BERLIN. Der Bundesrat – die Ländervertretung also – hat gestern die Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes und damit die Notbremse für den Präsenzbetrieb von Kitas und Schulen passieren lassen. Mit großem Unwillen, wie Bundesratspräsident Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, zu Protokoll gab. Tatsächlich suchen etliche Bundesländer nun nach Schlupflöchern im Gesetz. Und sie werden fündig: 4. Klassen sollen zu Abschlussklassen ernannt werden; die Notbetreuung soll praktisch allen offenstehen.
Das sächsische Kultusministerium beginnt seine Information über die sogenannte „Bundes-Notbremse“ mit einer glatten Lüge: „Den Betrieb der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen sowie der Einrichtungen der Kindertagesbetreuung (Kinderkrippe, Kindergarten, Hort und Kindertagespflegestellen sowie heilpädagogische Kindertageseinrichtungen) ab Montag, dem 26. April 2021, hat der Bundesgesetzgeber nach festen Inzidenzwerten im jeweiligen Landkreis und der Kreisfreien Stadt geregelt. Damit bestehen für die Bundesländer keine Spielräume mehr, auf lokale Hotspots oder besonderes Infektionsgeschehen vor Ort zu reagieren“, so heißt es im „SMK-Blog“.
Das ist schlicht falsch: Die Bundesregierung hat mit dem erweiterten Infektionsschutzgesetz lediglich Höchstgrenzen festgelegt – unterhalb dieser Marken haben die Länder weiterhin alle Freiheiten, auf Corona-Ausbrüche zu reagieren.
Das Bundesgesetz schreibt tatsächlich für den Kita- und Schulbetrieb vor:
- Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen ist zwingend Wechselunterricht ab dem übernächsten Tag durchzuführen. Dies gilt für alle Schularten, also auch die Grundschulen (die bislang in Sachsen in voller Klassenstärke unterrichtet wurden). Eine Notbetreuung wird in den Grundschulen angeboten.
- Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 165 an drei aufeinanderfolgenden Tagen ist Präsenzunterricht ab dem übernächsten Tag untersagt. Schülerinnen und Schüler verbringen ihre Lernzeit zu Hause im Distanzunterricht. Ausnahmen darf es für die Schüler an den Förderschulen und in den Abschlussklassen geben. Sie können beziehungsweise müssen ihre Schulen weiterhin besuchen.
- Die jeweiligen Regelungen treten am übernächsten Tag außer Kraft, wenn der Inzidenzwert an fünf aufeinanderfolgenden Tagen unterschritten ist.
Diese Regelungen haben natürlich Konsequenzen. Thüringen zum Beispiel ist mit hohen Infektionszahlen das am stärksten von der Corona-Pandemie betroffene Bundesland. Und die gestern vom Bundesrat abgenickte Notbremse bedeutet für den Freistaat: Schüler und Kita-Kinder in vielen Thüringer Kreisen müssen zu Hause bleiben oder in die Notbetreuung gehen. Nachdem das Gesetz formell verkündet sei, liefen die darin vorgesehenen Fristen für Schul- und Kita-Schließungen in Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz ab 165, sagte ein Sprecher des Bildungsministerium auf Anfrage. «Das heißt, es gibt Schließungen ab Montag.»
Für die Notbetreuung sollen Regeln gelten, die einen breiten Zugang ermöglichen
Bildungsminister Helmut Holter (Linke) hatte bereits eine Notbetreuung für Kinder bis zur Klassenstufe sechs angekündigt. Für die Notbetreuung sollen allerdings die Regeln beibehalten werden, die seit Januar gelten – und die einen breiten Zugang ermöglichen. Eine Notbetreuung können demnach Kinder der Klassenstufen eins bis sechs sowie Kita-Kinder in Anspruch nehmen, deren Eltern keine Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice haben oder die keine andere zumutbare Betreuungsmöglichkeit organisieren können. Nachweis? Eine Unterschrift des Arbeitgebers reicht.
