DRESDEN. Sollen Kinder und Jugendliche in der Coronakrise so schnell wie möglich wieder in die Schule, um dort im Gleichtakt zu lernen? Oder brauchen sie gerade jetzt andere soziale Erfahrungen und Bildungsmöglichkeiten? Eine Petition an den Bundestag, unterzeichnet von einer Reihe prominenter Bildungsforscher und -praktiker, fordert ein Umdenken – hin zu „alternativen Formen von persönlicher und fachlicher Bildung in dieser besonderen Situation“. Möglich seien beispielsweise Lernzirkel, in denen die Schüler frei von Druck und unabhängig von (derzeit ohnehin kaum erfüllbaren) Lehrplanzielen miteinander arbeiten könnten.
Um die Initiative zu verstehen, sollte man die Initiatorin kennen: Die Bildungsforscherin Prof. Anke Langner ist wissenschaftliche Leiterin der Universitätsschule Dresden – der derzeit wohl spannendsten Schulneugründung Deutschlands. Diese arbeitet digital, individuell, inklusiv, jahrgangsübergreifend und fächerverbindend.
„Die klassische Methode für die Umsetzung ist die Projektmethode“, so erklärte Langner gegenüber News4teachers (wir haben mit ihr im vergangenen Jahr ein lesenswertes Interview geführt – hier geht’s hin). „Das heißt, die Lehrkraft greift einen Impuls der Kinder auf und unterstützt sie dann darin zu planen, wie sie sich ihre Fragen erklären können. Eltern beschreibe ich es wie folgt: Wenn sich ein Kind fragt, warum das Flugzeug in der Luft bleibt, können davon ausgehend ganz viele weitergehende Fragen gestellt werden. Als geschickte Lehrerin kann ich eigentlich an so einer Frage den kompletten Lehrplan bearbeiten lassen. Das ist die Idee unserer Schule zu sagen: Schüler kommen mit Fragen und an diesen Fragen etablieren sie Projekte, begleitet durch die Lehrerinnen und Lehrer.“ In der Regel arbeiteten fünf bis sechs Schülerinnen und Schüler in einem solchen Projekt zusammen. Die Gruppen seien altersheterogen. “Und wir setzen an dieser Stelle sehr bewusst auch auf eine starke Heterogenität und die Möglichkeiten des Peer Learning.”
Kinder müssen die Welt verstehen – gerade in der Krise
Hier schließt auch die Petition an. Derzeit werde der Eindruck erweckt, „dass es unabdingbar sei, die zeitliche Taktung des Kompetenzerwerbs (insbesondere in den Fächern Mathematik und Deutsch) beizubehalten“, so heißt es – demgegenüber meinen die Unterzeichner: Kinder müssten gerade in der Krise die sie umgebende Welt verstehen, sie müsse für sie handhabbar und nachvollziehbar sein. „Inwiefern sich dafür primär Inhalte aus Mathematik und Deutsch eignen und ob die gewohnten Formen schulischen Unterrichts der beste Weg sind, muss kritisch geprüft werden.“
So wird betont: „Anstatt starr an den in den letzten Jahren etablierten Leistungsstandards der KMK als gleichen Zielen für alle zum gleichen Termin festzuhalten, ist die Pädagogik in dieser Krise in der Pflicht, Strukturen und Prozesse zu schaffen, die Schülerinnen und Schüler psychisch und sozial entlasten. Entlastung und Bildungsmöglichkeiten erfahren Schülerinnen und Schüler durch das Erleben von Gemeinschaft, durch das Teilen von Ängsten und Hoffnungen wie auch durch das kooperative Entdecken ihrer Umwelt und ihrer persönlichen Fähigkeiten und Stärken. Leistungsdruck und Angst dürfen in den nächsten Monaten nicht den Unterricht und das Leben der Schülerinnen und Schüler bestimmen, nur um die herkömmlichen Übergänge im Bildungssystem in herkömmlicher Form zu sichern. Die Schülerinnen und Schüler müssen gerade in diesen Wochen wieder die Chance bekommen, gemeinsam mit den anderen lernen und leben zu können.“
Schüler mit Mundschutz in sozialem Abstand
Und weiter: „Modelle, in denen 15 Schülerinnen und Schüler mit Mundschutz in sozialem Abstand primär auf Fachinhalte zentriert werden sollen, halten wir für fragwürdig. Wir plädieren für kreative Lösungen, die von der Zivilgesellschaft, der Praxis und der Wissenschaft gemeinsam entwickelt werden, um die Ressourcen in unserer Gesellschaft bestmöglich zum Wohle der Schülerinnen und Schüler zu nutzen.“ Konkret bedeutet das: die Bildung von kontinuierlichen kleinen Lerngruppen, die in einem häuslichen Umfeld, möglicherweise auch digital unterstützt, zusammen lernen.
