BERLIN. Es klingt nach etwas: Zwei Milliarden Euro plant die Bundesregierung, für ein «Aufholprogramm» auszugeben, mit dem die Corona-bedingten Lernlücken von Schülerinnen und Schülern geschlossen werden sollen. Die Länder sollen (mindestens) denselben Betrag noch einmal draufsatteln. Tatsächlich hat zum Beispiel Nordrhein-Westfalen jetzt angekündigt, eine halbe Milliarde in „gezielte Lernprogramme schulischer und außerschulischer Bildungsträger“ zu stecken. Das bringt alles nichts, erklärt nun eine Initiative von Eltern, Elternvertretungen und in der Wissenschaft tätigen Menschen. Sie fordern stattdessen ein zusätzliches Schuljahr.
Die Initiative “Schule braucht Zeit” verlangt, den Kindern und Jugendlichen mehr Zeit für ihre persönliche Entwicklung einzuräumen, Lernrückstände auszugleichen und emotional-soziale Kompetenzen zu stärken – und ihnen dafür ein zusätzliches Schuljahr einzuräumen. Für „schnelle“ Schülerinnen und Schüler soll es Flexibilität geben, um zügiger den angestrebten Abschluss zu erhalten. Fünf Forderungen werden konkret gestellt. Hier die Erklärung der Initiative im Wortlaut:
- Druck herausnehmen, Zeit einräumen
Nach eineinhalb Jahren Pandemie und monatelangem Schul-Lockdown brauchen Kinder und Jugendliche vor allem weniger Leistungsdruck und mehr Zeit. Darum fordern wir eine „Rückgabe“ der verloren gegangenen Zeit für alle Klassenstufen und über alle Schulformen. Diese Verlängerung kann beispielsweise in Form von zwei „Langschuljahren“ oder für G8-Jahrgänge als „Corona-Aufholjahr” im G9-Modus erfolgen.
Begründung: Bis zu 800 Stunden Präsenzunterricht sind wegen der Corona-Pandemie ausgefallen, schätzt der Deutsche Lehrerverband.[1] Durchschnittlich sollen es rund 500 Stunden sein, was einem halben Schuljahr entspricht. Während der mehrwöchigen Schulschließungen im ersten Halbjahr 2021 verbrachten die Schulkinder durchschnittlich nur 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten – drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona.[2] Distanzunterricht, so wie bislang angeboten, ist kein adäquater Ersatz für Präsenzunterricht – das erkennen sogar deutsche Gerichte in ihren Urteilen an.[3] Auch größtes Engagement seitens des Lehrpersonals sowie der Lernenden konnte Unterricht vor Ort nicht kompensieren – auch weil Bildungsarbeit immer Beziehungsarbeit ist. Fast vier von fünf Jugendlichen beklagen Lernlücken durch die Schulschließungen, wie eine repräsentative Allensbach-Umfrage herausfand.[4]
Neben den nicht vermittelten Lerninhalten gingen den jungen Menschen viele Monate wertvoller sozio-emotionaler Entwicklungszeit in der Schulgemeinschaft verloren. Schließlich ist Schule auch ein Ort sozialen Lernens. Eine Schulzeitverlängerung um insgesamt zwölf Monate an allen Schulformen würde eine echte Entschleunigung und Kompensation von Defiziten aller Art möglich machen. Lehrkräfte, Eltern, Schüler – alle würden Zeit gewinnen, um sich einen Überblick über Lernrückstände zu verschaffen und durchzuatmen.
Langschuljahre bieten Zeit für die Planung, welches pädagogische Personal man mittelfristig benötigt. Die Schulzeitverlängerung sollte für die „schnelleren“ Schülerinnen und Schüler ausreichend Flexibilität bieten, damit sie in die nächsthöhere Klassenstufe aufrücken können. Mehr Zeit für die kommenden Absolventen von Abschlussklassen steigert zudem ihre Vermittlungschancen in anschließende Ausbildungen. Die festgestellten Defizite bei eingeschulten Kindern [5] könnten systematischer bearbeitet werden; das Gleiche gilt für den Übergang auf die weiterführenden Schulen.
