BERLIN. Es hakt bei der Umsetzung der Inklusion in Deutschland. Der Fall einer Bremer Gymnasiallleiterin, die die dortige Bildungssenatorin verklagt hat, weil sie Förderschüler nicht aufnehmen wollte, zeigt deutlich die wachsende Gereiztheit beim Thema (News4teachers berichtete). Viele Lehrkräfte fühlen sich überfordert. Betroffene Eltern, die sich eigentlich einen gemeinsamen Unterricht wünschen, kritisieren die Zustände an den Regelschule. Tatsächlich, das machen die renommierten Bildungsforscher Katharina Rathmann und Klaus Hurrelmann in dem von ihnen herausgegebenen Buch “Leistung und Wohlbefinden in inklusiven Schulen” deutlich, wurde die Herausforderung offenbar unterschätzt. Vor allem ein Punkt scheint viel zu kurz zu kommen: das Wohlbefinden der Schüler – und ihrer Lehrer. Wir veröffentlichen hier einen Auszug.
Hier lässt sich das Buch herunterladen oder bestellen (kostenpflichtig).
Leistung und Wohlbefinden in inklusiven Schulen
Schulen in Deutschland stehen mehr denn je vor der Herausforderung, inklusive Strukturen zu etablieren, also Schülerinnen und Schüler mit einem spezifischen pädagogischen Förderbedarf in de n Regelschulbetrieb einzugliedern und nicht in institutionell abgesonderten Schulen zu unterrichten. Mit dem Abkommen der UN-Behindertenrechtskonvention, das für die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, verpflichten sich die Vertragsstaaten in Artikel 24 (Absatz 3), das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen“ und dazu ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten. Dadurch soll Menschen mit Behinderung durch geeignete Maßnahmen der Erwerb lebenspraktischer Fertigkeiten und sozialer Kompetenzen ermöglicht werden, indem die „volle und gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft“ erleichtert wird (United Nations 2006).
Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention stellt die Schulen in Deutschland vor völlig neue didaktische und erzieherische Herausforderungen. Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und einem sich daraus ergebenden „sonderpädagogischen“ Förderbedarf werden traditionell in eigens für ihre Behinderungsart eingerichteten Förderschulen (früher „Sonderschulen“ oder „Hilfsschulen“ genannt) unterrichtet. Dort werden die räumlichen und technischen Bedingungen auf ihre Behinderungsart eingestellt, und es werden speziell für ihre Bedarfe ausgebildete Lehrkräfte („Sonderpädagoginnen und -pädagogen“) mit einer speziellen Ausbildung angestellt. Die Lehrkräfte sind auf den Umgang mit und die Förderung von gehörlosen und schwerhörigen, sehbehinderten und blinden, lernbehinderten, körperbehinderten und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendliche vorbereitet.
Immer mehr Schulen stehen vor der Herausforderung, inklusive Strukturen zu etablieren, also Schülerinnen und Schüler mit besonderem pädagogischen Förderbedarf in den Regelbetrieb einzugliedern.
Aus einer interdisziplinären Perspektive beleuchtet der Band nicht nur leistungsbezogene Aspekte der schulischen Inklusion von heterogenen und vulnerablen Schülergruppen, sondern erweitert die Debatte um Aspekte des Wohlbefindens, die eng mit der schulischen Leistung korrespondieren. Ein Schwerpunkt liegt außerdem auf der Belastung und dem Wohlbefinden von Lehrkräften sowie den Herausforderungen mit schulischer Heterogenität und Inklusion.
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Lange Zeit galt der separate Ort der Förderschule als „soziale Heimat“ und als „Schonraum“ für die Kinder mit Förderbedarf, und es schien selbstverständlich, dass sowohl das Wohlbefinden der Kinder als auch die Anregung ihrer Leistungsfähigkeit durch speziell auf ihre Situation zugeschnittene, „sonderpädagogische“ Ansätze hier am besten zu gewährleisten seien. Eine Abkehr von diesem teils seit über einhundert Jahren praktizierten Prinzip stellt einen gravierenden Eingriff in die pädagogische Arbeit der Schulen in Deutschland dar.
In den 16 Bundesländern wurde der Übergang von den „exklusiven“ zu den „inklusiven“ Schulen per Gesetz praktisch von einem Schuljahr auf das nächste eingeführt. Zur Umsetzung dieser Reform gab es kaum praktische Vorbilder oder Erfahrungen und auch kaum wissenschaftliche Erkenntnisse – jedenfalls keine, die in Deutschland gewonnen wurden und sich auf die hiesige Lage beziehen ließen. In unserem Buch gehen wir zunächst der Frage nach, wie sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit einem „sonderpädagogischen“ Förderbedarf in inklusiven Schulen entwickeln. Dazu haben wir wissenschaftliche Fachleute aus verschiedenen Disziplinen gebeten, den aktuellen Forschungsstand zu berichten.
