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Nicht weiß – unsichtbar? Warum unsere Gesellschaft Vielfalt auch in Kinderbüchern braucht

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DÜSSELDORF. Deutsche Klassenzimmer sind divers, die Gesellschaft ist es ebenfalls. Doch wie steht es um die aktuelle Kinderliteratur? Spiegelt sie die gesellschaftliche Vielfalt wider oder macht sie einen wachsenden Teil der jungen Bevölkerung unsichtbar? Diese Fragen beschäftigen das Goethe-Institut Finnland – nicht nur mit Blick auf Deutschland, sondern auch auf weitere europäische Länder. Klären will das Institut sie mit dem Kinderliteraturprojekt DRIN – Diversität, Repräsentation, Inklusion und Normkritik. Ein Ziel: auf bislang unterrepräsentierte Geschichten aufmerksam machen. Chantal-Fleur Sandjon gehört zum Leitungsteam dieses Vorhabens. Im Interview erklärt sie, was diversitätsgerechte Bücher ausmacht und weshalb alle Kinder von ihnen profitieren.

„Für Kinder, die ein höheres Diskriminierungsrisiko haben, ist es unheimlich wichtig, dass sie erfahren, dass ihr Platz in der Welt nicht nur am Rand ist“, sagt Autorin Chantal-Fleur Sandjon. Foto: Shutterstock/Monkey Business Images

News4teachers: Warum ist es wichtig, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft auch in der Kinderliteratur wiederfindet?
Chantal-Fleur Sandjon: In der pluralen Gesellschaft, in der wir leben, ist es ganz zentral, auch den Umgang mit Vielfalt als Selbstverständlichkeit kennenzulernen. Kinderbücher bieten eine Riesenchance, diese Vielfalt in den Lebensalltag hineinzubringen, wenn sie im eigenen Umfeld nicht gegeben ist. Aber es ist natürlich auch für Kinder, die ein höheres Diskriminierungsrisiko haben – sei es aufgrund von Rassismuserfahrung, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder aufgrund von Behinderung oder behindert werden et cetera –, unheimlich wichtig, dass sie erfahren, dass ihr Platz in der Welt nicht nur am Rand ist. Dafür brauchen sie Bücher, in denen sie vorkommen, in denen es um sie geht, die ihnen Vorbilder bieten. Kinder lernen viel über die Welt, in der sie leben, aus Kinderbüchern. Dementsprechend ist es nicht erstaunlich, wenn Kinder annehmen, dass nur Männer Pilot werden können, wenn es keine Pilotinnen in ihren Kinderbüchern gibt. Und natürlich: Wenn Kinder selbst in Büchern nicht vorkommen, ihre Realitäten nicht vorkommen, wird ihnen ganz klar vermittelt: Du gehörst nicht dazu, du bist einfach nicht zentral in dieser Gesellschaft, in der wir leben.

News4teachers: Und wie ist der aktuelle Stand mit Blick auf die Kinderliteratur in Deutschland? Gibt es aus dem DRIN-Projekt bereits ein erstes Fazit?
Sandjon: Hierzulande fehlen Studien, die erfassen, wie divers Kinderbücher sind. Deshalb ist es schwierig, diese Frage für die deutschsprachige Kinderliteratur aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu beantworten. Studien aus Großbritannien – die so das Nächste sind, worauf wir uns im westeuropäischen Kontext beziehen können – und Studien aus den USA zeigen aber, wie wenig Diversität im Bilderbuch ankommt.
Der Kinderbuchmarkt ist aber auf dem Weg. Es kommen immer mehr diverse Titel auf den Markt. Auffällig ist, dass schon sehr viel darauf geachtet wird, dass, wenn es um eine Gruppe von Kindern geht, zu dieser auch Kinder mit Migrationshintergrund und/oder mit Rassismuserfahrungen gehören und nicht nur weiße Kinder. Aber das ist nur ein Teilschritt. Denn wenn es darum geht, wer eine aktive Rolle hat und die Handlung bestimmt, sind das immer noch sehr häufig weiße Kinder.

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Chantal-Fleur Sandjon ist eine afrodeutsche Autorin, Lektorin, Literaturaktivistin und Diversity-Trainerin. Als Mitglied des DRIN-Leitungsteams begleitet sie unter anderem Projekte, die sich mit diversitätsgerechter Kinderliteratur und marginalisierten Perspektiven in der Kinderbuchbranche beschäftigen. Foto: Privat

