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Wieler: „Wir bremsen erst, wenn es zu spät ist!“ Wie sich das Infektionsgeschehen an Schulen ausbreitet – ein exemplarischer Fall

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BERLIN. Der Kita- und Schulbetrieb in Deutschland tanzt – seitdem die Bundesregierung eine Notbremse erlassen hat – um den darin fixierten Inzidenzwert von 165 herum. Die Folge: Das Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen schießt in die Höhe. Das macht deutlich: Kitas und Schulen sind sehr wohl Treiber der Pandemie, auch wenn die Kultusminister nicht müde werden, das Gegenteil zu behaupten. Die Kritik an der Bildungspolitik in der Corona-Krise wächst. Auch RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler wird deutlich.

„Kinder tragen auf jeden Fall zum Infektionsgeschehen bei“ RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar Wieler. Foto: Andrea Schnartendorff / RKI, Wikimedia Commons

„Entgegen manchen Befürchtungen hat die Durchführung der Selbsttests in dieser Woche gut geklappt. Am vergangenen Montag gab es sechs Verdachtsfälle, die sich nach dem PCR-Test aber als unbegründet erwiesen haben; bei der Testung gestern gab es keine positiven Ergebnisse.“ Das schrieb die Schulleitung des Remstal-Gymnasiums im baden-württembergischen Weinstadt noch Anfang der Woche in einem Elternbrief. Den Präsenzunterricht weitgehend einstellen, das musste die Schule trotzdem.

„Auch nach dem bisherigen Grenzwert von 200 hätte der Präsenzunterricht ab Montag eingestellt werden müssen“

Mit Blick auf die unlängst vom Bund beschlossene Notbremse sowie das Infektionsgeschehen im Landkreis, der die Schule umgibt, heißt es in dem Schreiben: „Als neuer Grenzwert für den Wechsel vom Präsenz-in den Fernunterricht ist eine Sieben-Tages-Inzidenz von 165 definiert. Da dieser Grenzwert im Rems-Murr-Kreis bereits seit Längerem überschritten wird, befinden sich die Klassenstufen 5-10 ab dem 26.04. wieder im Fernunterricht. Auch nach dem bisherigen Grenzwert von 200 hätte der Präsenzunterricht ab Montag eingestellt werden müssen.“ Der Inzidenzwert für den Rems-Murr-Kreis, dem Weinstadt angehört, kletterte in dieser Woche auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von 208. Damit konnte das Gymnasium, wie etliche andere Schulen in Baden-Württemberg, nur eine Woche lang Präsenzunterricht nach den Osterferien anbieten.

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Welchen pädagogischen Sinn macht das absehbare Hin und Her? Weil das Prinzip des Wechselunterrichts gilt – und im Remstal-Gymnasium heißt das: wöchentlicher Wechsel –, hat nur eine Hälfte der Schülerschaft die Klassenräume mal wieder von Innen gesehen. Die andere Hälfte blieb außen vor. „Ich bedauere sehr, dass die Schüler aus den Klassenstufen 5 bis 10, die in die Gruppe B eingeteilt wurden, nun nicht die Möglichkeit haben, in den Präsenzunterricht zu kommen. Auch wenn viele nach den langen Monaten im Fernunterricht Routinen entwickelt haben, hat es nach meiner Wahrnehmung denjenigen, die in dieser Woche Präsenzunterricht hatten, gutgetan, nach so langer Zeit wieder in die Schule zu kommen. Hoffen wir, dass die nun auf der politischen Ebene getroffenen Entscheidungen wirklich dazu beitragen, das Infektionsgeschehen wirkungsvoll einzudämmen“, so schreibt die Schulleitung dazu.

Das haben sie im Fall des Remstal-Gymnasiums nicht, soviel sei vorweggenommen. Die eine Woche Präsenz hatte ihren Preis…

Der Fall ist exemplarisch für das Infektionsgeschehen in Deutschland, das von nach wie vor geöffneten Bildungseinrichtungen angeheizt wird. Bei Kita-Kindern und Schülern nehmen die Infektionszahlen deutlich zu, wie RKI-Präsident Lothar Wieler am vergangenen Donnerstag festhielt. Er betonte: „Kinder tragen auf jeden Fall zum Infektionsgeschehen bei.“ Langzeitfolgen, die es auch bei Kindern gebe, dürfe man nun bei der Risikobewertung nicht aus dem Blick verlieren.

Die wöchentliche Inzidenz liegt bei den Allerjüngsten bis vier Jahre aktuell bei 141 Fällen und unter den 15- bis 19-Jährigen bei 260, jeweils gerechnet auf 100.000 Einwohner. Bei den älteren Teenagern sind das die höchsten Inzidenzwerte überhaupt in einer Altersgruppe. Bei Zehn- bis 14-Jährigen liegen sie aktuell laut RKI bei 234 pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Die Gesamt-Inzidenz für Deutschland liegt bei 149.

