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Gastkommentar: Homeschooling oder Präsenzpflicht? Pragmatische Gegenvorschläge

BERLIN. „Die Situation wurde gefährlich und fahrlässig verschlafen. Aber sie ist nicht ausweglos“ – meint Marina Weisband, ehemalige politische Geschäftsführerin der Piraten-Partei, mit Blick auf den Schulbetrieb nach dem 10. Januar. Die Diplom-Psychologin weiß durchaus, wovon sie redet: Weisband leitet seit 2014 das Projekt „aula“ für digitale Partizipation in der Schule und engagiert sich bei den Grünen für Themen der Digitalen Bildung. In ihrem Gastbeitrag auf News4teachers legt sie dar, worauf die Situation hinausläuft – und was geschehen müsste, um die Bildung in der Pandemie zu retten.

Marina Weisband hat vor zehn Jahren als Geschäftsführerin der Piraten-Partei die deutsche Politik aufgemischt. Foto: privat

Homeschooling oder Präsenzpflicht? Pragmatische Gegenvorschläge

Ich denke nicht, dass die Aufnahme des Regelunterrichts mit Präsenzpflicht am 10. Januar vereinbar mit dem Infektionsgeschehen sein wird. Allerdings sehe ich von den Kultusministerien auch keinerlei Bemühungen, einen Plan B zu entwickeln. Worauf läuft es also hinaus? Entweder Präsenzunterricht ums Verrecken (durchaus buchstäblich) oder chaotisches Homeschooling mit mehr oder weniger gut aufbereiteten Aufgaben für zuhause wie im Mai. In dieser Situation werden Familien gegeneinander ausgespielt. Die einen können es nicht verantworten, ihr Kind und sich dem Risiko eines Unterrichts auszusetzen, der gegen alle Empfehlungen des RKI geht (und nebenbei die Pandemie weiter voran treibt, die Wirtschaft killt, Existenzen vernichtet und so weiter…). Die anderen können es schlicht nicht leisten, ihre Kinder irgendwie parallel zur Arbeit zu betreuen. Sie können keine Lehrtätigkeit übernehmen, haben nicht die Räume, nicht die Geräte, nicht den Internetanschluss. Das ist sehr verständlich.

Was tun? Dass es Alternativen dazu gibt, dass niemand in der Schule ist oder dass alle in der Schule sein müssen, bete ich seit Mai vor. Nicht nur ich. Allein die Grünen NRW stellten dazu Anträge, z. B. im August und im November. Ich publizierte am 1. November lokal in Münster einen Artikel, in dem ich zu Spenden von Luftfilteranlagen für Klassenräume auffordere und die kommunale Vernetzung mit öffentlichen Räumen anrege, in denen Kinder lernen können und dezentral betreut werden. So haben sie Zugang zu Räumen und Betreuung, auch wenn sie nicht physisch zur Schule gehen können. Diesen Monat habe ich das nochmal in diesem Interview mit Stifter-TV ausgeführt (hier geht es zum Video).

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Vielleicht kann ein Teil der Schüler*innen in die Schule gehen. Im Januar besser nicht. Aber viele Kinder haben kein eigenes Zimmer, in dem sie lernen können. Oder können zuhause nicht betreut werden. Wohin also gehen? In allen Kommunen stehen derzeit viele Räume leer: Bibliotheken,  Seminarräume der Hochschulen, Gemeinderäumlichkeiten, Büroräume, Kirchliche Räume. In allen diesen Räumen könnten zwei bis drei Kinder gemeinsam arbeiten und betreut werden.

Die Frage der Schule wurde in erster Linie als Frage der Betreuung konzipiert. Kinder brauchen jemanden, der auf sie aufpasst, der aber auch eine Hilfestellung beim Lernen leisten kann. Bildung ist Beziehungsarbeit. Die Stunden der Lehrkräfte zu erhöhen ist keine Option. Dezentrales Personal wird gebraucht. Hier kommen infrage: Eltern einzelner Kinder, die andere Kinder mitbetreuen, Studierende (besonders Lehramt. Besonders die im Praxissemester, deren Aufgabe dem gewidmet werden könnte)

Einige Kinder haben keinen Zugang zu Geräten. In vielen Bundesländern können Sie Anspruch auf ein Gerät zum Distanzlernen haben. Ansonsten helfen private Spenden. Die Koordination könnte auch hier kommunal erfolgen – oder über die Schulen.

