STUTTGART. Lehrkräfte in Baden-Württemberg sollen durch freiwillige Mehrarbeit Zeit «ansparen» und dafür später weniger arbeiten. Damit hofft das Kultusministerium, Folgen des akuten Lehrermangels mildern zu können. Das sogenannte Vorgriffstundenmodell hat die Landesregierung nun beschlossen, wie Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) mitteilte. Es gilt ab dem Schuljahr 2020/21. Lehrerverbände zeigen sich skeptisch.
Lehrer können dann über einen Zeitraum von drei Schuljahren pro Woche eine Stunde mehr unterrichten als je nach Schulmodell für sie vorgesehen ist. Dieser «Ansparphase» folgt eine dreijährige «Karenzphase», in der sie wieder gemäß ihrer ursprünglichen Unterrichtsverpflichtung im Einsatz sind. Danach erhalten sie die «angesparten» Stunden zurück und unterrichten entsprechend weniger. Das freiwillige Modell ist laut Kultusministerium ein ergänzender Baustein eines Maßnahmenpakets gegen den gegenwärtigen Lehrermangel. Es sei «ein weiterer Schritt, der dabei helfen soll, gezielt Lücken zu schließen», erklärte Eisenmann.
“Die Resonanz im Gymnasialbereich wird gegen Null gehen”
Der Philologenverband steht dem Modell nach eigenen Angaben „äußerst skeptisch“ gegenüber. „Ich gehe davon aus, dass die Resonanz im Gymnasialbereich gegen Null gehen wird“, so der Landesvorsitzende Ralf Scholl. Bereits jetzt hätten viele Lehrer ihre Belastungsgrenze erreicht oder gar überschritten. Mit 25 Unterrichtsstunden pro Woche in Vollzeit sei die Arbeitsbelastung für Gymnasiallehrkräfte so hoch wie in den Notzeiten ab dem Jahr 1923. „Damals wurde die gesetzliche Arbeitszeit in der Wirtschaft zeitgleich auf 54 Arbeitsstunden an sechs Wochentagen erhöht“, weiß Scholl.
Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Sektoren sei die Arbeitszeit der gymnasialen Lehrkräfte seit 2003 wieder auf dieses Notstands-Niveau angehoben worden – obwohl die Anforderungen stark zugenommen hätten. „Kein Wunder, dass sich daher nur noch etwas mehr als 30 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an den Gymnasien in der Lage sehen, einen vollen Lehrauftrag zu übernehmen und fast 70 Prozent der Kolleginnen und Kollegen – trotz damit verbundener Einkommenseinbußen – in Teilzeit arbeiten“, sagt Scholl. „Außerdem leisten bereits viele Lehrkräfte über die 25 Stunden hinaus kurz- und mittelfristige Krankheitsvertretungen. Die Lehrerinnen und Lehrer an den Gymnasien warten aber immer noch auf die Rückgabe von bereits geleisteten sogenannte Bugwellenstunden in der Größenordnung von 700 Jahresdeputaten.“
“Zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer einstellen!”
Scholl betont: „Für eine schnelle und wirksame Verringerung des Unterrichtsausfalls gibt es im Gymnasialbereich ein ganz einfaches Mittel: Die Einstellung von zusätzlichen Lehrerinnen und Lehrern. Für die Gymnasien stehen in praktisch allen Fächern ausgebildete und motivierte junge Bewerberinnen und Bewerber bereit“, erklärt der Vorsitzende des Verbands der Gymnasiallehrkräfte.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von einem «Tropfen auf den heißen Stein» und fordert attraktivere Angebote. «Wenn die Landesregierung es ernst meint mit Maßnahmen gegen den Lehrermangel, muss sie mutiger sein und mehr investieren als bisher», sagte die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz. Sie verweist darauf, dass in Sachsen Mehrarbeit von Lehrkräften ab der ersten Stunde mit einem Zuschlag von 25 Prozent bewertet werde.
Ohne Investitionen wird der Lehrermangel nicht zu beseitigen sein
Der VBE begrüßt den freiwilligen Charakter des Modells, sieht die Maßnahme aber als wenig geeignet, um dem Lehrermangel im Land zu begegnen. „Wenn solch ein Modell in Baden-Württemberg eingeführt wird, muss die Freiwilligkeit oberstes Gebot sein. Um das Modell fair zu gestalten, sind außerdem eine Kumulation in der Rückgabephase und die Regelung bei Störfällen erforderlich. Trotz dieser Maßnahmen wird man jedoch nicht darum herumkommen, sich massiv zu bemühen, mehr Lehrerinnen und Lehrer an die Schulen, insbesondere die Grundschulen, zu bekommen“, erklärt VBE-Landesvorsitzender Gerhard Brand. News4teachers / mit Material der dpa
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