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Studie bestätigt Kultusminister in ihrem Kurs – scheinbar. Wie Statistiker eine schiefe Diskussion um Infektionen in Schulen befeuern

BONN. Ihre Studie „legt nahe,  dass die Hygienemaßnahmen in deutschen Schulen funktionieren“ – sagen Statistiker vom Institute of Labor Economics (IZA) in Bonn über ihre aktuell erschienene Untersuchung. Die Veröffentlichung sorgt derzeit für Wirbel. Haben die Kultusminister also Recht, bis heute darauf zu bauen, dass Abstand und Maskenpflicht im Unterricht verzichtbar sind – und dass Lüften als Infektionsschutz im Klassenraum reicht? Wer sich das Papier genauer anschaut, stellt allerdings fest: Seine Aussagekraft ist bescheiden.

Die Studie stellt fest: In den ersten Wochen nach dem Schulstart war das Infektionsgeschehen ruhig. (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

„Medienberichte über die Quarantäne von Schulklassen befeuern die Sorge vor der Entstehung neuer Infektionsherde in Schulen. Diese Sorge könnte unbegründet sein“, so behaupten die Studienautoren – schränken aber sogleich ein: „…zumindest was den Schulneustart in Deutschland nach den Sommerferien betrifft.“ Die These ist zwar in sich inhaltlich schief (die Sorge betrifft ja gegenwärtige und künftige Ausbrüche und längst nicht mehr den Schulstart im Sommer), sichert aber mediale Aufmerksamkeit. Entsprechend groß berichten Medien vom „Bayerischen Rundfunk“ bis hin zur „Süddeutschen Zeitung“.

“Das System zur Eindämmung an den Schulen funktioniert.” Tut es das?

Und die Autoren legen noch einen drauf – sie erheben sogar den Anspruch, einen international relevanten Beitrag zur Diskussion um Schulöffnungen zu leisten: „Die Ergebnisse der Studie bieten eine wertvolle Orientierung für Länder, in denen die Schulen noch nicht wieder geöffnet wurden. Sie zeigt, dass in einer Situation, in der Schulen unter strikten Hygienemaßnahmen wiedereröffnet wurden, die Fallzahlen nach der Wiedereröffnung der Schulen nicht angestiegen sind. Auch neue Quarantänemaßnahmen bestätigen letztlich, dass das System zur Eindämmung an den Schulen funktioniert.“ Das allerdings belegt die Studie keineswegs.

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Der Hintergrund: Die Autoren hatten die tägliche Differenz der Fallzahlen zwischen Landkreisen in Bundesländern mit endenden Sommerferien mit denen weiterhin geschlossener Schulen über fünf Wochen verglichen. Dabei habe sich gezeigt, dass vor dem Ende der Sommerferien die Unterschiede nahe Null waren, die relativen Unterschiede vor der Wiederöffnung der Schulen hätten sich nicht verändert. Erst nach dem Ende der Schulferien seien Unterschiede aufgetreten: Die relativen Fallzahlen seien nach den Sommerferien zurückgegangen, die Entwicklung habe sich verlangsamt. Drei Wochen nach der Sommerpause habe die Differenz im Schnitt 0,55 Fälle pro Tag je 100.000 Einwohner weniger ausgemacht. Bei der Altersgruppe der unter 14-Jährigen sei der Effekt mit durchschnittlich 1,39 Fällen noch größer. Auf Menschen, die älter als 60 Jahre sind, scheinen die Schulöffnungen keinerlei Auswirkungen gehabt zu haben – in diesem Zeitraum jedenfalls nicht.

Das Infektionsgeschehen soll durch die Schulöffnungen sogar abgebremst worden sein

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass das Infektionsgeschehen nicht angeheizt, sondern sogar abgebremst wurde. „Dieses Ergebnis entspricht sicher nicht dem, was wir erwartet hätten“, sagt Studienleiter Ingo Isphording. Die Statistiker liefern dafür mehrere mögliche Erklärungen. Zunächst fiel das Ende der Sommerferien in eine Phase mit insgesamt niedrigen Infektionsraten. Außerdem hätten die Schulen „strikte Hygienemaßnahmen“ angewendet, darunter die Maskenpflicht . Tatsache ist: Die vor den Sommerferien geltenden Hygienemaßnahmen waren danach bundesweit gelockert worden; insbesondere die Abstandsregel im Unterricht wurde von den Kultusministern gestrichen. Dafür wurde in Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Bayern für die ersten beiden Wochen eine Maskenpflicht im Unterricht erlassen.

Hinzu komme, so die Autoren, dass viele Eltern nach den Erfahrungen mit dem „Homeschooling“ besondere Vorsicht hätten walten lassen, um keinen erneuten Betreuungsengpass zu riskieren. „Wenn die Folge einer laufenden Nase ist, dass meine Tochter einige Tage nicht zur Schule gehen kann, überlege ich es mir zweimal, ob sie auf engem Raum mit anderen spielen darf“, so Isphording.

Die Autoren räumen laut „Bayerischem Rundfunk“ ein, dass sich die Studienergebnisse nicht auf die aktuelle Situation und den kommenden Winter übertragen lassen. Insgesamt liegen die Infektionszahlen derzeit auf einem sehr viel höheren Niveau. Auch sei es schwieriger, in der kalten Jahreszeit die Aerosole in geschlossenen Räumen – Hauptübertragungsweg beim Infektionsgeschehen – zu bekämpfen, da das Lüften bei Temperaturen im einstelligen Bereich eine Herausforderung darstellt. Dies sei bei warmen Temperaturen im August und September noch kein Problem gewesen.

Ein weiterer Punkt: Ob die offiziellen Daten, die Grundlage der Studie waren, überhaupt aussagekräftig waren – infizierte Kinder und Jugendliche sind häufiger asymptotisch als Erwachsene und werden deshalb seltener getestet –, vermögen die Statistiker nicht zu sagen. Dies zu untersuchen, sei nicht Aufgabe des Instituts, so heißt es lapidar.

Einzeltische und Masken: So, wie die IZA es auf dem Foto darstellt, sieht die Realität in deutschen Klassenzimmern nicht aus. Foto: Screenshot

So bleibt als tatsächliche Erkenntnis aus der statistischen Auswertung: Für die ersten Wochen nach Schuljahresbeginn kann kein Anstieg, sondern ein leichter Rückgang der offiziellen Infektionszahlen festgestellt werden.

Aufgrund der besonderen Situation in Deutschland nach den Sommerferien und der noch kurzen Phase der Wiederöffnung wollen die Autoren ihre Studie zwar nicht als uneingeschränktes Plädoyer für rasche Schulöffnungen verstanden wissen. Sie raten trotzdem dazu, Kosten und Nutzen sorgfältig abzuwägen, „statt bei lokal aufflammendem Infektionsgeschehen reflexartig wieder zum Mittel der Schulschließung zu greifen“. Nichts anderes tun die Kultusminister derzeit. Aber: In dieser Woche hat das Robert-Koch-Institut festgestellt, dass es eine wachsende Zahl von Ausbrüchen an Schulen in Deutschland gibt (News4teachers berichtet ausführlich über die neuen RKI-Emfpehlungen für Schulen – hier geht es zu dem Beitrag).

Bemerkenswert auch: Ihre Pressemitteilung zur Studie dekoriert die IZA – die von der Deutsche Post Stiftung finanziert wird – mit einem Foto aus einem Klassenraum, in dem Schüler mit Masken an Einzeltischen sitzen. Es gibt in deutschen Klassenzimmern weder Maskenpflicht noch Einzeltische. News4teachers

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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