Digitalisierung dringend geboten und eine riesige Hilfe. Hier wäre Differenzierung — Zuschnitt auf jeden einzelnen Schüler — elektronisch leicht möglich. Es wäre sogar fahrlässig, bei unseren knappen Steuermitteln, diese Effektivitäts-Steigerung zugunsten unserer Schüler nicht zu nutzen!
Leider klingt obiges Interview so, als gäbe es im Schulsystem keinen Mangel bzw. als hätte Digitalisierung mit diesem Mangel nichts zu tun. Das halte ich für einen riesigen blinden Fleck bei diesem weltbekannten und extrem klugen Professor! Gern würd ich mich mit ihm mal darüber unterhalten!