WEIMAR. Im eskalierenden Streit um Corona-Schutzmaßnahmen an Schulen mischen jetzt auch Familiengerichte mit – mit fragwürdigen Urteilen gegen die Maskenpflicht, die sich auf Argumente aus der Querdenker-Szene stützen. Ein Familiengericht im oberbayerischen Weilheim hat ein Kind von der Maskenpflicht in seiner Schule befreit. Zuvor hatte das Amtsgericht Weimar mit einem ähnlichen Urteil für bundesweiten Wirbel gesorgt. Jetzt steht der Richter allerdings selbst im Fokus – gegen ihn wird wegen Rechtsbeugung ermittelt.
Das Weilheimer Familiengericht ordnete in seinem Beschluss an, dass die Schulleitung dem Kind nicht mehr das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf dem Schulgelände vorschreiben darf. Wie eine Sprecherin des Gerichtes mitteilte, gelte die Entscheidung allerdings nur für diesen Einzelfall (Az. 2 F 192/21).
Auch das bayerische Kultusministerium wies darauf hin, dass es sich um eine familiengerichtliche Einzelentscheidung handelt. Der Beschluss habe keine Auswirkungen auf bestehende Infektionsschutzmaßnahmen an den Schulen im Freistaat. Die Regelungen seien vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung als rechtmäßig eingestuft worden. Maßnahmen wie etwa die Maskenpflicht würden deshalb für alle Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler unverändert gelten.
Geklagt hatten in Weilheim die Eltern des Kindes. Das Verfahren wurde vor einer Familienrichterin geführt, die über eine mögliche Kindeswohlgefährdung durch die Masken zu entscheiden hatte. Dies sah das Gericht durch die an der Realschule geltenden Corona-Vorschriften als gegeben an. Die Richterin bezog sich auch auf Prof. Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg. Der Psychologe hatte bereits in der Vergangenheit auf mögliche negative Nebenwirkungen für Schüler hingewiesen – er steht augenscheinlich der Querdenker-Szene nahe.
„Die Verhältnismäßigkeit der an den Schulen ergriffenen Maßnahmen ist demnach als fragwürdig anzusehen“
Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte er, nachdem es Beschwerden von Studierenden über unwissenschaftliche Meinungsäußerungen zur Corona-Pandemie von ihm in Seminaren gegeben hatte: Er halte die Covid-Gefahr für überschätzt – und frage sich, ob Corona tatsächlich gefährlicher sei als Grippe. Er kritisierte in diesem Zusammenhang auch das Robert-Koch-Institut. „Die vom RKI erhobenen Zahlen sind so diagnostisch unzuverlässig, dass man diese Frage gar nicht valide beantworten kann.“ Kuhbandner zweifelt auch daran, dass Corona in Deutschland eine Übersterblichkeit verursacht habe.
In einem Thesenpapier von ihm heißt es: „An vielen Schulen werden zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 ergriffen, wie beispielsweise eine durchgängige Maskenpflicht im Unterricht, ein Verzicht auf Körperkontakt, das Einhalten von Mindestabständen und umfangreiche Quarantänemaßnahmen im Fall eines einzigen positiven Coronavirus-Testergebnisses.“ Dabei würden „die möglichen momentanen wie langfristigen Nebenwirkungen der empfohlenen Maßnahmen auf das psychologische, physiologische und soziale Wohlbefinden der betroffenen Kinder und Jugendlichen“ missachtet. „Die Verhältnismäßigkeit der an den Schulen ergriffenen Maßnahmen ist demnach als fragwürdig anzusehen.“
Das Amtsgericht Weilheim entschied auch, dass das Kind an der Realschule nun wegen des Urteils nicht in der Klasse isoliert werden dürfe. Grundsätzlich wird durch die Gerichtsentscheidung aber nicht die entsprechende Verordnung gekippt – aus formalen Gründen: Denn für eine solche rechtliche Überprüfung wäre nicht das Amtsgericht zuständig, sondern die Verwaltungsgerichte.
Auch Mindestabstände sowie die Teilnahme an Corona-Schnelltests sollen in Schulen dem Urteil zufolge nicht angeordnet werden dürfen
Auch im thüringischen Weimar hatte das Familiengericht gegen die Maskenpflicht an zwei Schulen entschieden. Der Amtsgerichtsbeschluss (Az.: 9 F 148/21), der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, betrifft zwei Kinder einer Familie, die eine staatliche Grund- und Regelschule in Weimar besuchen. Danach wird den «Leitungen und Lehrern» der beiden Schulen, an die die Jungen gehen, untersagt anzuordnen, «im Unterricht und auf dem Schulgelände Gesichtsmasken aller Art, insbesondere Mund-Nasen-Bedeckungen, sogenannte qualifizierte Masken (OP-Maske oder FFP2-Maske) oder andere, zu tragen». Auch Mindestabstände sowie die Teilnahme an Corona-Schnelltests sollen danach nicht angeordnet werden dürfen.
