STUTTGART. Das Gymnasium hat ein Problem. Wie der aktuelle IQB-Bildungstrend zeigt, sind die Leistungen der 15-jährigen Gymnasiasten in den meisten Bundesländern seit 2012 gesunken. Eine aktuelle Umfrage des Philologenverbands Baden-Württemberg zeigt auf, dass jeder zwölfte Sechstklässler am Gymnasium als überfordert gilt. Ist die freie Wahl der Schulform ursächlich?
Im zurückliegenden Schuljahr 2018/2019 galten rund 7,2 Prozent der Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 5 bis 8 an den Gymnasien als überfordert. Dies geht aus einer aktuellen Umfrage des Philologenverbands Baden-Württemberg hervor, an der 60 Schulen im ganzen Land teilgenommen hatten. „Es ist bedauerlich, dass der Anteil der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler unter den Fünft- bis Achtklässlern weiterhin so groß ist“, meint der Philologen-Landesvorsitzende Ralf Scholl. In den Klassenstufen 6 und 7 seien die Quoten sogar noch weiter gestiegen. Gegenüber dem Schuljahr 2016/2017 bei den Sechstklässern von 7,0 auf 8,6 Prozent, bei den Siebtklässlern von 7,1 auf 8,1 Prozent.
Erfreulich sei hingegen, dass in Klasse 5 der Anteil der Kinder mit schulischen Problemen gegenüber dem Schuljahr 2017/2018 um fast 10 Prozent auf 5,1 Prozent gesunken sei. „Ob dies ursächlich mit der Vorlagepflicht für die Grundschulempfehlung in Verbindung steht, die zum Schuljahr 2018/2019 eingeführt wurde, lässt sich dem Umfrageergebnis nicht entnehmen“, stellt Ralf Scholl fest. Diese Vermutung sei aber naheliegend, da der Anteil von Kindern am Gymnasium mit stark abweichender Grundschulempfehlung im letzten Schuljahr stark zurückgegangen ist. Ein Blick in die Daten zeigt allerdings auf, dass noch vor zwei Jahren deutlich weniger Fünftklässler als überfordert galten (4,6 Prozent) als im vergangenen Schuljahr; Schwankungen sind also normal.
Philologen appellieren, die Empfehlung der Grundschule ernst zu nehmen
Trotzdem appelliert der Philologen-Chef an die Eltern, die Grundschulempfehlung ernst zu nehmen und ihr Wahlrecht bezüglich der weiterführenden Schule verantwortungsvoll auszuüben. „Es ist niemandem damit gedient, wenn Kinder auf eine Schule geschickt werden, die sie unter- oder überfordert.“ Angesichts der Resultate seiner Umfrage erneuert der baden-württembergische Philologenverband seine Forderung nach einer Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung in Klasse 4. „Wir sind der Überzeugung, dass das gesunkene Leistungsniveau und die vielen überforderten Schüler zumindest teilweise auf deren Abschaffung zurückzuführen sind“, erklärt Scholl. Zudem kämen wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis, dass eine mangelnde Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung zu einer stärkeren Bildungsungleichheit beitragen könne.
Scholl betont: „Die aktuellen Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2018 sind eindeutig: Im bundesdeutschen Vergleich liegen Bayern, Sachsen und Thüringen bezüglich der Erreichung des Regelstandards und bezüglich des Verfehlens der Mindeststandards in allen vier untersuchten Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Biologie auf den besten Plätzen 1, 2 und 3. Bayern, Sachsen und Thüringen sind die einzigen drei Bundesländer, in denen die Grundschulempfehlung nach Klasse 4 noch verbindlich ist. Dies ist ein starker Hinweis darauf, dass die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung eine Förderung in homogeneren Klassen ermöglicht und so für alle Kinder – auch die leistungsschwächeren – einen größeren Lernfortschritt mit sich bringt.“
Tatsächlich belegt der aktuelle IQB-Bildungstrend, ein Schülerleistungsvergleich in Mathematik und den Naturwissenschaften, dass die Schulform Gymnasium in den meisten Bundesländern Probleme hat. Danach sanken die Leistungen der getesteten Neuntklässler an den Gymnasien im Bundesdurchschnitt. Nur in drei Bundesländern konnten die Gymnasiasten im Vergleich zu 2012 zulegen: in den vom Philologenverband gelobten Bayern und Sachsen, aber auch in Hamburg (wo die Eltern über die Schulform entscheiden). Zu den größten Verlierern zählt Thüringen – das die Philologen als vorbildlich anführen.
“Beachtliche Spitzenleistungen sind am Gymnasium möglich – wenn…”
Trotzdem schlägt Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) in die gleiche Kerbe wie der Gymnasiallehrer-Verband. Sie konstatiert, dass sich auch die Ergebnisse baden-württembergischer Gymnasien gegenüber der letzten Erhebung verschlechtert haben. „Diesen Befund müssen wir genauer analysieren“, betont die Ministerin – verweist aber schon darauf, dass für die in diesen Testlauf einbezogenen Neuntklässler die Grundschulempfehlung erstmals nicht mehr verbindlich war.
Rund zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler wechseln in Baden-Württemberg seit der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung aufs Gymnasium, ohne dass sie über die entsprechende Grundschulempfehlung verfügen, so teilt Eisenmanns Ministerium mit. Sachsen und Bayern, die Spitzenreiter beim IQB-Bildungstrend, hielten hingegen bis heute an der verbindlichen Grundschulempfehlung fest. „Diese beiden Länder zeigen auch beim IQB-Bildungstrend 2018, welche beachtlichen Spitzenleistungen an Gymnasien weiterhin möglich sind“, kommentiert Eisenmann.
Zum Gesamtbild gehört aber auch: Bayern und Sachsen verzeichnen mit 45,3 Prozent beziehungsweise 46,3 Prozent mit die geringsten Studienberechtigtenquoten in Deutschland, bringen also vergleichsweise wenige Abiturienten und Fachabiturienten hervor. Zum Vergleich: Schleswig-Holstein und Hamburg weisen hier 67,6 Prozent bzw. 65,7 Prozent auf – verzeichnen also fast 50 Prozent höhere Anteile mit hohen Schulabschlüssen. Agentur für Bildungsjournalismus
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Inwieweit sind Lehrer mitverantwortlich für die Entwicklung? Darüber diskutieren zwei Leser auf der Facebook-Seite von News4teachers.
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