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Drosten nimmt die Kultusminister in die Verantwortung: „Man hat die Infektiosität von Kindern so lange negiert und nichts gemacht…“

BERLIN. Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe an der Berliner Charité, hat massive Kritik an der Schulpolitik der Bundesländer geübt – und den Kultusministern Untätigkeit „über so viele Monate“ vorgeworfen. „Ich dachte ja, man diskutiert das und findet dann praktische Lösungen. Wie etwa, Fensterscheiben rauszuschneiden und zu ersetzen durch ein Stück Pappe mit einem Ventilator drin. Aber dann wurde die Infektiosität von Kindern so lange negiert und nichts gemacht, keine Entscheidung getroffen (…) über den Sommer. Das war für mich schon sehr, sehr erstaunlich“, sagte er in einem Interview mit dem „Spiegel“. An der Infektiosität von Kindern könne überhaupt kein Zweifel bestehen.

Die zweite Coronawelle ist nahezu ungebremst durch die Schulen gerollt – bis kurz vor den Weihnachtsferien Einschränkungen im Kita- und Schulbetrieb beschlossen wurden. Illustration: Shutterstock

Drosten hatte sich in seinem jüngsten Podcast im NDR bereits dafür ausgesprochen, dass Schutzmaßnahmen in Kitas und Schulen von einem Grenzwert im Infektionsgeschehen abhängig macht – wie ihn das Robert-Koch-Instituts empfiehlt. Das sieht ab einem Inzidenzwert von 50 vor, dass Schulen in den Wechselunterricht übergehen, um die Abstandsregel in den Klassenräumen einführen zu können, sowie eine generelle Maskenpflicht im Unterricht einzuführen. Drosten: „Das ist sinnvoll, dass man sich auf einen bestimmten Inzidenzwert einigt.“ Alle Bundesländer lehnen bislang die Einführung eines solchen Grenzwertes ab.

Mit Blick auf den Bund-Länder-Gipfel am vergangenen Dienstag sagt Drosten nun gegenüber dem „Spiegel“: „Ich glaube schon, dass man in den Verhandlungen versucht hat, die Lücken zu finden, die Stellen, an denen man bisher noch wenig gegen die Übertragung getan hat. Man kann deutlich erkennen, dass gerungen wurde und die Ergebnisse Kompromisse sind.“ Als besonders wichtig erscheine ihm – neben mehr Homeoffice und der gezielten Unterstützung sozial schwacher Familien – der Bereich Schulen und Kitas, „ganz besonders die Klassen in weiterführenden Schulen“. England habe Schulen und Kitas bis auf eine Notbetreuung geschlossen, „und ich denke, dass es dort auch die verlässlichste Datenbasis dazu gibt. Diese ist für mich eindeutig, und daran muss man sich auch in Deutschland orientieren“.

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Studien aus Großbritannien und Österreich kommen hinsichtlich Schülern zu besorgniserregenden Befunden

Forscher des “Imperial College London” hatten seit Mai die Ausbreitung des Virus in England untersucht und Alarmierendes herausgefunden: Während im Lockdown ohne Schulschließungen zwar die Infektionsraten im Durchschnitt sanken, stiegen sie unter Kindern und Jugendlichen an. Die PCR-Nachweisraten von Kindern und Jugendlichen im gesamten Schulalter lagen dann deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung.

Eine österreichische Studie, von der der “Spiegel” bereits vor zwei Wochen berichtete, kommt zu ähnlich besorgniserregenden Befunden. Schüler stecken sich danach genauso häufig an wie ihre Lehrerinnen und Lehrer. Nur dass die Infektionen der Schüler meist unentdeckt bleiben, weil sie selten Symptome zeigten – und die Ansteckungsgefahr durch Kinder dadurch unterschätzt werde. Wahrscheinlich seien sie, so Studienleiter Prof. Michael Wagner, Mikrobiologe an der Universität Wien, “deutlich untertestet”, entsprechend gebe es eine hohe Dunkelziffer. Es seien auch unter den Schülern keine Unterschiede zwischen den Altersstufen ausgemacht worden. Genauso viele Sechs- bis Zehnjährige in der Grundschule hätten sich angesteckt wie Elfjährige und Ältere an der weiterführenden Schule.

Drosten: “Es ist schon erstaunlich, dass das Virus derart an Ansteckungsfähigkeit zugelegt hat”

Drosten warnt nun davor, dass durch die britische Virusvariante B.1.1.7 eine neue Welle entstehen könnte. „Es gibt jetzt eine neue Studie aus Oxford, wirklich solide Daten, die zeigen, dass diese Mutante bis zu 35 Prozent infektiöser ist als der Wildtyp des Virus. Es ist schon erstaunlich, dass das Virus derart an Ansteckungsfähigkeit zugelegt hat. Das ist leider gefährlicher, als wenn es tödlicher geworden wäre; denn jeder neue Infizierte wird dadurch mehr Menschen anstecken und jeder dieser Menschen wiederum mehr Menschen, sodass die Zahl der Infizierten exponentiell wächst.“

Wenn die Ausbreitung jetzt nicht entschieden gebremst würde, hege er „schlimme Befürchtungen“, was im Frühjahr und Sommer passieren könne. Nämlich: „Wenn die alten Menschen und vielleicht auch ein Teil der Risikogruppen geimpft sein werden, wird ein riesiger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und vielleicht auch rechtlicher Druck entstehen, die Corona-Maßnahmen zu beenden. Und dann werden sich innerhalb kurzer Zeit noch viel mehr Leute infizieren, als wir uns das jetzt überhaupt vorstellen können. Dann haben wir Fallzahlen nicht mehr von 20.000 oder 30.000, sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag. Das sind dann zwar eher jüngere Leute, die seltener schwere Verläufe haben als ältere. Aber wenn sich ganz viele junge Menschen infizieren, dann sind die Intensivstationen trotzdem wieder voll, und es gibt trotzdem viele Tote. Nur dass es jüngere Menschen trifft. Dieses schlimme Szenario könnten wir etwas abfedern, wenn wir die Zahlen jetzt ganz tief nach unten drücken.“

“Dass an der Infektiosität von Kindern so grundlegende Zweifel aufkommen konnten, war mir ein Rätsel und ist es bis heute”

Dass Kultusminister und Ministerpräsidenten monatelang erklärt haben, Kinder seien praktisch nicht ansteckend – und damit weite Schulöffnungen begründeten –, kann sich Drosten (der selbst mit einer Studie die Infektiosität von Kindern aufgezeigt hat) bis heute nicht erklären. „Ehrlich gesagt, hätte ich es schon ohne unsere Viruslaststudie nicht für möglich gehalten, dass Kinder verschont bleiben von Sars-CoV-2. Rein biologisch betrachtet, ändert sich die Schleimhaut im Nasen-Rachen-Raum nicht so stark beim Heranwachsen. Also müssen Kinder auch infiziert – und infektiös sein. Dass daran so grundlegende Zweifel aufkommen konnten, war mir ein Rätsel und ist es bis heute.“ News4teachers

Hier geht es zum vollständigen Interview im “Spiegel” mit Christian Drosten (kostenpflichtig).

Corona-Chaos: Ministerpräsidenten unterlaufen Gipfel-Beschlüsse – und stellen die vorzeitige Öffnung von Kitas und Schulen in Aussicht

 

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