- Bildungspolitik muss Perspektivwechsel vollziehen
Die schulpolitisch Verantwortlichen müssen sich ehrlich eingestehen, dass die beiden Corona-Schuljahre keine normalen Schuljahre waren. Bisherige Lernziele konnten in der Breite nicht erreicht werden. Wir verlangen einen Perspektivwechsel: Die Bedürfnisse und Sichtweisen der Heranwachsenden müssen dabei stärker in den Blick genommen werden.
Begründung: Die aufgrund der Corona-Pandemie veranlassten Schulschließungen und die erlebte Ausnahmesituation belastete viele Schülerinnen und Schüler: Isolation, Angst, exzessiver Medienkonsum, Bewegungsarmut waren die Folge laut COPSY Studie/UKE Hamburg.[6] Für mindestens die Hälfte der Kinder war die Situation während der Schulschließungen eine große psychische Belastung; für die große Mehrheit der Kinder war es eine große Beeinträchtigung, nicht wie gewohnt Freunde treffen zu können.[7] Hierbei sind diejenigen am meisten betroffen, die zu Hause nicht gut aufgefangen werden konnten. Zudem ist für Kinder und Jugendliche ein Jahr ein langer Zeitraum. Um lernbereit und lernfähig zu sein, bedarf es aber stabiler psychischer Voraussetzungen. Experten betonen, dass die stabilen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. [8] Statt noch mehr Lerndruck brauchen sie jetzt Qualitätszeit mit Gleichaltrigen – um die emotionalen Belastungen sowie soziale Defizite auszugleichen. Und es braucht Ruhe und Bindung zu Lehrkräften, die mit den Kids Strukturen wieder einüben müssen. Dafür sollte die Politik bundesweit die notwendigen Voraussetzungen schaffen.
- Verbindliche schulinterne Konzepte für alle entwickeln
Zusätzliche Förderstunden außerhalb der Unterrichtszeit, privatisierte Nachhilfe, „Lernferien“, Samstagsunterricht oder freiwilliges Wiederholen werden die Lernrückstände in ihrer ganzen Breite nicht aufholen können. Für den ausgefallenen Präsenzunterricht braucht es innerschulische Konzepte. Selbst die nächsten PISA-Studien werden die Defizite schonungslos offenlegen.
Begründung: Nahezu die einzige Lösung, die die schulpolitisch Verantwortlichen aus Bund und Ländern anbieten, sind einige Millionen Euro für außerschulische Aufholprogramme. Und man überträgt den Familien die Verantwortung, diese Angebote zu nutzen. Ein kollektives Problem kann aber nicht individualisiert gelöst werden.
Die Aufholprogramme von Bund und Ländern werden aus folgenden Gründen ihre Ziele verfehlen:
- Freiwillige Lernprogramme werden nicht von den Schülern und Schülerinnen angenommen, die die größten Lerndefizite haben. Erfahrungsgemäß nutzen freiwillige Lerncamps eher interessierte Kinder aus mittleren und höheren sozialen Schichten.
- Nachholprogramme setzen die schwächsten Schüler am stärksten unter Druck. Sie müssen den Stoff des letzten Schuljahres aufholen und gleichzeitig den darauf aufbauenden Schulstoff der Folgejahre erlernen. Druck für die Schwächsten, damit sich die Stärksten nicht langweilen, ist jedoch das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.
- Das pädagogisch geschulte Personal für derartige außerschulische Programme ist vielerorts nicht vorhanden. Die Programme können darum nicht flächendeckend wirken. Zusätzlich variieren die angedachten Fördermaßnahmen von Bundesland zu Bundesland erheblich in ihrer Umsetzung – ohne bezüglich der zu erwartenden Wirksamkeit überzeugen zu können.[9]
- Eine breite Debatte der bildungspolitisch Verantwortlichen anstoßen
Wir wünschen uns zügig eine bundesweite ehrliche Debatte ohne Denkverbote, die die konkreten Erfahrungen vor Ort angemessen berücksichtigt – sowohl öffentlich als auch bei den zuständigen Gremien – damit das Versäumte und Verpasste bei allen Schülerinnen und Schülern aufgeholt werden kann. Am besten in konkreter Kooperation von Bildungsexperten, Lehrpersonal, Eltern und Schülerschaft.