Politische Konsequenzen hat das zunächst keine: Das Thüringer Bildungsministerium meldete «gravierende verfahrensrechtliche Zweifel» an der Entscheidung an. Die Überprüfung von Infektionsschutzmaßnahmen oder Rechtsverordnungen der Landesregierung obliege den Verwaltungsgerichten, argumentiert das Ministerium. Am Amtsgericht Weimar wurde der Fall allerdings als Familiensache behandelt. Das Urteil, das in vielen Internetgruppen geteilt wurde, könnte deshalb «rechtliche Wirkung allein für die am Verfahren Beteiligten» haben. Es habe also keine Auswirkungen auf die Infektionsschutzregeln an Thüringens Schulen insgesamt, erklärte das Ministerium. Allerdings gibt es derzeit am Amtsgericht Weimar mehrere weitere Verfahren «zum gleichen Gegenstand», wie eine Sprecherin erklärte.
Der Richter, der das Urteil gefällt und mit einer 178 Seiten langen Begründung versehen hat, die laut „Spiegel“ eine Nähe zur Querdenker-Szene erkennen lässt, steht allerdings nun selbst im Fokus der Justiz. Bei der Staatsanwaltschaft Erfurt seien mehrere Strafanzeigen gegen den Mann eingegangen, sagte ein Sprecher der Behörde. Darin werde dem Mann vorgeworfen, sich mit seiner Entscheidung der Rechtsbeugung schuldig gemacht zu haben. «Wir haben daher einen Prüfvorgang angelegt», hieß es. Verfassungsrechtler haben dem Bericht zufolge Zweifel geäußert, ob der Amtsrichter überhaupt zu einer solch pauschalen Anordnung für alle Schülerinnen und Schüler an den betroffenen Schulen befugt war.
«Hier wird auf Biegen und Brechen eine Zuständigkeit konstruiert, der man allzu deutlich das persönliche Anliegen anmerkt»
Auch die «Neue Richtervereinigung», in der bundesweit Richter und Staatsanwälte zusammengeschlossen sind, kritisiert das Vorgehen des Richters scharf. «Richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut und deswegen verbietet es sich für richterliche Interessenverbände und Gewerkschaften in der Regel, richterliche Entscheidung in der Sache zu bewerten. Der Beschluss, mit dem das Familiengericht Weimar am 8. April 2021 Lehrern und Schulleitungen untersagt hat, eine Maskenpflicht für Schüler durchzusetzen, Mindestabstände vorzugeben und Schnell-Tests durchzuführen, überschreitet aus der Perspektive der Familienrichter und Familienrichterinnen der Neuen Richtervereinigung allerdings das Maß des noch Hinnehmbaren – nicht zuletzt weil die Entscheidung darin gipfelt, die Schulen dazu zu verpflichten, wieder Präsenzunterricht durchzuführen», so heißt es in einer Pressemitteilung des Verbands.
Zum einen sei das Amtsgericht gar nicht befugt gewesen, eine solche Anordnung zu erlassen – für die Überprüfung von öffentlich-rechtliche Maßnahmen seien Verwaltungsgerichte zuständig («Das lernt jeder und jede Jurastudent/in im Grundstudium»). «Hier wird auf Biegen und Brechen eine Zuständigkeit konstruiert, der man allzu deutlich das persönliche Anliegen anmerkt, sich zur Maskenpflicht in Schulen schlagkräftig zu äußern.» Zum anderen werde – wo in der Hauptsache die Einholung eines Sachverständigengutachtens zwingend geboten wäre – die eigene «Kenntnis» einer fachfremden Materie gegen die herrschende wissenschaftliche Meinung gesetzt. «Das sind schwere handwerkliche Fehler – so darf man als Gericht nicht arbeiten.» Fazit: Die Entscheidung des Gerichts sei «juristisch unhaltbar. Sie verkennt ganz grundsätzliche rechtliche Vorschriften. Sie leugnet zudem wesentliche Erkenntnisse der Wissenschaft.» News4teachers / mit Material der dpa
