Website-Icon News4teachers

Entscheidend is‘ im Klassenzimmer: Warum der „Lagebericht“ von Klaus Klemm zur Inklusion sein Thema verfehlt

Ein Gastkommentar von Tillmann Nöldeke

KÖLN. „Inklusionsziel verfehlt“, so Bildungsforscher Klaus Klemm (News4teachers berichtete). Beleg für dieses Urteil ist für den emeritierten Professor, der seit Jahren im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung unermüdlich für die schulische Inklusion kämpft, die Schulstatistik der Kultusministerkonferenz (KMK). Zwischen 2008 und 2016 habe sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die in Förderschulen unterrichtet werden, nur von 4,9 auf 4,3 Prozent verringert. Klemm nennt das „Exklusionsquote“ und folgert ziemlich verschnupft: „Wenn man Inklusion befürwortet, ist das ein trauriges Ergebnis, wenn man dagegen ist, kann man eigentlich zufrieden sein.“ (KStA 4.9.2018)

Dass die Inklusion in Deutschland mehr Ressourcen benötigt, dürfte unstrittig sein. Foto: Shutterstock

Nur 0,6 Prozent weniger Förderschüler seit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention – auf den ersten Blick in der Tat ein wahrlich mageres Ergebnis. Und dafür die ganze Aufregung! Aber wie das so ist mit den statistischen Daten: Vieles ist eine Frage der Darstellung. Und noch gravierender ist die Frage, was die Daten eigentlich mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Anzeige

Beginnen wir mit der Darstellung. Wie viele Kritiker der „nur schleppend vorangehenden Inklusion“ verschweigt Klemm, dass die Quote der Kinder und Jugendlichen, die sonderpädagogisch gefördert werden, bereits seit den 1990er Jahren kontinuierlich steigt. Eine wirklich plausible Erklärung dafür hat die Wissenschaft nicht. Aber das Phänomen ist keineswegs auf Deutschland beschränkt: In Italien, seit Jahrzehnten unangefochtener Europameister bei der Integration von Kindern mit Handicap in die Regelschule, stieg die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit „Etikett“ innerhalb von 10 Jahren um 45 Prozent, in der Schweiz verdoppelte sich sogar die Zahl der Förderschüler. Deshalb ist es schlicht unseriös, zu folgern, die deutlich gestiegene Inklusionsquote in Deutschland sei „überwiegend“ darauf zurückzuführen, dass die Regelschulen munter ihre Kinder umlabeln. Festgestellt werden kann dagegen: Zwischen 1999 und 2009 ist die sogenannte Exklusionsquote um zehn Prozent gestiegen, bis 2016 jedoch um 15 Prozent gefallen. Das klingt doch schon viel besser. Wie es scheint, brachte also die UN-Behindertenrechtskonvention eine echte Trendwende…

Inklusion: Ganz oder gar nicht

Unser Gastautor, Tillmann Nöldeke, ist Lehrer – und Inklusionsexperte. In seinem Buch “Inklusion: Ganz oder gar nicht” zeigt er auf, woran Inklusion „krankt“ und wie sie gelingen kann. Hier lässt sich das Buch bestellen oder herunterladen (kostenpflichtig).

Der Befund ist erschreckend: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren sind Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen und Konzepte. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme. Nach der Bruchlandung solcher „Inklusion light“ braucht es dringend die Strategie einer „Inklusion 3.0“, die ein gewinnbringendes gemeinsames Lernen für alle Kinder an sehr vielen Schulen ermöglicht. Tillmann Nöldeke gibt hierzu Antworten mit Blick auf Ziele, Ressourcen und Change-Management.

Aber was hat dieser ganze Zahlenzauber nun mit der Wirklichkeit zu tun? Wenn es bei dem Thema darum geht, dass jedes Kind mit Handicap möglichst gut gefördert und wenig ausgegrenzt wird, um am Ende der Schulzeit möglichst große Chancen auf einen befriedigenden Beruf, soziale Anerkennung und ein barrierearmes Leben mitten in unserer Gesellschaft zu haben – eher weniger. Ob Inklusion gelingt oder nicht, ist keine Frage der Theorie oder gar der statistischen Daten, sondern der Praxis. In Abwandlung einer alten Fuballerweisheit: Entscheidend is’ im Klassenzimmer und auf dem Pausenhof. Wird ein Kind im Unterricht überfordert und in der Pause gemobbt, dann kann für dieses Kind die Förderschule der inklusivere Ort sein. Die physische An- oder Abwesenheit von Förderschülern auf einer Regelschule taugt nicht als Indikator für Inklusion. Für Klaus Klemms „Lagebericht“ und die Bertelsmann-Stiftung gilt deshalb: Thema verfehlt!

