BERLIN. Kurz nach Schuljahresbeginn haben die ersten Schulen in Mecklenburg-Vorpommern wegen Corona schon wieder zugemacht. Virologen weisen in einer gemeinsamen Stellungnahme auf das Risiko von Infektionen in Schulen hin. Ihre Vorschläge machen deutlich, dass die bisherigen Planungen der Kultusminister – die von einem weitgehenden Normalbetrieb der Schulen ausgehen – der Lage nicht angemessen sind. Die Wissenschaftler warnen dringend davor, das Risiko bei Kindern zu unterschätzen.
Mehrere namhafte Virologen haben zum Beginn des Schuljahres in mehreren Bundesländern ohne Abstandsregel im Unterricht vor dem Risiko von Corona-Infektionen unter Schülern gewarnt und Vorschläge für Vorsichtsmaßnahmen gemacht. «Fehlende Präventions- und Kontrollmaßnahmen könnten in kurzer Zeit zu Ausbrüchen führen, die dann erneute Schulschließungen erzwingen», heißt es in einer Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie, die am Freitag verschickt wurde.
Nach vier Schultagen wurden schon wieder zwei Schulen geschlossen
Wie schnell die Hoffnungen auf einen weitgehend normalen Schulbetrieb im neuen Schuljahr zerstört werden können, zeigte sich am selben Tag in Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende der ersten Schulwoche nach den Ferien wurden ein Gymnasium und eine Grundschule geschlossen. An dem Gymnasium in Ludwigslust war eine Lehrerin positiv getestet worden an der Grundschule in Graal-Müritz im Landkreis Rostock ein Schüler. Mecklenburg-Vorpommern war am Montag als erstes Bundesland ins neue Schuljahr gestartet, am Donnerstag folgte Hamburg. Kommende Woche sind Schleswig-Holstein, Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen dran.
Die Virologen – darunter Christian Drosten, Jonas Schmidt-Chanasit und Helmholtz-Forscherin Melanie Brinkmann – schreiben in ihrer Stellungnahme: «Wir warnen vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und in der Übertragung spielen». Eine Unterschätzung der Übertragungsgefahren an Schulen wäre kontraproduktiv für das kindliche Wohlergehen und die Erholung der Wirtschaft. Für eine wirksame Unterdrückung der Virusausbreitung in der Gesamtgesellschaft bleibe es weiterhin Grundvoraussetzung, die Viruszirkulation in den Schulen niedrig zu halten. Die Experten schlagen mehrere Maßnahmen vor, um die Übertragungsrisiken in den Schulen zu minimieren.
Dazu gehört beispielsweise, die Klassengrößen abhängig von der Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren. Zudem sollten aus virologischer Sicht feste Kleingruppen definiert werden mit möglichst geringer Durchmischung der Gruppen im Schulalltag.
Geplant sind “Kohorten” – keine kleinen festen Lerngruppen
Praxisnah ist das bislang nicht. In Schleswig-Holstein beispielsweise ist Unterricht in festen Klassenverbünden nur in der Grundschule vorgesehen – in den weiterführenden Schulen werden die sogenannten „Kohorten“ größer ausfallen. In Niedersachsen darf eine Kohorte einen Schuljahrgang umfassen. Im Berliner Hygieneplan heißt es: „Der Unterricht und die ergänzende Förderung und Betreuung sind in festen Gruppen bzw. Lerngruppen durchzuführen, um Kontakte soweit wie möglich zu reduzieren.“ Die Einschränkung: „soweit organisatorisch möglich…“.
In Nordrhein-Westfalen heißt es: „Der Unterricht soll jahrgangsbezogen in Klassen, in Kursen oder festen Lerngruppen stattfinden. Eine jahrgangsübergreifende Gruppenbildung ist grundsätzlich nicht möglich.“ Ausnahmen, in denen die Schüler dann doch wieder in völlig neuer Besetzung zusammengebracht werden, gibt es aber trotzdem: nämlich „bereits jahrgangsgemischt zusammengesetzte reguläre Klassen bzw. Lerngruppen, Gruppen für Ganztags- und Betreuungsangebote sowie Schulsportgemeinschaften“.
Virologen: Masken in allen Jahrgängen auch im Unterricht!