COVID-19-bedingte Ausbrüche beträfen aktuell insbesondere private Haushalte und das berufliche Umfeld, aber auch Kitas und Schulen, heißt es im RKI-Lagebericht. Die meisten Fälle lassen sich allerdings für die Gesundheitsämter nicht mehr nachvollziehen. Wieler macht keinen Hehl daraus, dass er die bundesweite Notbremse bei einer Inzidenz von 165 für Kita- und Schulschließungen für deutlich zu hoch hält.

Der RKI-Präsident erklärt im Interview-Format „Jung & Naiv“ auf Youtube, man blicke in Deutschland bei Corona-Schutzmaßnahmen häufig auf eine mögliche Überlastung der Intensivstationen, auf eine mögliche Triage, bei der Ärzte Patienten aufgeben müssen, um andere retten zu können. Das sei aber nur ein „Endpunkt, den wir hoffentlich niemals erreichen“, so der RKI-Chef. Er sei zuversichtlich, dass zumindest das gelinge. Allerdings stellte Wieler auch klar: „Es ist natürlich zynisch, so lange zu warten.“ Er stellt klar, er würde „natürlich viel mehr in die Prävention reingehen“, auch um bereits höhere Infektionszahlen zu vermeiden. Die Bundes-Notbremse sei daher ein Kompromiss.

Auf die Frage: „Der Kompromiss ist, wir bremsen erst, wenn es zu spät ist?“ antwortet der RKI-Präsident mit einem klaren „Ja!“. „Ich bin darüber nicht glücklich“, unterstreicht Wieler. Auf die weitere Frage, ob er denn hinter diesem Kompromiss stehe, legt Wieler nach: „Ne, natürlich nicht“, so seine deutliche Antwort. Man habe bereits früh klare Empfehlungen herausgegeben. „Für uns wäre eine frühere Bremse sinnhafter“, erklärt Wieler weiter.

Welche Kreise das Infektionsgeschehen ziehen kann, wird im Fall des Weinstädter Remstal-Gymnasiums deutlich. Die eine Woche Präsenzunterricht hat zu einem Corona-Ausbruch in dem Kollegium geführt, wie der Zeitungsverlag Waiblingen berichtet. Mindestens sechs Lehrkräfte haben sich infiziert – die Schule musste komplett geschlossen werden, trotz der bevorstehenden Abiturprüfungen. Das ist das Ergebnis einer Reihentestung im Kollegium, die das örtliche Gesundheitsamt veranlasst hatte. Anlass der Untersuchung waren die – sich dann als falsch erwiesenen – positiven Ergebnisse der Schüler-Schnelltests. Keine einzige der dann in der Reihentestung als infiziert identifizierten Lehrkräfte hatte bislang Symptome gezeigt. Das bedeutet: Dass der Ausbruch im Lehrerzimmer erkannt wurde, ist reiner Zufall. News4teachers

Im Wortlaut

Dr. med. Jana Schroeder, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie und  Leiterin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie im Klinikverbund der Stiftung Mathias-Spital, hat in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ scharfe Kritik an der Kita- und Schulpolitik der Länder in der Corona-Krise geübt.

Bei Kindern sei bisher nur reaktiv, nicht proaktiv gehandelt. Zunächst sei das Narrativ gewesen, Kinder stecken sich gar nicht an. Gefolgt von: Kinder stecken sich bei ihren Eltern an. Jetzt heiße es, die Infektionszahlen bei Kindern steigen, weil sie mehr getestet werden (wie es sinngemäß in einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von Anfang April heißt). „Aber da kann ich ihnen sagen: Ein Test macht das Licht an, wo vorher dunkel war“, so Schroeder.


In ihrer Heimatstadt Münster liege die Corona-Inzidenz im Schnitt bei aktuell 100 – unter Kindern allerdings bei 222. Das zeige offensichtlich, dass man dieser Bevölkerungsgruppe mehr Aufmerksamkeit schenken müsste. Talkshow-Gastgeber Markus Lanz pflichtete bei: „Die Erzählung war immer: Schulen sind nicht die Treiber der Pandemie. Ich glaube, das ist einer der dümmsten Sätze dieser ganzen Pandemie.“ Es gebe nur Infektionsherde – und Nicht-Infektionsherde.

Dem stimmte die Medizinerin und Wissenschaftlerin ausdrücklich zu – und erklärte: „Wir sind in Bezug auf Kinder ganz lange mit der Problembegutachtung beschäftigt gewesen, ohne zur Lösungsfindung zu kommen. Denn die Lösung muss natürlich sein: Wie können wir Schulen sicher gestalten?“ News4teachers

Hier – in der ZDF-Mediathek – lässt sich die Sendung bis zum 27. April 2022 streamen.

RKI meldet weiteren verstorbenen Lehrer/Erzieher. Damit haben nun 30 Menschen aus der Berufsgruppe Corona-bedingt ihr Leben verloren

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