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Kommentar: Wir werden viel verzeihen müssen? Die Liste wird immer länger…

Von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

BERLIN. Was für ein Irrsinn. Deutschland steht in der schlimmsten Gesundheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Und die Ministerpräsidenten scheitern schon daran, einen gemeinsamen Maßstab für die Bildungseinrichtungen in der Weltseuche zu finden. In dieser Woche tagten erst die Kultusminister, dann die Regierungschefs – und noch immer gibt es keine einheitlichen Regeln, wann welcher Schutz in Kitas und Schulen zu gelten hat. Das Chaos setzt sich fort.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, so hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu Beginn der Pandemie festgestellt. Die Liste dessen, was die Betroffenen im Bildungsbetrieb den verantwortlichen Landespolitikern verzeihen müssten, wird allerdings immer länger. Fast ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist Deutschland wieder im Lockdown, das Schuljahr versinkt im Chaos und noch immer wissen Millionen von Schülern, Eltern und Lehrer nicht, wie es in den nächsten Wochen und Monaten in den Kitas und Schulen weitergehen wird.

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Kita und Schule in Deutschland sind Großveranstaltungen mit mehr als 15 Millionen Beteiligten – knapp ein Fünftel der Bevölkerung wird damit täglich in ein Setting getrieben, in dem es praktisch keinen Infektionsschutz gibt. Jetzt gibt es in den meisten Bundesländern eine kurze Atempause. Ein vierseitiges Papier zum Lüften ist darüber hinaus das einzige, was den Ministerpräsidenten und ihren Kultusministern die Gesundheit all dieser Menschen und ihrer Familien wert war. Beschämend.

Es gibt bis heute keinen Plan B für einen Kita- und Schulbetrieb bei steigenden Infektionszahlen

Einen Maßstab, an dem sich alle orientieren könnten, gibt es längst: Das Robert-Koch-Institut empfiehlt, ab einem Inzidenzwert von 50 Wechselunterricht in kleineren Lerngruppen – und damit die Abstandsregel – sowie eine Maskenpflicht im Unterricht aller Jahrgänge vorzusehen. Dummerweise lehnen die Bundesländer diese Empfehlungen, die eine Perspektive in den Schulbetrieb und Transparenz in die Entscheidungen bringen würde, ab. Der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe (SPD) nannte sie allen Ernstes „seltsam“.

Lieber macht jedes Kultusministerium, was es will: In Bayern galt die Maskenpflicht im Unterricht der Grundschulen bereits, als in Brandenburg lediglich Oberstufenschüler mit Mund-Nasen-Schutz in Klassenräumen behelligt wurden. In Baden-Württemberg ist die Schulpräsenzpflicht seit den Sommerferien ausgesetzt – in Nordrhein-Westfalen wurden selbst Schüler mit engen Angehörigen aus Risikogruppen nicht vom Unterricht befreit. Bayern sieht ab einem Inzidenzwert von 200 Wechselunterricht für alle Schulen eines betroffenen Stadt- oder Landkreises vor – Nordrhein-Westfalen hat genau das der Stadt Solingen bei einem Inzidenzwert von knapp 240 verboten. Baden-Württemberg wiederum schreibt Fernunterricht für ganze Städte oder Landkreise ab einem Inzidenzwert von 300 vor. Eine Begründung für die unterschiedlichen Maßstäbe gibt es nicht.

Und so geht das Chaos jetzt im Januar munter weiter: Einige Bundesländer nehmen ihre Schulen konsequent in den Fernunterricht, andere praktisch gar nicht, die nächsten veranstalten vollen Präsenzunterricht für die Abschlussklassen, wiederum andere (wie Berlin) legen Zeitpläne auf, die morgen schon wieder Makulatur sein können, weil sich das Coronavirus nicht daran hält. Auch für die Kitas gilt – mal so, mal anders, mal gar nicht.

Bereits im August versuchte die Kanzlerin, gegen das Durcheinander in der Bildungspolitik vorzugehen – und wurde von der KMK (und damit von den Bundesländern) brüskiert. Angela Merkel (CDU) hatte nach Informationen von News4teachers auf einem informellen Schulgipfel mit KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) und der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken um ein Konzept gebeten, in dem bundesweit geltende Stufen für Schutzmaßnahmen in Schulen festgelegt werden sollten. Schulschließungen beispielsweise sollten ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern und Woche innerhalb eines Landkreises oder einer Stadt erfolgen (wie es dann die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts vorsahen). Die KMK verabschiedete tatsächlich zwei Wochen später einen Vier-Stufen-Plan – allerdings: unverbindlich und ohne jegliche Schwellenwerte. Ein Papier ohne Substanz.

Genau wie am Montag, als die KMK einen neuen Drei-Stufen-Plan ohne Grenzwerte oder Zeitplan veröffentlichte. News4teachers titelte: „KMK beschließt `Stufenplan‘ – ohne Stufen und ohne Plan“.

Die Arbeit der KMK im Krisenjahr 2020 zeichnet vor allem durch Versäumnisse aus

Die Folge: Es gibt bis heute keinen echten Plan B für einen Schulbetrieb bei steigenden Infektionszahlen. Entschieden wird ad hoc, praktisch über Nacht, nach intransparenten Kriterien – und je nach politischer Ausrichtung der jeweiligen Landesregierung. Nicht einmal alternative Lehrpläne, mit denen ein Kerncurriculum bei großflächigem Unterrichtsausfall gesichert werden könne, haben die Kultusminister bislang vorgelegt. Unterdessen saßen Hundertausende von Schülern und Lehrern ohne Unterricht in Quarantäne fest. Das erste Treffen der KMK-Spitze mit Lehrer- und Elternverbänden, die solche Probleme besprechen wollten, fand Anfang November statt – neun Monate nach Beginn der Pandemie. Es blieb ohne Ergebnis. Das gilt nach wie vor.