Um herauszufinden, wie es um die Inklusion steht, müssen wir uns also die Schulen ansehen. Manche Lehrer fühlen sich überfordert, sehr viele klagen über zu wenig Zeit für individuelle Förderung, unzureichende Räumlichkeiten, fehlende Fortbildungen. Immer häufiger scheitern Kinder mit Förderbedarf an der Regelschule. Darüber hinaus gibt es im gemeinsamen Lernen eine Reihe pädagogischer Probleme, die zwar untersucht, jedoch noch keineswegs gelöst sind. So werden beispielsweise Kinder mit Förderbedarf bis zu dreimal häufiger ausgegrenzt als ihre Peers ohne Handicap. An Schulen, die ohnehin eine sozial besonders benachteiligte Klientel hat, droht das Lernniveau abzusinken. Und es hakt bei der inklusiven Schulentwicklung: Schulen, die schlecht gestartet sind, sind nachweislich auch Jahre später kaum „inklusiver“. Nur ein Fünftel der Schulen mit gemeinsamem Lernen glaubt selbst daran, durch die Inklusion „allen Schülerinnen und Schülern besser gerecht werden“ zu können, so jedenfalls eine Studie aus Rheinland-Pfalz. Dass gemeinsames Lernen zu höheren Schulabschlüssen für Jugendliche mit Handicap führt, wird zwar oft postuliert, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen. Und schließlich ist der Widerspruch zwischen selektivem Schulsystem und gemeinsamem Lernen aller Kinder gänzlich ungelöst. Es hat der Inklusionsbewegung geschadet, dass sie diese Probleme lange Zeit verschwiegen hat.

Kein Zweifel: Angesichts dieser Bilanz kann zehn Jahre nach Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag getrost gesagt werden: „Inklusionsziel verfehlt“. Wer aber daraus schließt, dass Inklusion „halt nicht klappt“, irrt schlicht oder verschweigt die Wahrheit. Gut gemachtes gemeinsames Lernen gibt es in Deutschland an einzelnen Schulen bereits seit über 30 Jahren. Die Pionierschulen waren nie perfekt, aber sie tragen zu Recht das wissenschaftliche Prädikat „erfolgreich“. Voraussetzungen waren kleine Klassen, Unterricht meist von zwei Lehrkräften, durchdachte pädagogische Konzepte und ein Konsens unter Pädagogen, Eltern und Schülern, dass sich ein Engagement für die integrative Sache lohnt, weil sie richtig ist, Schule humaner macht und für alle bereichernd sein kann.

An diesen Erfahrungen müsste eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern jetzt anknüpfen. Das Geld dafür wäre ja vorhanden. Inklusive Schulen müssen für alle Kinder attraktiv werden, wenn sich das gemeinsame Lernen durchsetzen soll. Passieren wird jedoch nur etwas, wenn das eine starke Elternlobby für gelingende Inklusion mit langem Atem erkämpft. Vorbild dafür wäre die Hamburger Volksinitiative für gute Inklusion, die jüngst substantielle Verbesserungen für das gemeinsame Lernen erreichen konnte. Vielleicht heißt es dann 2028 doch noch: Inklusionsziel erreicht!

Hier geht es zu einem aktuellen Beitrag von Klaus Klemm, in dem er die Situation der Inklusion in Deutschland analysiert.

Der Autor

Tillmann Nöldeke ist verheiratet und hat zwei Kinder – eines davon ist Inklusionskind. Das Thema Inklusion beschäftigt ihn nicht nur privat, sondern auch beruflich – als Lehrkraft für Biologie und Philosophie mit langjähriger Erfahrung im „inklusiven“ Alltag einer Brennpunktschule und als freier Journalist. Er ist Mitglied im Verband Sonderpädagogik (vds).

Die “Instant-Inklusion” ist gescheitert! Ein Lehrer (und betroffener Vater) antwortet auf die Streitschrift von Wocken

Die mobile Version verlassen