Begründung: Es ist die Aufgabe der Bildungspolitik, jetzt tragfähige, verbindliche Lösungskonzepte zu erarbeiten – und allen die zusätzliche Zeit einzuräumen, die es dafür braucht. Weder organisatorische, finanzielle noch rechtliche Hürden dürfen eine Ausrede darstellen. Es bedarf eines politischen Gestaltungswillens, um der jungen Generation die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie dringend nötig hat. Kinder und Jugendliche in diesem Land haben Anspruch darauf, einen Ausgleich für ihre monatelange Disziplin zu erhalten. Es muss eine echte Kompensation für sie geben. Kein Versuch einer erneuten Effizienzsteigerung im Bildungswesen durch Verdichten der Lerninhalte, sondern mehr Zeit zum Leben und Lernen aber auch Raum, um über eine zeitgemäße Schule nachzudenken.
- Bundesweite Bildungssolidarität anstreben
Abhängig vom individuellen Umfeld fand das Lernen im Distanzunterricht bundesweit unter sehr unterschiedlichen Bedingungen statt – in technischer und sozialer Hinsicht. Diese ungleichen Lernvoraus-setzungen führten überall zu einem noch größeren Aufklappen der ohnehin schon weit geöffneten Bildungsschere. Diese wieder weitmöglichst zu schließen, sollte unser gemeinsames gesamt-gesellschaftliches Anliegen in ganz Deutschland sein.
Begründung: Leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen und Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben oftmals zu Hause deutlich weniger effektiv und konzentriert gelernt, fand das DIW Berlin in einer Befragung heraus. [10] Ein Blick auf den Breitband-Atlas Deutschlands zeigt zudem, dass vielerorts gar kein digitaler Unterricht stattfinden konnte; Arbeitsblätter zur selbstständigen Bearbeitung blieben hier die Regel. Und während manche Gymnasien oder die berufsbildenden Schulen noch ganz gut durch den Lockdown gekommen sind, war bei den anderen Schulformen an strukturierten Online-Unterricht oft gar nicht zu denken. Einige Befragungen gehen davon aus, dass an gerade einmal 20 Prozent der Grundschulen digital unterrichtet wurde.[11] Ein Viertel (26%) der Schülerinnen und Schüler hatte täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z.B. per Video), aber 39% hatten dies nur maximal einmal pro Woche.[12] Der Online-Unterricht lief an den vielen tausend Schulen im Land zudem höchst unterschiedlich ab und variierte von Lehrerin zu Lehrer deutlich. Das Lehrpersonal war darauf größtenteils nicht vorbereitet. Eine Studie der Frankfurter Goethe-Universität stellt dem Distanzunterricht ein schlechtes Zeugnis aus. Die durchschnittliche Kompetenzentwicklung während der Schulschließungen bezeichnen die Autoren der Studie als Stagnation mit Tendenz sogar zu Kompetenzeinbußen.[13] Gibt es an den Schulen ab Spätsommer 2021 ein „Weiter so“, belastet das vor allem die lernschwächeren Kinder und Jugendlichen. Außerdem ist angesichts der Delta-Variante fraglich, ob das Schuljahr 2021/22 ohne weitere Schulschließungen auskommen wird.
Hier lässt sich die Initiative per Unterschrift unterstützen.