Die Wissenschaftler sprechen sich außerdem für das «konsequente Tragen von Alltagsmasken in allen Schuljahrgängen auch während des Unterrichts» aus. «Dies sollte begleitet werden durch eine altersgerechte Einführung der Kinder in die Notwendigkeit und den Umfang von Präventionsmaßnahmen», heißt es. Lediglich Nordrhein-Westfalen hat seine Regelungen mittlerweile angepasst – und zum Schuljahresbeginn eine Maskenpflicht auch im Unterricht zumindest in den weiterführenden Schulen erlassen. Wichtig ist aus Sicht der Virologen auch, dass «pragmatische Lösungen für einen verbesserten Luftaustausch» in den Schulen gefunden werden.
Sollte es gegen Jahresende zu einem kritischen Anstieg der Neuinfektionen kommen, und dabei auch Bildungseinrichtungen eine Rolle spielen, bringen die Virologen auch eine Ausdehnung der Weihnachtsferien ins Spiel, um die Zeiten mit höchster Infektionsaktivität zu verringern. “Insbesondere eine Ausdehnung in das neue Jahr erscheint sinnvoll, vor allem auch, weil es über Weihnachten durch feiertagsbedingte Reisetätigkeit und Familienfeiern vermutlich zu einer weiteren Zunahme der Infektionsrisiken kommen kann.” News4teachers / mit Material der dpa
BERLIN. Die “Ad-hoc-Kommission SARS-CoV-2” der Gesellschaft für Virologie gehören insgesamt zehn führende Virologen aus Deutschland und der Schweiz an, darunter Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Hamburg, Prof. Isabella Eckerle vom Centre for Emerging Viral Diseases des Universitätsklinikums Genf und Prof. Christian Drosten von Institut für Virologie der Charité Universitätsmedizin Berlin. Wörtlich heißt es in dem Papier:
“Infektionsraten bei Kindern und deren Rolle in der Pandemie sind bisher nur unvollständig durch wissenschaftliche Studien erfasst. Neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen und konkrete Beobachtungen in einigen Ländern deuten darauf hin, dass die initial teilweise angenommene, minimale Rolle von Kindern in Frage gestellt werden muss.
Die Mehrheit der frühen Studien wurden unter den (Ausnahme-)Bedingungen weitgreifender kontaktreduzierender Regelungen (sogenannter „Lockdown“) mit Schulschließungen oder in der Zeit der niedrigen Grundinzidenz unmittelbar nach dem Lockdown in Deutschland durchgeführt. Sie haben somit als Entscheidungsgrundlage nur einen eingeschränkten Aussagewert für die in naher Zukunft zu erwartende Situation in Deutschland. Unter bestimmten Umständen kann es sein, dass Kinder einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Infektionen mit SARS-CoV-2 ausmachen. Inzwischen liegt der prozentuale Anteil von Kindern an der Gesamtzahl der Neuinfektionen in Deutschland in einer Größenordnung, die dem Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung entspricht.”
Aerosole machen zusätzliche Maßnahmen in Schulen nötig
Weiter heißt es: “Eine der wichtigen neuen Erkenntnisse zu SARS-CoV-2, die bei der Schulöffnung bedacht werden müssen, betrifft die inzwischen anerkannte Möglichkeit der Aerosolübertragung, also die Übertragung durch die Luft, insbesondere in Innenräumen bei unzureichender Luftzirkulation. Je mehr Personen sich in einem geschlossenen Raum befinden und je länger die dort verbrachte Zeitspanne ist, desto grösser ist das Risiko einer Übertragung.
Bezogen auf die Schulöffnung im Herbst bedeutet dies, dass zusätzliche Maßnahmen getroffen werden sollten, um Übertragungsrisiken in Schulen zu minimieren. Dazu gehört beispielsweise, die Klassengrößen abhängig von der Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren, räumliche Ressourcen auszuschöpfen und pragmatische Lösungen für einen verbesserten Luftaustausch in öffentlichen Gebäuden wie Schulen zu finden. Die Umsetzung technischer Maßnahmen zur Sicherstellung eines ausreichenden Raumluftwechsels liegt nicht im Kompetenzbereich der Infektionswissenschaften. Hierzu ist die Einbindung technischer Fachexpertise dringend erforderlich. “
Und weiter: “In Bezug auf den Klassenverband sollten aus virologischer Sicht feste Kleingruppen inkl. Lehrpersonal definiert werden mit möglichst geringer Durchmischung der Gruppen im Schulalltag. Unterrichtseinheiten könnten möglichst breit per Kleingruppe über verschiedene Tageszeiten und Wochentage verteilt werden. Digitale Lösungen mit einem Mix aus Präsenzunterricht und Heimarbeitseinheiten könnten weitere Möglichkeiten bieten, räumliche Kapazitäten zu entlasten.”
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