DÜSSELDORF. Ein “Bündnis für inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen”, dem insgesamt 40 Organisationen (darunter auch die GEW) angehören, wirft Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) Versagen, sogar Täuschung bei der Inklusion vor. Angekündigte Qualitätsverbesserungen entpuppten sich absehbar als substanzlos. Auch der VBE – der dem Bündnis nicht angehört – beklagt ein gravierendes Defizit.
Vier Monate vor Beginn des neuen Schuljahres zeichne sich ab, so heißt es auf Seiten des Bündnisses, dass keiner der angekündigten sogenannten Qualitätsstandards erfüllt werde. „Die Ministerin schafft es nicht, die versprochenen Qualitätsverbesserungen im Rahmen ihrer ‚Neuausrichtung‘ in die Tat umzusetzen“, kritisierte die Landesvorsitzende der GEW, Dorothea Schäfer, auf der Landespressekonferenz am Freitag. „Das Einzige, das die ‚Neuausrichtung‘ der Inklusion bisher bewirkt, ist große Verunsicherung und eine Reduzierung der inklusiven Schulen.“
Bernd Kochanek., Vorsitzender des Inklusionsfachverbandes „Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V.“, warf der Ministerin sogar “eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit” vor. Den betroffenen Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern sei eine qualitative Verbesserung des inklusiven Unterrichts in Schulen versprochen worden. Genau diese die Qualität betreffenden Teile des Erlasses würden jetzt aber gar nicht vollzogen. Fragen der Qualitätsentwicklung würden einfach auf die Schulaufsichten und Schulen delegiert, es fehle an Steuerung auf allen Ebenen: „Die Ministerin redet von Qualität, aber sie tut nichts dafür.“
Die Landesschüler*innenvertretung (LSV) sieht in der Politik von Schwarz-Gelb ein „blamables Desinteresse an der schulischen Inklusion“, so LSV-Vertreter Nikolaj Grünwald. Gebauer verstoße gegen die menschenrechtlichen Vereinbarungen der UN-Behindertenrechtskonvention, „weil sie weiß, dass junge Menschen mit Behinderung keine einflussreiche Lobby haben, anders als investitionshungrige Digitalkonzerne.“
Vier Qualitätskriterien – vergessen?
Bei ihrem Antritt 2017 hatte Gebauer angekündigt, Förderschulen zu erhalten und die vielfach kritisierte Inklusion in den Schulen zu verbessern. Mit den im Sommer 2018 beschlossenen Eckpunkten des Ministeriums zur Neuausrichtung der Inklusion (News4teachers berichtete) wollte die Ministerin den Einsatz von zusätzlichem Personal an einigen weiterführenden Schulen ab Sommer 2019 „bündeln“ und an diesen Schulen vier Qualitätskriterien garantieren, so erinnert das Bündnis:
- Alle diese Schulen sollten ein Inklusionskonzept vorweisen.
- An allen Schulen sollte der Einsatz von Sonderpädagogen und Soderpädagoginnen für die pädagogische Kontinuität gewährleistet sein.
- Das Kollegium sollte systematisch in Sachen Inklusion fortgebildet sein.
- Die Ausstattung der Schule sollte Gemeinsames Lernen ermöglichen.
Außerdem habe sie versprochen, die Schülerzahl in inklusiven Klassen der Sekundarstufe auf 25 zu begrenzen und jede dieser Klassen mit einer halben Stelle für Sonderpädagogen zu versorgen. Kurz vor Beginn der „Neuausrichtung“ zeige sich aber, so moniert das Bündnis, dass nichts davon eintrete. Konkret:
- “Die meisten weiterführenden Schulen des Gemeinsamen Lernens haben kein Konzept für die Umsetzung der Inklusion. Das Schulministerium ist in den Erlassen zurückgerudert und verlangt statt Konzepten lediglich eine Absichtserklärung, in Zukunft ein Konzept zu erstellen. Inhaltliche Leitlinien für gute Inklusionskonzepte stellt das Ministerium nicht zur Verfügung. Ein „Orientierungsrahmen“ beschreibt nur, zu welchen Themenbereichen Ausarbeitungen erwartet werden. Bei der Frage, wie Inklusion gut gestaltet werden kann, bleiben die Schulen auf sich gestellt.”
- “Die Versorgung der Schulen des Gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe mit Sonderpädagog*innen und Lehrpersonal ist nicht gesichert. Die angekündigten Personalstellen fürs kommende Schuljahr sind bisher nicht ausgeschrieben. Obwohl Schulministerin Yvonne Gebauer ein ganzes Jahr „Übergangszeit“ genommen hat, liegen die Vorschriften und Erlasse nicht rechtzeitig vor. Eine Vorbereitung der Kollegien mit neu eingestellten Lehrkräften für das nächste Schuljahr ist schon nicht mehr möglich. Ob die Stellen überhaupt besetzt werden können – ob mit Sonderpädagog*innen oder wenigstens mit Lehrer*innen – ist angesichts des Lehrkräftemangels mehr als fraglich. Die Anweisung an die Schulaufsichten lautet inzwischen, es sei sicher zu stellen, dass jede Schule des Gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe wenigstens eine*n einzige*n Sonderpädagog*in habe.”