News4teachers: Im Zuge des DRIN-Projekts sammeln Sie unter anderem Best Practice-Beispiele für diversitätssensible Kinderbücher. Worauf kommt es dabei an?
Sandjon: Wichtig ist uns etwa: Wer spielt die Hauptrolle? Also, wer bestimmt das Geschehen? Wie werden andere Menschen, etwa Erwachsene, präsentiert? Problematisch ist zum Beispiel, wenn die Erwachsenen, die unterstützen, nur weiß sind, nicht behindert werden oder heteronormativ dargestellt werden (d. h. im Buch werden auf der Ebene der Erwachsenen das männliche und weibliche Geschlecht sowie heterosexuelle Beziehungen als Norm präsentiert; Anm. d. Red.). Bringen in Büchern, in denen es beispielsweise um ein Schwarzes* Kind geht, am Ende weiße Bezugspersonen die Lösung, suggeriert das natürlich auch eine Hilflosigkeit aufseiten des Kindes. Dann ist auch noch wichtig zu schauen: Wie wird über andere Menschen gesprochen? Welche Sprache wird verwendet? Werden exotisierende Begriffe verwendet? Entscheidend ist auch, wer ein Buch geschrieben oder illustriert hat. Autor*innen und Illustrator*innen können für migrantisierte Kinder eine Vorbildfunktion übernehmen, weil sie sehen, dass es etwa auch türkisch-deutsche Autor*innen gibt. Das ist auch eine Option – wir schreiben unsere Geschichten quasi selbst.
Ein weiterer Punkt, auf den wir achten, ist, dass die Vielfalt im Buch als Selbstverständlichkeit dargestellt wird. Ganz oft handelt es sich, wenn Schwarze Kinder und Kinder of Color** in Büchern im Mittelpunkt stehen, um Problembücher, in denen es um die Erfahrung von Ausgrenzung, Flucht oder Rassismus geht. Diese Bücher braucht es auch; es ist wichtig, dass wir über Flucht sprechen, es ist wichtig, dass wir über Migration sprechen, aber das sollte nicht alles sein. Bei „King kommt noch“ von Andrea Karimé etwa, ist der Fluchtaspekt nur ein Teil der Geschichte, aber die Flucht ist nicht das, was dieses Kind, seine Identität ausmacht, sie steht nicht im Mittelpunkt (weitere Empfehlungen im Infokasten am Ende des Interviews; Anm. d. Red.). Das meine ich mit Selbstverständlichkeit – wir brauchen mehr Geschichten, in denen Diversität zum Alltag gehört.

News4teachers: Was heißt das für die Unterrichtspraxis? Wie können Lehrpersonen, Bücher diversitätssensibel auswählen?
Sandjon: Es gibt einige sehr gute Listen, die dafür herangezogen werden können, zum Beispiel von der Fachstelle Kinderwelten. Diese Checkliste bietet Orientierungspunkte, auf die wir auch im DRIN-Projekt setzen. Lehrkräfte sollten auch darauf achten, wer in ihrem Unterricht sitzt: Die Kinder in den Schulen sind meistens sehr viel heterogener als die Kinder in den Büchern, die die Schulen in der Regel behandeln. Sie haben etwa türkisch-deutschen Background, arabisch-deutschen oder afrodeutschen Hintergrund. Da gilt es, Bücher zu finden, die das reflektieren, damit die Lebensrealitäten der Kinder, die in einer Klasse sitzen, auch vorkommen.

Das Interview führte Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus.


*Schwarz: wird in diesem Interview auch als Adjektiv großgeschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, „dass es kein wirkliches Attribut ist, also nichts ‚Biologisches‘, sondern dass es eine politische Realität und Identität bedeutet“, wie Noah Sow, Autorin, Dozentin, Künstlerin und Aktivistin, in ihrem Buch „Deutschland Schwarz Weiß – Der alltägliche Rassismus“ erklärt. Schwarz, so Noah Sow, ist „die politisch korrekte und vor allem selbstgewählte Bezeichnung für Schwarze Menschen“.
**Kinder/People of Color: nach Noah Sow „eine politische Eigenbezeichnung von und für Menschen, die nicht weiß sind […], die über einige gemeinsame Erfahrungen in der weißdominierten Gesellschaft verfügen“.

Diversitätssensible Bücher für Grundschulkinder
– Empfehlungen von Chantal-Fleur Sandjon

King kommt noch von Andrea Karimé (Peter Hammer Verlag 2017): Seit drei Tagen ist der Junge mit den Eltern und dem Baby in diesem neuen Land; nur King ist nicht da, sein Hund und bester Freund. Aber King kommt noch! Bis dahin erkundet der Junge schon einmal die Straße und beginnt, sich über all die Merkwürdigkeiten zu wundern, die er dort beobachtet.

Julian ist eine Meerjungfrau von Jessica Love (Knesebeck 2020): Julian liebt Meerjungfrauen. Als er auf der Heimfahrt in der U-Bahn drei als Meerjungfrauen verkleidete Frauen sieht, ist der Junge völlig hingerissen. Zu Hause verkleidet er sich mit einem gelben Vorhang und Farnblättern selbst als Nixe. Und zum Glück hat er eine Großmutter, die ihn genauso akzeptiert, wie er ist!

Ayda, Bär und Hase von Navid Kermani (Carl Hanser Verlag 2017/dtv Verlagsgesellschaft 2019): Ayda ist erst fünf, aber sie kann schon eine ganze Menge: Gedichte aufsagen, sich allein anziehen, Persisch und Deutsch sprechen, ohne Stützräder Fahrrad fahren. Trotzdem nehmen Lisa und Paul aus dem Kindergarten sie nie mit, wenn sie unterwegs sind. „Knirps“ nennen sie Ayda, weil sie so klein ist. Also zieht Ayda eines Tages allein los und trifft auf den Hasen und den großen Bären. Gemeinsam entdecken die drei, wie aufregend die Welt ist, und schon bald verbindet sie eine tiefe Freundschaft.

Wir Kinder aus dem FlüchtlingsHeim von Cool Kids & Hoa Mai Trần (Viel & Mehr e.V. 2020): Fünf Geschichten erzählen vom Leben geflüchteter Kinder nach der Ankunft in Deutschland und vom Alltag in Sammelunterkünften. Es geht um Spiel und Abenteuer, Heimweh und Geborgenheit, Freundschaft und Verliebtsein, Wut und die Angst, nicht bleiben zu dürfen. Das mehrsprachige Kinderbuch wurde gemeinsam mit rund 80 Kindern aus verschiedenen Unterkünften im Alter von drei bis zwölf Jahren entwickelt. Cool Kids ist der selbstgewählte Name der Kindergruppe, die am Buchprojekt beteiligt war. Projektträger ist die Fachstelle Kinderwelten.

Musiker, Tänzer und ungewaschene Kinder: Über Roma finden sich in Schulbüchern fast nur Stereotype

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