Meine heimliche Vermutung, warum diese Art von hybridem, dezentralen Unterricht nicht umgesetzt wird, ist, dass die Aktuer*innen inhaltlich ratlos sind. Wenn die Hälfte der Schüler*innen nicht im Klassenraum ist, oder gar niemand, dann kann nicht einfach analoger Unterricht 1;1 per Zoom übertragen werden. Niemand würde dabei irgendwas lernen. Für Fernunterricht gibt es spezielle Unterrichtsmodi. Die Ministerien haben keine Vorstellung davon, wie guter hybrider Unterricht aussehen könnte und kommunizieren das folglich auch nicht an die Lehrkräfte. Dabei könnten gerade die Ministerien die Konzepte, die es bereits gibt, verbreiten und gezielt Fortbildungen dazu anbieten. Einige dieser Konzepte stellt Philippe Wampfler sehr niedrigschweillig in seiner Serie #digifernunterricht auf Youtube vor. Hier ist seine Einführung in das Thema Hybridunterricht:

Mögliche didaktische Modelle, wie Schüler*innen auf Distanz gut lernen:

Wichtig: In der Pandemie sind die Klassen am besten gefahren, die auch sonst relativ selbstständig gearbeitet haben, relativ fachübergreifend, relativ digital. Schlechter ging es denen, die sehr auf Kontrolle, Prüfungen und starre Unterrichtskonzepte gesetzt haben. Aber ersteres sind sowieso merkmale zeitgemäßen und effektiven Lernens. Das Schulsystem muss sich schon lange auf diesen Weg machen. Das jetzt vorzubereiten ist also eine sehr lohnende Investition.

Und wer macht’s? Wer ist nun dafür verantwortlich, in den Kommunen verfügbare Räume zu finden, betreuende Personen zu organisieren und das alles mit den Schulen zu vernetzen? In einer besseren Welt hätten das die Kultusministerien im Sommer gemacht. Oder wenigstens jetzt. Aber danach sieht es nicht aus. Vielleicht weil es Versicherungs- und Haftungsfragen nach sich zieht, mit denen keiner sich so richtig auseinandersetzen will?

Natürlich können wir selbst aktiv werden. Jeder für seine Schule, jeder für seine Kommune. Jedes Unternehmen könnte selbst Gerätespenden anbieten. Wir könnten uns als Zivilgesellschaft dezentral organisieren. Wenn in Krisen die offiziellen Strukturen versagen, müssen wir als Menschen gucken, wie wir zusammenkommen. Es hätte allerdings enorme Vorteile, wenn die Ministerien hier ihre Arbeit machen. Sie können Student*innen im Praxissemester abstellen. Sie können Versicherungsfragen klären. Vor allem könnten sie Hybridunterricht rechtssicher gestalten. Denn was ist die Alternative, wenn eigentlich Präsenzpflicht gilt?

Deshalb ist es, auch jetzt, um fünf vor 12, weiterhin das Anliegen, die Ministerien von diesem Kurs zu überzeugen. Und wie? Empörung auf Twitter funktioniert nicht. Die bleibt wahrscheinlich irgendwo in den Social Media Teams hängen. Wie macht man Ministerien eine Dringlichkeit klar? Briefe! Physische Briefe. Gedruckt oder Handgeschrieben. Per Post gesendet oder gefaxt. In denen sie mit konkreten Handlungsaufforderungen konfrontiert werden. Und zwar haufenweise.

Die Situation wurde gefährlich und fahrlässig verschlafen. Aber sie ist nicht ausweglos. Man braucht Kreativität und Pragmatismus in einer Krise. Aber unsere Gesellschaft ist so reich. Es wäre falsch, diesen Reichtum nicht in den höchsten Dienst zu stellen: in die Bildung der kommenden Generation.

Was sind eure Ideen? Schreibt sie mir in die Kommentare!

Der Beitrag erschien zunächst auf der Homepage von Marina Weisband – hier.

Mitgestalten statt konsumieren! Wie Schülerbeteiligung auch auf Distanz funktioniert

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