- “Von systematischer Fortbildung der Kollegien in den Schulen des Gemeinsamen Lernens kann bis heute keine Rede sein. Verstärkte Fortbildungsanstrengungen seitens der Schulen und des Ministeriums im ablaufenden Schuljahr sind nicht bekannt. Auch hier wird kein Nachweis über Frotbildung mehr verlangt.”
- “Viele Schulen des Gemeinsamen Lernens sind entgegen der Qualitätskriterien nicht ausreichend räumlich ausgestattet. Offenbar werden eine Reihe dieser Schulen deshalb auch Schüler*innen bestimmter Förderschwerpunkte nicht aufnehmen. Es sind bereits Fälle bekannt, in denen Schüler*innen mit Behinderung nur noch inklusive weiterführende Schulen in erheblicher Entfernung vorgeschlagen worden sind.”
Darüber hinaus stehe fest: Es werde flächendeckend keine kleineren Klassen für die Inklusion geben. Die im Sommer 2018 von Gebauer angekündigte Formel von maximal 25 Schülern sei intern längst zu einer „Rechengröße“ relativiert worden, erklärt das Bündnis. In der Realität würden es in den meisten Fällen unverändert 27 bis 30 Schüler pro inklusiver Klasse sein.
VBE: Grundschulen zu ignorieren, ist nicht zielführend
Zur Kritik des Bündnisses legt der VBE (der der Initiative nicht angehört) noch einen Punkt hinzu: Die Rolle der Grundschulen werde von Gebauer nicht ausreichend berücksichtigt. „Alle Grundschulen arbeiten inklusiv, dennoch sind sie in der Neuausrichtung nicht berücksichtigt. Die Grundschulen zu stärken, würde die Qualität der schulischen Inklusion stärken”, meint VBE-Landesvorsitzender und betont: „Wir benötigen einen Blick auf das gesamte Schulsystem, nur einzelne Schulstufen scheinbar unabhängig voneinander zu betrachten oder sogar ganze Schulformen auf die eine oder andere Art und Weise aus der Gesamtstrategie herauszulassen, ist nicht zielführend.”
Ziel müsse es sein, langfristig alle Schulen ausreichend auszustatten. Behlau: “Es braucht wesentlich mehr Personal und dann auch eine Anpassung der Qualitätsstandards an die Forderungen aus der Praxis. Inklusive Klassen benötigen eine feste Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge. Eine zusätzliche halbe Stelle für eine inklusive Klasse reicht nicht. Alles steht und fällt mit der aus reichenden Lehrerversorgung.“
Das Bündnis für inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen hat sich am 17. Juni 2018 gegründet. Es vertritt derzeit 40 Organisationen, darunter neben Vereinen und Gremien der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung auch die Sozialverbände, zahlreiche Elternvereine sowie die Bildungsgewerkschaft GEW und die Landesschüler*innenvertretung.
Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. – Der Inklusionsfachverband, mittendrin e.V., Autismus Landesverband NRW e.V., Landesschüler*innenvertretung NRW, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW NRW, SoVD NRW e.V., VdK NRW e.V., Landesbehindertenrat NRW, LAG Selbsthilfe NRW e.V., Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben ISL NRW e.V., Landeselternschaft der Förderschulen Schwerpunkt Geistige Entwicklung, NRW-Bündnis Eine Schule für alle, Grundschulverband Landesgruppe NRW, Landesverband der Gehörlosen und Gebärdensprachgemeinschaft NRW e.V., Kinderschutzbund KV Warendorf e.V., Progressiver Eltern- und Erzieherverband PEV e.V., Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e.V., Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen Dorsten, Initiativkreis Gemeinsame Schule Wuppertal, Gemeinsam leben, gemeinsam lernen Olpe plus e.V., Elterninitiative Inklusion Bornheim, Gemeinsam Leben lernen e.V. Hilden, INVEMA e.V. Kreuztal, Schule für alle e.V. Hennef, Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Kreis Borken, Bielefelder Familien für Inklusion e.V., die Inklusiven e.V. Bielefeld, Gemeinsam leben gemeinsam lernen Pulheim, Elterninitiative INKLUSION -HIER & JETZT! e.V. Leverkusen, Gemeinsam leben und lernen e.V. Düsseldorf, Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Aachen e.V., Initiative gemeinsam leben und lernen e.V. Neuss, VIBRA e.V. Ratingen, Gemeinsam leben und lernen Mönchengladbach, Prima Arbeiten und Leben PAUL e.V. Kaarst, Freizeitgemeinschaft Behinderter und Nichtbehinderter e.V. Hilden, MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. Dortmund, Aktionskreis „Der behinderte Mensch in Dortmund“, Dunkelcafé Siegen – außerschulischer Lernort für Inklusion, Aktion Menschenstadt: Evangelischer Kirchenkreis Essen
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Aktueller Dokumentarfilm zur Inklusion – Lehrerverbände zeigen sich „tief betroffen“