Thüringen will auch an den vielen bisher eingeräumten Ausnahmen im Fall von Schulschließungen festhalten. Laut Ministeriumssprecher sollen unter anderem auch Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf am Präsenzunterricht teilnehmen dürfen. Auch Förderschulen bleiben geöffnet und Förderschüler im gemeinsamen Unterricht können ebenfalls weiter in die Schulen gehen. Die Bundes-Schulnotbremse sieht vor, dass Abschlussklassen weiterhin am Präsenzunterricht teilnehmen. In Thüringen sei im Gespräch, dass dies dann auch für Viertklässler gelten soll. Auch die neunten und zehnten Klassen an Gemeinschafts-, Regel-, Förder-, und Gesamtschulen zum Erwerb des Hauptschul- oder des Realschulabschlusses sollen weiterhin in die Schulen kommen.
Auch andere Bundesländer suchen nach Schlupflöchern im neuen Gesetz: Nordrhein-Westfalen zum Beispiel. Gesetz sei Gesetz und solange ein Gericht nichts anderes feststelle, werde sich auch das bevölkerungsreichste Bundesland an die Vorgaben des Bundes halten, sagte zwar NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) am gestrigen Donnerstag im Familienausschuss des Landtages in Düsseldorf. Die Angebote der Kindertagesbetreuung sollten nach Wunsch des Bundesgesetzgebers „bereits“ ab einer Inzidenz von 165 in die Notbetreuung übergehen. Ein schlichter Appell, Kinder nach Möglichkeit zu Hause zu betreuen, reicht danach nicht mehr aus.
“Dort, wo die Betreuung erforderlich ist, wird es weiterhin das Angebot zur Betreuung geben“
Stamp betonte aber auch: Die Überlegungen gingen zu einer Notbetreuung, die sich nicht an einer Berufsgruppendefinition mit der sogenannten kritischen Infrastruktur, sondern an den „Bedarfen“ orientieren solle – wohlgemerkt: an den Bedarfen der Eltern, nicht an denen des Infektionsschutzes. Stamp: „Was mir jedoch besonders wichtig ist und was ich bereits jetzt zusichern kann: Dort, wo die Betreuung erforderlich ist, beispielsweise um familiäre Überforderungssituationen abzuwenden und das Kindeswohl zu sichern, wird es weiterhin das Angebot zur Betreuung geben.“ Eltern, die die Betreuung ihrer Kinder nicht anderweitig sicherstellen können und die Notbetreuung deshalb in Anspruch nehmen wollen, müssen zuvor lediglich eine entsprechende schriftliche Erklärung abgeben. Dafür wird es auch Musterschreiben geben. Heißt in der Praxis: Wer sein Kind in der Kita abliefern will, der kann das auch weiterhin tun.
Niedersachsen höhlt den Sinn des Bundesgesetzes, das Infektionsgeschehen zu bremsen, sogar noch weiter aus – und kündigt an, den bisher dort geltenden Grenzwert für den Präsenzunterricht von 100 in Kürze nach oben hin zur Bundes-Notgrenze zu verschieben. „Im Mai werden wir in Niedersachsen auf jeden Fall zu Anpassungen kommen“, sagte Kultusminister Grant Hendrik Tonne der «Neuen Osnabrücker Zeitung». „Auch wenn ich von alleine nicht auf die 165 gekommen wäre, aber wenn wir dann Veränderungen vornehmen, ist es auch sinnvoll, sich an einer bundeseinheitlichen Grenze zu orientieren“, sagte der SPD-Politiker dem Blatt.
Nach heftiger Kritik ruderte die Landesregierung zurück. Regierungssprecherin Anke Pörksen erklärte, dass Niedersachsen vorerst weiter ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von 100 in den Distanzunterricht wechselt. «Das wird auf absehbare Zeit so bleiben, konkret ist da keine Änderung absehbar.»
«Die Schulbeschäftigten, Eltern und ihre Kinder brauchen endlich Verlässlichkeit für Gesundheitsschutz und Unterricht»
Die GEW zeigt sich gleichwohl alarmiert. «Wir hätten keinerlei Verständnis dafür, wenn tatsächlich von den bisher in Niedersachsen festgelegten Planungen zu Schulschließungen und -öffnungen abgewichen würde», sagte Landesvorsitzende Laura Pooth. «Die Schulbeschäftigten, Eltern und ihre Kinder brauchen endlich Verlässlichkeit für Gesundheitsschutz und Unterricht.» Ein erneuter Schlingerkurs schade allen Beteiligten. «Die Einflussnahme der Bundesebene mit dem mutmaßlich gewürfelten Inzidenzwert von 165 ist für die Planungssicherheit alles andere als hilfreich.» News4teachers / mit Material der dpa