Ohnehin zeichnet sich die Arbeit der KMK im Krisenjahr 2020 vor allem durch Versäumnisse aus. Schülertransport in übervollen Bussen und Bahnen? War nie ein Thema für die Kultusminister. Oder: Erst seit November veröffentlicht die KMK Daten zum Infektionsgeschehen an Schulen in Deutschland – zu spät und zu unsystematisch, um daraus Erkenntnisse für einen sicheren Schulbetrieb in der Pandemie zu ziehen. Die Digitalisierung der Schulen erwies sich, einmal mehr, als Luftnummer: Die Anschaffung von Laptops für alle Lehrer in Deutschland wurde von der KMK groß angekündigt – und musste dann von Hubig für 2020 abgesagt werden, weil es noch Beratungsbedarf mit dem Bund gebe.

Mit dem Thema Lüften beschäftigte sich die KMK erst mit einer Expertenanhörung am 23. September, unmittelbar nach dem kalendarischen Herbstanfang also – als es bereits empfindlich kalt wurde in den Klassenräumen. Den ganzen Sommer über waren die Bundesländer untätig geblieben. Dabei hatten Wissenschaftler bereits im Mai vor der Gefahr durch virenbelastete Aerosole in Klassenräumen gewarnt.

Über die Ergebnisse ihrer Expertenanhörung verbreitete die KMK dann auch noch die Unwahrheit. Mit Blick auf mobile Luftfilter hieß es in der Pressemitteilung, die im Anschluss an das Treffen herausgegeben wurde: „Die Wissenschaftler kamen überein, dass der Einsatz solcher Geräte grundsätzlich nicht nötig sei.“ Diese Darstellung ist nach Recherchen von News4teachers allerdings falsch. Der einzige anwesende Wissenschaftler, der zum Thema geforscht hat (Prof. Dr. Christian J. Kähler vom Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München) hält den Einsatz von Luftfiltern in Schulen sehr wohl für erforderlich – und hatte das den Kultusministern in der Runde auch so erklärt.

So lassen sich nur zwei Punkte ausmachen, die die Bundesländer während der Pandemie für die Kitas und Schulen gemeinsam hervorgebracht haben: ein „Lüftungskonzept“ (wenn man eine Handreichung für Lehrer, die vorgibt, dass alle 20 Minuten für 3 bis 5 Minuten die Fenster zu öffnen sind, ein „Konzept“ nennen will) – und eine Informationspolitik, mit der das Infektionsgeschehen an Schulen durchgängig verharmlost wurde.

Darüber hat es erkennbar Absprachen gegeben. Alle Kultusministerien, die unter dem Druck der Öffentlichkeit Zahlen über infizierte Schüler und Lehrer sowie über Quarantäne-Betroffene herausgeben, tun das bis heute relativierend in Prozentwerten in Bezug auf Gesamtschüler- und -lehrerzahlen (um den weit offenen Schulbetrieb zu rechtfertigen), während die Landesregierungen die allgemeinen Infektionsdaten, die vergleichbar niedrige Prozentwerte ergeben würden, allein in absoluten Zahlen als gefährliche Entwicklung darstellen (um damit die Schließung von Geschäften und Freizeiteinrichtung zu begründen).

Arbeitsschutz in Kitas und Schulen? War auch in dieser Woche kein Thema für die Kultusminister oder die Ministerpräsidenten

Es gibt keine einzige Stellungnahme der Bundesländer – oder einzelner Kultusminister – zu Corona-Ausbrüchen an Schulen. Im Gegenteil: Hamburg vertuschte eine Studie, die ein Superspreader-Event an einer Schule belegt, monatelang (um dann scheinheilig vom Bund einen wissenschaftlichen Beleg für die Corona-Gefahr in Schulen zu fordern). RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler machte im November öffentlich, dass es seit den Sommerferien bereits mehrere Hundert solcher Ausbrüche unter Schülern und Lehrern gegeben hatte. Mittlerweile 18 an Corona verstorbene Lehrer/Erzieher weist die Statistik des Robert-Koch-Instituts aus – allein fünf davon sind im Dezember verstorben, ein weiterer über den Jahreswechsel.

Arbeitsschutz? War auch in dieser Woche kein Thema, weder für die Kultusminister noch die Ministerpräsidenten. Der Gipfelbeschluss verweist auf die Bedeutung des Präsenzunterrichts für die Schüler. „Geschlossene Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen, ausgesetzte Präsenzpflicht bzw. Distanzunterricht in Schulen über einen längeren Zeitraum bleibt nicht ohne negative Folgen für die Bildungsbiographien und die soziale Teilhabe der Kinder und Jugendlichen“, so heißt es darin. Ohne Schutz geöffnete Schulen und Kitas, so möchte man ergänzen, heizen die Pandemie weiter an und kosten unweigerlich Menschenleben – mehr als 1.000 Corona-Tote allein gestern vermeldete das Robert-Koch-Institut. Um von den wirtschaftlichen Folgen (von denen ein winziger Bruchteil aufzuwenden gereicht hätte, um alle Klassenräume in Deutschland mit mobilen Luftfiltern auszustatten) gar nicht erst zu sprechen.

Das droht uns dann spätestens im Februar wieder, wenn die Ministerpräsidenten und Kultusminister keine Lust mehr auf das Gemecker wegen des Fernunterrichts haben.

Wir werden viel verzeihen müssen? Womöglich zu viel.

Der Autor

Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.

In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.

Hier geht es zur Seite der Agentur für Bildungsjournalismus.

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