Die Zusammenstellung der Ergebnisse zeigt: Angesichts der unzureichenden Forschungslage kann die Frage noch nicht beantwortet werden, ob die Leistungen gegenüber der „exklusiven“ Beschulung besser oder schlechter ausfallen. Praktisch alle vorliegenden Forschungsberichte sind sich aber darin einig, dass Erfolg oder Misserfolg der inklusiven Pädagogik davon abhängen, ob sich die Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrerinnen und Lehrer mit der für sie neuartigen Konstellation positiv arrangieren können. Mit anderen Worten: Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler können unter den bisher ungewohnten Bedingungen von Heterogenität und Diversität nur gesichert werden, wenn sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrerinnen und Lehrer sich an den inklusiv arbeitenden Schulen wohl fühlen.
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Das umfassende Konzept des „Wohlbefindens“ (abgeleitet vom Englischen wellbeing) wurde zwar – wie erwähnt – zur Begründung der Einrichtung von Hilfs-, Sonder- und Förderschulen impliziert immer verwendet, aber nie explizit ausgearbeitet. Erst in den letzten zehn Jahren hat es sich in der interdisziplinären Bildungsforschung fest etabliert. Mit Wohlbefinden wird das subjektive Gefühl sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch der Lehrerinnen und Lehrer bezeichnet, sich in der sozialen Institution Schule in einem angenehmen und wertschätzenden Raum zu befinden, dessen Regeln nachvollziehbar und verständlich sind, und der dadurch auch Sicherheit und Stabilität bietet:
Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler ist in diesem Sinn eine grundlegende Voraussetzung dafür, Leistungen zu erbringen. Durch die Beachtung der subjektiven Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zur Schule und zu den Lehrkräften wird die Aufgabe der Schule als Bildungsinstitution gegenüber der bisher vorherrschenden Vorstellung erweitert: Sie ist für das Erreichen kognitiver Ziele verantwortlich, sie hat dafür aber zugleich auch die Bedingungen zu schaffen, und die liegen darin, alles dafür zu tun, um eine positive Haltung der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Schule, den Lehrkräften und dem Lernen zu ermöglichen.
Wohlbefinden der Lehrerinnen und Lehrer ist in diesem Sinn die Voraussetzung dafür, das fachliche Potential voll entfalten zu können und den vielfältigen Anforderungen der Förderung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Dafür sind die räumlichen, organisatorischen, sozialen und kooperativen Bedingungen zu schaffen, um die Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, eine positive Haltung gegenüber der Schule als ihrem Arbeitsplatz und den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern als ihren „Klienten“ zu entwickeln.
Diese Zusammenhänge galten schon immer, aber sie sind durch die Umsetzung der Internationalen Behindertenrechtskonvention neu in die Fach- und die Praxis-Diskussion einbezogen worden. Das ist nicht erstaunlich, weil sich schon nach kurzer Zeit der Umsetzung von inklusiven Ansätzen in Schulen zeigte, dass es ein eklatantes Fehlverständnis wäre, sie als rein organisatorische Maßnahmen zu verstehen. Vielmehr wurde klar, dass die notwendigen Veränderungen, die mit der schulischen Inklusion einhergehen, das Grundverständnis der pädagogischen Arbeit in Schulen auf einer Vielfalt von Ebenen betreffen:
- Erstens die Organisation des gesamten Bildungssystems einschließlich der Frage nach einem adäquaten Schulsystem für alle Schülerinnen und Schüler.
- Zweitens die Qualifikation und Arbeitsweise des pädagogischen Fachpersonals, das ein breiteres Spektrum von Förderanforderungen vorfindet und in multiprofessionellen Team s kooperieren muss.
- Drittens angemessene didaktische Unterrichtsformen, in der die Differenzierung der Lernenden und die Heterogenität der Schülerschaft zu den wesentlichen Herausforderungen zählen.
- Viertens angemessene soziale Formen des Unterrichtens und Lernens, um unter Bedingungen von Heterogenität und Diversität innerhalb der Schulen und Klassen die sozioemotionalen Erfahrungen eines jeden einzelnen Kindes zu berücksichtigen.
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Professor Dr. Klaus Hurrelmann gehört zu den bekanntesten Kindheits- und Jugendforschern in Deutschland. Seit 1979 Professor an der Universität Bielefeld, wo er Sozial- und Gesundheitswissenschaft lehrte, ist er heute Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Er leitete von 1986 bis 1998 das Kooperationszentrum »Health Behavior in School Children« der WHO.
Katharina Rathmann, geb. 1982, Dr. phil., ist Vertretungsprofessorin im Fachgebiet Rehabilitationssoziologie, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Technische Universität Dortmund. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kindheits- und Jugendgesundheits- sowie Schulforschung.
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert.
News4teachers-Dossier – gratis herunterladbar: „Das Inklusions-Chaos”