Im Folgenden sind alle Quellen zum Forderungspapier aufgelistet:
- [1] https://www.lehrerverband.de/die-zukunftschancen-unserer-kinder-und-jugendlichen-nach-corona-nachhaltig-sichern/
- [2] https://www.ifo.de/publikationen/2021/aufsatz-zeitschrift/bildung-erneut-im-lockdown-wie-verbrachten-schulkinder-die
- [3] https://www.kostenlose-urteile.de/OVG-Nordrhein-Westfalen_13-B-4721NE_Weiterhin-kein-Praesenzunterricht-in-Nordrhein-Westfalen.news29808.htm?sk=cc0fc0a94d26776f0eeef8fe997e437c
- [4] https://www.spiegel.de/panorama/bildung/corona-fast-vier-von-fuenf-jugendlichen-mit-lernluecken-a-182dce87-66a0-4fc1-a7b4-a253585ff02c
- [5] https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/panorama/offenbar_hoeherer_foerderbedarf_kinder_saarland_100.html
- [6] https://bvpraevention.de/cms/index.asp?inst=newbv&snr=13313
- [7] https://plus.freiheit.org/kinder-nach-corona-was-zahlt-jetzt
- [8] https://www.ifo.de/publikationen/2021/aufsatz-zeitschrift/bildung-erneut-im-lockdown-wie-verbrachten-schulkinder-die
- [9] Beispiele verschiedener Bundesländer z.B.
– Berlin: Hier gibt es in den „Sommerschulen“ Platz für 5.000 Schüler (https://www.berliner-zeitung.de/lernen-arbeiten/berliner-sommerschulen-sind-mangelhaft-organisiert-li.166632). Bei 360.000 Schülern an den allgemeinbildenden Schulen in Berlin ist das ein Platz für 72 Schüler.
– Baden-Württemberg: Bei dem Programm „Bridge the gap“ (bis zu den Sommerferien) wurden am Ende nur 400 Lehramtsstudierende gefunden (https://www.pz-news.de/baden-wuerttemberg_artikel,-Weniger-als-gedacht-400-angehende-Lehrkraefte-bei-Bridge-the-gap-_arid,1586913.html). 400 Lehramtsstudierende auf rund 50.000 Klassen an allgemeinbildenden Schulen in BaWü. Nach den Ferien soll das Programm „Rückenwind“ mit 25.000 bis 30.000 Personen starten. (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/lern-rueckstaende-wegen-corona-bw-sucht-tausende-helfer-100.html)
– Sachsen: https://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/254225 Hier werden 257 Schulassistenten (hier mehr zu dem Konzept https://www.schule.sachsen.de/programm-schulassistenz-6864.html) im Zuge des Aufholprogramms ausgeschrieben. Sachsen hat 1541 Schulen und 16461 Klassen: Das heißt eine Schulassistenzstelle auf 64 Klassen in Sachsen. - [10] https://www.diw.de/de/diw_01.c.758261.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0030/corona-schulschliessungen__verlieren_leistungsschwaechere_schuelerinnen_den_anschluss.html
- [11] https://www.tlz.de/politik/erfurter-sozialwissenschaftler-geht-mit-schulpolitik-hart-ins-gericht-id232598903.html
- [12] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.758242.de/diw_aktuell_30.pdf
- [13] https://www.fr.de/politik/frankfurter-studie-kinder-und-jugendliche-haben-im-distanzunterricht-so-wenig-gelernt-wie-in-den-ferien-90814334.html
Initiatorinnen und Initiatoren:
Brigitte Anders, Köln (NRW)
Angelika Bock, Hamburg
Alexandra Fragopoulos, Hamburg
Marcus Hohenstein, Siegen, G9-Initiative (NRW)
Christian Lehmann, Hamburg
Georg E. Möller, Hamburg
Ines Moegling, Bildungsaktivistin, Hamburg
Anja Plesch-Krubner, Heidelberg, G9-Initiative (Baden-Württemberg)
Katja Oltmanns, Saarbrücken, (Saarland)
Dr. Anne-Babett Woelke-Westhoff, Hemer, G9-Initiative (NRW)
Unterzeichner der ersten Stunde:
Prof. Dr. Peter Bender, Universität Paderborn
Dr. Matthias Burchardt, Universität Köln
Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, Studienleiter NRW mit N=55.000 Personen zu G8/G9 im Auftrag der Landeselternschaft Gymnasien
Prof. Dr. Marcel Helbig, WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung)
Prof. Dr. Hans-Peter Klein, Universität Frankfurt
Prof. Dr. Martin Paul Nawrot, Universität Köln