„Dort, wo die familiären Bedingungen dafür nicht gegeben sind, müssen diese Kleingruppen in Schulen organisiert werden.“ Dort fänden dann soziales Lernen und Bildungsangebote in der Logik von Ferienschulen statt, die kulturelle Angebote unterbreiten und die miteinander die psychosoziale Stabilität wiederherstellen.
„Der Gordische Knoten muss zerschlagen werden: Nicht eine Vergemeinschaftung über die Optimierung eines eng fachbezogenen Kompetenzerwerbs, sondern die Frage, wie wir die psychosoziale Gesundheit und optimale Bildungsmöglichkeiten für alle Schülerinnen und Schüler gemeinschaftlich erreichen können, muss aktuell pädagogisch handlungsleitend sein“, so heißt es in der Petition, die sich an den Bundestag richtet: Der solle eine Kommission einrichten, in der über Alternativen zum schulischen Lernen in der Coronakrise diskutiert werden könne. Agentur für Bildungsjournalismus
Insgesamt 150 renommierte Bildungsforscher und -praktiker, auch viele Lehrkräfte, gehören zu den Erstunterzeichnern der Petition, darunter:
- Dr. Christine Biermann (ehemalige Didaktische Leiterin der Bielefelder Laborschule)
- em. Prof. Dr. Hans Brügelmann (Universität Siegen)
- em. Prof’in Dr.Erika Brinkmann (Stellv. Vorsitzende Grundschulverband e.V.)
- Prof. Dr. Ursula Carle Professorin für Grundschulpädagogik
- Gerd-Ulrich Franz (Bundesvorsitzender Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule)
- Prof’in Dr. Gerlind Große (Fachhochschule Potsdam)
- Prof. Dr. Martin Heinrich (Wissenschaftlicher Leiter der Versuchsschule Oberstufen-Kollegs an der Universität Bielefeld)
- em. Prof. Dr. Hans Werner Heymann
- Prof’in. Dr. Frauke Hildebrandt
- em. Prof. Dr. Wolfgang Jantzen (Professor für Behindertenpädagogik Universität Bremen)
- em. Prof’in Dr. Astrid Kaiser (Professorin i.R. für Didaktik des Sachunterrichts Universität Hamburg)
- em. Prof. Dr. Klaus Klemm
- Dr. Gerald Klenk (Vorsitzender Lernwirkstatt Inklusion e.V.)
- Gabriele Klenk (Schulleiterin)
- Prof. Dr. Alexander Lasch (Professur für germanistische Linguistik und Sprachgeschichte, TU Dresden)
- Thekla Mayerhofer (Vorsitzende des Grundschulverbandes Sachsen-Anhalt, Lehrerin)
- em. Prof. Dr. Hilbert Meyer (Universität Oldenburg)
- Gerd Möller
- Prof. Dr. Frank Müller (Professur für inklusive Pädagogik, Universität Bremen)
- Andreas Niessen (Schulleitung)
- Sylvia Peehs (Vorstandsmitglied der Landeselterninitiative für Bildung e.V. Saarbrücken)
- Daniela Pilger (Gesamtschuldirektorin)
- Prof’in Dr. Ursula Rabe-Kleberg (Universität Halle-Wittenberg)
- Margret Rasfeld
- Ellen Reuther (Universität zu Köln)
- Prof. Dr. Carsten Rohlfs (Pädagogische Hochschule Heidelberg)
- em. Prof. Dr. Hans-Günter Rolff (Universität Dortmund)
- Prof’in Dr. Lisa Rosen (Universität zu Köln)
- Dr. Michael Schwager (Gesamtschulrektor)
- Prof. Dr. Gerald Warnecke (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)
- Sabine Wendt (Grundschullehrerin, Delegierte der Landesgruppe Brandenburg des Grundschulverbandes)
- Prof. Dr. Rolf Werning (Universität Hannover)
Digital, individuell, inklusiv und fächerverbindend: Die Schule der Zukunft geht an den Start
